Sind wir alle Egoisten?

Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 22. Feb 2013, 11:29

Ich glaube, dass wir alle zunächst mit einer relativ naiven Weltsicht aufwachsen.
Die sieht u.a.so aus, dass gesagt wird, es gibt eine kulturell akzeptierte Scheinwelt, die der Unterhaltungsindustrie und dann gibt es die „echte“ Welt, vermittelt durch Nachrichten, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und das reale Leben.

Durch diese und jene Möglichkeiten hinter die Kulissen zu schauen, im größeren oder kleineren Stil, gewinnt man den Eindruck, dass die mediale und allgemein etablierte Darstellung, zumindest nicht durchgehend stimmt.
provinzler hat es am Beispiel Fußball erwähnt. Er hat, so schrieb er, einige Einblicke gewonnen, die reichen aus, um ihn hinreichend skeptisch zu machen. Aber im Grunde interessiert das keine Sau. Es gibt eine erstaunliche Bereitschaft, oft wider besseres Wissen, bestimmte Illusionen des realen Lebens aufrecht erhalten zu wollen, z.B. die Illusion vom an sich sauberen Sport, in dem es böserweise sehr seltene Fälle von Betrügern und Dopern gibt. Ansonsten sei alles in Ordnung.
Im Angesicht der frei zugänglichen Kenntnisse um Dopingmittel, um Skandale in der FIFA auf höchster Ebene, auf Erkenntnisse um Wetten und Schiebereien von der Kreisklasse bis zur WM ist es grenzenlos naiv an sauberen Sport zu denken.
http://www.n-tv.de/sport/Der-deutsche-S ... 75101.html

Sport mag man ja noch zur Scheinwelt rechnen, aber auf dem Gebiet der Politik, der Medizin, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Erziehung, der Pflege sieht es ja nicht viel besser aus.
Illusionäre Konstrukte die mitunter so dermaßen verlogen sind, dass man es nicht glauben will, werden uns als Wahrheit präsentiert.

Und ich will jetzt nicht der 1000sten Lästerthread, wie schlecht doch die Welt ist, eröffnen, ich frage mich nur, wie man mit diesen Erkenntnissen umgehen soll.
Aufklären wäre gut, nur allzu schnell wird man in die Ecke des Extremisten, des Spinners oder einfach des Spielverderbers gestellt und ehrlich gesagt, ich kann diese Sicht verstehen. Menschen wollen mit zu viel Wahrheit nicht belästigt werden. Es ist schön in einer vermeintlich heilen Welt zu leben, in der es sauberen Sport gibt, an dem wir uns erfreuen; nette Ärzte, die nur darauf warten, dass sie uns helfen können; Politiker, die sich Sorgen um die Welt machen; eine Industrie, die sich fragt, wie sie unser Leben erleichtern und die Welt ein Stück komfortabler machen kann; Finanzexperten oder auch nur Autoverkäufer, die ein Interesse daran haben, dass wir das beste Produkt bekommen und für uns gesorgt ist; Altenheime, die liebevoll unsere Großeltern, Eltern und später uns betreuen und so weiter.

Nach 8 Stunden Arbeit, will man sich vorgekaut über Pferdefleisch erregen, aber nichts sonst. Manche schalten gleich auf Volksmusik, Tatort oder Spielfilme und DSDS um. Und die Erregungsindustrie ist ja inzwischen auch ein eigenes System. Männliche, pensionierte Akademiker, die zur Modelleisenbahn keinen Zugang haben organisieren und inszenieren Proteste, denen sonst kaum jemand folgt. Wir schnappen kurz Luft, sagen „Gibt's doch wohl nicht“, doch Konsequenzen werden völlig abgespalten. Vielleicht weil es auch zu viele wären. Es bleibt beim Vorsatz: „Da müsste doch jemand was tun.“

Wen will man aufklären, wenn es eigentlich kaum jemand wissen will? Die einen versteigen sich in krude Verschwörungsideen, die anderen in Zynismus, die nächsten betonen man könne ja doch nichts ändern und resignieren. „Die da oben“, wie schön, dass es diese entlastende Projektionsfläche gibt. „Da machse nix.“ Alles kommt an, was uns zum Stillehalten animiert. Eine lustige Allianz. Die da oben, machen ja doch was sie wollen, was soll ich da ändern? Abgesehen davon, entscheide ja nicht ich, sondern mein Gehirn.

Oder die Linken. Da hilft nur die Revolution. Darunter läuft nichts, bedient alles nur das Schweinesystem. Das ist systematischer Dummenfang und die intelligenten Linken wissen haargenau, dass die Revolution auch die nächsten 200 Jahre ausfallen wird. Darum ist das ja so ein bequemer Standpunkt.

Aber was ist die Strategie gegen systematisches Desinteresse? „Man müsste mal die Preispolitik der Discounter und Supermärkte überdenken.“ Klar, wird ja auch gemacht. Aufsplittung des Marktes in Produkte zur Gewissensberuhigung für 5% der Menschen und immer billigere Produkte, für die restlichen 95%. Es war zwar das Gegenteil gemeint, aber das wird nicht gemacht.

Aber nach der Entrüstung sind wir doch alle sehr schnell wieder sehr konservativ. Wir sind ja gar nicht so böse, wenn wir uns vorlügen lassen, die Energiewende könne nicht klappen. Bioprodukte kosten ja auch mindestens das 80-fache der „normalen“ Produkte und überhaupt weiß man ja nicht, ob die nicht auch alle betrügen, so hört man immer wieder mal.

http://www.zeit.de/2013/08/Frank-Schirr ... des-Lebens
Gestern war Schirrmacher auch im Fernsehen, bei Beckmann. Das Buch wird allgemein gelobt, eine These ist, dass der Mensch durch die Idee des homo oeconomicus zu dem gemacht wurde, was er ist.
Die unselige Koaliton einer Wirtschaftsidee (die es im übrigen gut meinte, die nur grausam interpretiert wird) mit irgendwelchen simplen und unterkomplexen spieltheoretischen Ideen verknüpft ist (von denen selbst ihre Schöpfer sagen, man könne sie nicht auf den Menschen anwenden) und irgendwelche nicht minder kruden Biologismen, die ja oft direkt aus dieser Sicht importiert wurden. Wir sind ja alle Egoisten, so funktioniert das Spiel, maximal sind egoistisch motivierte win-win Situationen drin, entscheiden, können wir eh nicht selbst, es sind irgendwelche anonymen Programme, die in uns ablaufen.
Wir sind doch auch nur ein Bündel Algorithmen. Ja?
http://www.psyheu.de/5460/datenflut-wissen-nichtwissen/

Wir werden doch alle nur manipuliert.
Warum lässt man sich so schnell die Butter vom Brot nehmen, warum versetzt es viele sogar in Verzückung „niemand“ zu sein, außer einem Bündel Neuronen?

Christian Geyer, Herausgeber und Mitautor des Buches Hirnforschung und Willensfreiheit (Suhrkamp 2004) schrieb dazu:

Christian Geyer hat geschrieben:„Versuchshalber könnte man den Spieß natürlich auch umdrehen und der Frage nachgehen: Was macht die Idee unser Wille sei unfrei eigentlich so sexy? Welche psychischen Disposition ist nötig, um die Psyche zu verabschieden, um die Evidenz seiner Erlebens-Perspektive („Ich kann auch anders“) zu den Akten nehmen und stattdessen die Perspektive des Labors übernehmen zu wollen („Freiheit ist eine Illusion“)? Vermutlich ist es die Abstraktion selbst, die exakte Entlastung vom Konkreten, die attraktiv wirkt. Wie viele Enttäuschungen mit der Konkretion des eigenen Ichs müssen vorangegangen sein, bevor man geneigt ist, dieses Ich in den Abstraktionen der Hirnforschung zu Verschwinden zu bringen?“
(S.14)


Und etwas weiter unten:

Christian Geyer hat geschrieben:„Fragt man nach der Attraktivität der erfahrungsfreien Perspektive, dann stößt man auf die Verheißung eines umfassenden Ruhiggestelltseins. Sie ist der Witz der neurobiologischen Anthropologie und gibt ihr das Aussehen einer therapeutischen Maßnahme. Unversehens weiß man sich entlastet von den tausend Gründen, die einem täglich durch den Kopf rauschen und nun, da sie sich in neuronale Kausalbeziehungen übersetzen lassen, ihr drückendes Gewicht verlieren. Das Mentale ist bloß ein Epiphänomen des Neuronalen, so heißt dieser Entlastungsvorgang in der Sprache der Gehirnforschung. Worte, Schrift und Gedanken sind demnach ohne jede kausale Relevanz für irgendeinen Lebensvollzug. Relevant sind lediglich ihre materiellen Substrate, die Schallwellen oder Lichtfrequenzen, die als Materie auf die Neuronen wirken – gemäß den Energieerhaltungssätzen der Physik, wonach nur Materie auf Materie Energie ausüben kann. Die soziokulturelle Welt als neuronales Makrogeschehen.“
(S.14 f)


Meine These ist anders. Wir sind nicht alle Egoisten. Wir sind es zum Teil, immer auch, das sollte man nicht leugnen. Aber wir hören gerne, dass wir im Grunde nicht anders können. Wir wären gerne Egoisten, weil es auf den ersten Blick bequem ist.

Und so trennt auch Schirrmacher zwischen der Tatsachenfeststellung, dass wir alle Egoisten seien (die m.E. schon nicht stimmt) und den normativen Aufruf, es sei richtig und gut ein Egoist zu sein.
Egoisten haben immer die Tendenz, sich zu entsolidarisieren. Ein Trend der in vollem Gange ist, die Verachtung der Zurückgebleibenen.

Es ist ein ganzes Bündel an Ursachen, die hier zusammenkommen. Ich glaube, dass Schirrmacher einige richtig benennt, dass es aber nicht alle sind. Eine zu große Zahl an Egoisten ist schlicht ein kulturelles Selbsmordprogramm.

Mein Wunsch wäre, die Faktoren zu erkennen, zu benenne und etwaige Lösungssttrategien zu entwerfen. Ich glaube es gibt einen durchgehenden roten Faden, der all die Phänomene verbindet.
Vielleicht ist das ein Irrtum, aber ich glaube, es kann gelingen, diesen roten Faden sichtbar zu machen und ihn irgendwie als Idee in die Welt zu tragen.

Jetzt interessiert mich, was ihr zu dem Thema zu sagen habt.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Fr 22. Feb 2013, 15:23

Und ich glaube, dass das Vogel-Strauß-Modell ein Selbstschutz ist.
Denn wir werden täglich mit viel zu viel schlechten Nachrichten bombardiert. Ich kann das manchmal einfach nicht mehr hören, weil es mir tagtäglich meine Machtlosigkeit bewusst werden lässt. Was soll ich denn machen, wenn jetzt wöchentlich rumänische Sintis in mein Büro kommen und mich um Geld anbetteln? Ich kann die Grenzen nicht wieder dicht machen und ich kann auch nicht unterscheiden, wer wirklich was braucht und wer für den Fürsten in Rumänien anschaffen geht und schon gar nicht kann ich Rumänien so aufbauen, dass sie ihre Untermenschen endlich anerkennen.
Ich kann die Pole nicht kühlen und ich kann es in den Wüsten nicht regnen lassen. Ich kann die Bauern in Südamerika nicht hindern, die Wälder abzuholzen und schon gar nicht die Russen aufhalten, jährlich über 20.000 Quadratkilometern Taiga abzuholzen.
Ich sehe, wie auch mit steigenden Spritpreisen die Staus auf den Autobahnen immer länger werden und ich kann die Menschen nicht lehren, sparsamer mit den globalen Resouren umzugehen.

Was soll ich also tun?
Ich sags dir: Ich helfe meiner eigenen Familie und meinen engsten Freunden ein angenehmes Leben zu führen!
Es waren viele Lebensjahre Erfahrung notwendig, um bei der eigenen Nasenspitze anzukommen. Ich hab es satt, ständig daran erinnert zu werden was alles schlecht ist und was nicht gut läuft und ich habe es satt, mich immer schuldig zu fühlen.

Ja - ich bin zum Egoisten geworden. :^^:

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 22. Feb 2013, 16:07

Ich halte es auch für eine eher unglückliche Geschichte, dass bei allem gleich ein Schuldiger gesucht wird.

Deine Strategie, sich um den engsten Kreis zu kümmern, finde ich übrigens überhaupt nicht schlecht. Zu wenige tun das. Eine wesentliche Erkenntnis liegt m.E. darin, dass Menschen viel zu schnell versuchen die Welt zu retten, bevor sie sich und ihr nächstes Umfeld auch nur halbwegs in Ordnung gebracht haben.

Diese Aufforderung zur Eigenverantwortung sind ja auch jene Werte, die Du flöten gehen siehst.
Die Gefahr ist, dass das in Zynismus umkippt, wenn der einzelne kaum eine Chance hat, sich um sich zu kümmern. Darum ist die Idee der prinzipiellen Chancengleichheit, die natürlich die individuellen Unterschiede nicht verwischen soll, die andere Seite.

Man darf das Individuum nicht aus der Pflicht lassen, den Staat aber auch nicht.
Wo man das Gefühl haben muss, nicht mehr von der Politik regiert zu werden, sondern von Lobbyisten, ein Gefühl, was ich zunehmend habe, kann man entweder den sehr dringenden Appell an die Politik richten, das verlorene Terrain zurückzuerobern, eine Fähigkeit die Frau Merkel m.E. schlicht überhaupt nicht hat oder sich direkt mit der Wirtschaft kurzzuschließen und diese in die Pflicht zu nehmen und so gut es geht lenkend, auf sie einzuwirken.

Ein gutes Image ist ein Wirtschaftsfaktor, damit kann man arbeiten.

Ansonsten würde ich versuchen das Image derer die sich kampflos der „alle haben Einfluss auf mein Leben, nur ich nicht“ Idee verschrieben haben, durch den Kakao zu ziehen.

Der Spiegel hat geschrieben:„Dass der Mensch ein moralisches Wesen ist, frei und selbstbestimmt – an dieser betagten Maxime haben Neurologen und Hirnforscher bereits gekratzt. Ihre Gegenthese: Menschliches Handeln ist festgezurrt, determiniert durch Gene und Gehirn. Daraus ergibt sich die irritierende Frage: Kann der Mensch als ausführendes Organ seines inneren Chefs, eigentlich noch schuldfähig sein, schuldig werden? Der Glaube ans Determinierte macht zumindest frei, untergräbt die Moral, verleitet zur Unwahrhaftigkeit – das fanden jetzt Psychologen und Marketingexperten der nordamerikanischen Universitäten in Minnesota und British-Columbia heraus. Mehr als 150 Probanden wurden einem einfachen gehaltenen Mathe-Test unterzogen, einem Test, der außerdem zum Schummeln fast einlud und richtige Antworten mit je einem Dollar belohnte. Einige Versuchsteilnehmer bekamen vorher eine „Info-Text“, darin wurde der freie Wille als Illusion enttarnt. Ergebnis: Die solcherart informierten Probanden fühlten sich zum Schummeln viel mehr aufgelegt als die Vergleichsgruppe, der Unterschied lag bei deutlichen 27 Prozent. „Um Versuchungen zu widerstehen“, so Kathleen D. Vohs, eine der Autorinnen der Studie, „muss man daran glauben, dass man frei ist.“
(Quelle: Der Spiegel, Nr.13/22.3.08, S.57)


Ein komisches Fazit, oder?
Wer dran glaubt, dass er frei ist, ist anständiger?
Ist es nicht eher so, dass diejenigen, die sich entschuldigt glauben, gewissenloser werden, weil sie nun eine Legitimation verspüren, zu betrügen.
Wer wirklich nicht anders kann, kann auch nicht sein Verhalten ändern.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Fr 22. Feb 2013, 17:49

Mich wundert das Ergebnis nicht. Wer sich frei glaubt, fühlt sich verantwortlich für das was er tut. Wer sich determiniert glaubt, hat das Gefühl sich fügen zu müssen. "Es passiert mit mir, ich kann das gar nicht verhindern" im Gegensatz zu "ich will das nicht, also lass ich das".
Gerade deshalb bin ich immer noch ein Verfechter von Religionen die zur Selbstbestimmtheit geradezu aufrufen. Sie appelieren an den Menschen, sich "bewusst" zu verhalten.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 22. Feb 2013, 18:03

stine hat geschrieben:Mich wundert das Ergebnis nicht. Wer sich frei glaubt, fühlt sich verantwortlich für das was er tut. Wer sich determiniert glaubt, hat das Gefühl sich fügen zu müssen. "Es passiert mit mir, ich kann das gar nicht verhindern" im Gegensatz zu "ich will das nicht, also lass ich das".
Gerade deshalb bin ich immer noch ein Verfechter von Religionen die zur Selbstbestimmtheit geradezu aufrufen. Sie appelieren an den Menschen, sich "bewusst" zu verhalten.


Ich fand die Einseitigkeit des Fazits komisch, also einseitig.
Was Dein Appell pro Religion angeht, so kann ich ihn auf dieser Ebene verstehen und teilen.
Was wir von den Religionen lernen können, ist, eine Gesellchaft zu zimmern, deren Mitglieder sich auch für andere verantwortlich fühlen.

Aber ein Problem habe ich dann schon mit Deiner Aussage:
Wenn die Religion das leistet, wieso bist Du dann zur Egoistin mutiert? Das bekommt eine doofer Biologist auch noch hin, Verwandtenpräferenz inklusive.
Und nicht nur Du: allgemeine Untersuchungen ergeben, dass religiöse Menschen überdurchschnittlich interessiert sind am Wohlergehen anderer: aber nur, wenn diese zu ihrer Glaubensgemeinschaft gehören. Tun sie das nicht, sind religiöse Menschen kaltherziger als der Durchschnitt.


Übrigens dürfen sich jezt auch die Anhänger der Evolutionsbiologie, höchstwissenschaftlich, als Nichtegoisten fühlen, bzw. wird dem ohnehin dubiosen einen Urtrieb ein zweiter zur Seite gestellt.
Neuerdings ist der Mensch nicht mehr allein egoistisch, sondern nun auch echt altruisch (und nicht nur rezipork altrusitisch).
http://www.wdr5.de/sendungen/leonardo/s ... -erde.html

Das ist zwar letzten Endes auch trauriger Biologismus, aber wenigstens mal eine Stimme von der anderen Seite. Weitere Kritiken:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 57997.html

http://hpd.de/node/15136

Erfreulich immerhin, dass der Biologismus in Gänze in beiden Kritiken, auch vom hpd, angeschossen wird. Meines Erachtens ohnehin einer der ekligsten Trends der Neuzeit.
Es soll darin gehen, was wir tun können: den Biologismus als Ideologie mit dem Potential zur Menschenverachtung zu entlarven ist schon mal ein guter Anfang.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Fr 22. Feb 2013, 18:18

Vollbreit hat geschrieben:Aber ein Problem habe ich dann schon mit Deiner Aussage:
Wenn die Religion das leistet, wieso bist Du dann zur Egoistin mutiert? Das bekommt eine doofer Biologist auch noch hin, Verwandtenpräferenz inklusive.
Ich kümmere mich um meine Nächsten. Das ist der Punkt. Und wenn das jeder täte, ergäbe das eine Menschenkette von Nachbar zu Nachbar.
Ich kann die Welt nicht als Ganzes retten und wenn ich mich noch so sehr anstrenge.

Vollbreit hat geschrieben:Und nicht nur Du: allgemeine Untersuchungen ergeben, dass religiöse Menschen überdurchschnittlich interessiert sind am Wohlergehen anderer: aber nur, wenn diese zu ihrer Glaubensgemeinschaft gehören. Tun sie das nicht, sind religiöse Menschen kaltherziger als der Durchschnitt.
Und wer hat das "allgemein" untersucht?

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 22. Feb 2013, 18:37

Vielleicht geht es gar nicht um Welt retten im großen Stil. Mir sind Weltretter tendenziell auch eher suspekt. Aber möglicherweise hat man doch mehr Einfluss, als man denkt und muss sich weniger verbiegen als man denkt. Ich wollte Dich auch nicht kritisieren.

Mir schwebt schon seit längerem sowas wie eine „Aktion 10%“ oder ähnlich vor. Viele sind von albernen Maximalforderungen und ideologischen Übergriffen diverser Weltverbesserer abgeschreckt und igeln sich ein. Verständlich, aber unnötig.
10% kann sich aber jeder verändern und wenn man sich nicht bewusst doof und tot stellt, weiß man schon, was sie Welt besser machen könnte.
10% sind nicht wörtlich gemeint, sondern nur eine Idee, dafür, dass man nicht sein Leben auf den Kopf stellen muss.

Sowas könnte man ausbauen, durchaus lagerübergereifend.

Was die Religionen und die Untersuchung der Mitmenschlichkeit angeht, so findest Du das in dem in jeder Hinsicht guten Buch „Die Vermessung des Glaubens“ von Ulrich Schnabel.
Die Untersuchung selbst ist nicht von Schnabel, von wem sie ist, weiß ich jetzt nicht auswendig, wenn Du willst schlag ich das aber nach, soll ich?
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Sa 23. Feb 2013, 08:41

Vollbreit hat geschrieben:Ich wollte Dich auch nicht kritisieren.
Weiß ich und ich habe das auch nicht so verstanden. :wink:

Ich habe nur versucht zu erläutern, welch weiter Weg es sein kann, bis man zur eigenen Nasenspitze gelangt.
Andere fangen vielleicht dort an, wo ich aufgehört habe. Vielleicht macht jeder in seinem Leben die Wanderung, vom Weltretter zum Egoisten durch, nur Start und Ziel sind manchmal gegensätzlich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der tatsächlich Existenzprobleme hat und nicht weiß, von was er morgen leben wird, Rücksicht auf das globale Klima nimmt. Die Gedanken darüber machen sich doch die Wissenschaftler in den hochzivilisierten Ländern ganz alleine. Und das ist sehr zermürbend. Ich kann einem Bauern in Südamerika doch nicht verbieten, sich ein paar Rinder zu halten, wenn er sonst keine Lebensgrundlage hat.
Wir könnten die ganze Welt mit unserem Geld zusch... , aber auch dann haben wir nicht die Gewähr, dass das unser globales Klima rettet, denn zuviel Wohlstand kippt die Welt auch um.
Schau dich doch um: Heute sind die Autobahnen wieder voll mit Skifahrern und Schneewanderern, die keine Skrupel haben, die Berge zu beschallen und nachts taghell zu erleuchten und damit dem Ski-Zirkus zu huldigen. Ist ja jeder nur einer, der das möchte. Die Welt hat sich verändert und weder du noch ich können das Rad der Zeit zurückdrehen. Wer wirklich reich ist, rettet die Welt indem er ein paar Hausangestellte mitverdienen lässt. Die Mittelschicht haut zwar auf den Putz, putzt aber ansonsten noch selber und außer für den eigenen Spaß geben sie nichts aus.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Sa 23. Feb 2013, 10:18

stine hat geschrieben:Ich habe nur versucht zu erläutern, welch weiter Weg es sein kann, bis man zur eigenen Nasenspitze gelangt.
Andere fangen vielleicht dort an, wo ich aufgehört habe. Vielleicht macht jeder in seinem Leben die Wanderung, vom Weltretter zum Egoisten durch, nur Start und Ziel sind manchmal gegensätzlich.


Vielleicht macht es Sinn, den Begriff des Egoismus und auch des Narzissmus zu differenzieren.
Es sind sowohl die Begriffe des gesunden, als auch des pathologischen Egoismus und Narzissmus gebräuchlich.

Gesunder Egoismus/Narzissmus ist einfach die Sorge um sich selbst und der Wunsch sich das Leben auch angenehm zu gestalten.
Pathologischer Egoismus/Narzissmus ist eine graduelle Geschichte, wie der Übergang von gesund zu krank übrigens auch, der eine immense Spannbreite hat.

Und nicht selten sind Weltretter erheblich pathologisch narzisstisch unterwegs.
Ich bin 35, wohne bei Mama, bin arbeitslos, mit den Frauen klappt es auch nicht so, ich gehe auch selten aus, aber hey, ich weiß, wie alle Probleme der Welt aus einem Guss zu lösen sind. Klingt jetzt nicht wirklich so, als wenn man es versuchen möchte. In der Internetwelt aber keine Seltenheit.

stine hat geschrieben:Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der tatsächlich Existenzprobleme hat und nicht weiß, von was er morgen leben wird, Rücksicht auf das globale Klima nimmt.


Ich mir auch schwer und man wird es selten finden.
Darum finde ich auch Diskussionen über echte deutsche sozialverträglich hergestellte 35 Euro T-Shirts mit der Garantie für ein gutes Gewissen etwas fies, weil es sich genau die leisten können, die sich auch auf anderen Gebieten ihr Gewissen freikaufen und dabei auf andere herabschauen können.

Dass die alleinerziehende Mutter mit drei halben Stellen dann nicht noch, fair gehandelten Biokaffee kaufen kann, ist nachvollziehbar.
Auf der anderen Seite wäre Selbstbeschränkung auch mal etwas, was gut tut. Dazwischen muss man durch. Und man kann!

stine hat geschrieben:Die Gedanken darüber machen sich doch die Wissenschaftler in den hochzivilisierten Ländern ganz alleine. Und das ist sehr zermürbend. Ich kann einem Bauern in Südamerika doch nicht verbieten, sich ein paar Rinder zu halten, wenn er sonst keine Lebensgrundlage hat.


Stimmt, die sind aber auch nicht das Problem. Das beginnt dann, wenn ganze Urwälder abgeholzt werden, damit man seine amerikanischen Billigburger auch um 3:00 Uhr nachts kriegen kann.

stine hat geschrieben:Wir könnten die ganze Welt mit unserem Geld zusch... , aber auch dann haben wir nicht die Gewähr, dass das unser globales Klima rettet, denn zuviel Wohlstand kippt die Welt auch um.


Richtig. Und die zweite Welt Staaten husten uns was. Die wollen heute, was wir gestern hatten, nur sind wir inzwischen über 7 Milliarden Menschen, ich kann mich noch erinnern, als wir 4 Milliarden waren. Aber warum soll die Revolution nicht von uns ausgehen. Bioenergie wäre so was.

Ulrich Schnabel hat geschrieben:Schau dich doch um: Heute sind die Autobahnen wieder voll mit Skifahrern und Schneewanderern, die keine Skrupel haben, die Berge zu beschallen und nachts
taghell zu erleuchten und damit dem Ski-Zirkus zu huldigen.


Richtig. Schneekanonen (mit einer Energiebilanz zum fürchten), mal eben der Wochendendtrip mit dem Flieger nach Mailand, weil da der befreundete Künstler seine Vernissage hat und mit dem Touareg Montagmorgen beim Bioladen vorfahren, schließlich ist man Öko.
Warum muss es der Panzer sein? Nun, wenn man einen Unfall macht, weil man beim Fahren telefoniert, geht es wenigstens einem selbst nicht schlecht, sondern den andern. Man ist ja nicht doof und kann rechnen... und man kann es sich leisten.

stine hat geschrieben:Ist ja jeder nur einer, der das möchte. Die Welt hat sich verändert und weder du noch ich können das Rad der Zeit zurückdrehen.


Warum denn nicht? Schirrmacher benennt doch die Misere. Jedem ist alles scheißegal, Hauptsache man kommt noch durch. Nach mir die Sintflut. Das durchkalkulierte Leben. Die Klugen legitimieren sich das, mit ein paar Argumenten (die Vernunft ist noch immer die billigste Prostituierte), den weniger Klugen ist auch das scheißegal, die leben es einfach.
Im Grunde läuft der der marxistischen Kritik ins offene Messer, die kritisiert, die bürgerliche Gesellschaft würde sich auf den Zwang der (selbsgeschaffenen) Verhältnisse berufen, als seien sie ein Naturgesetz. Da machse nix.

stine hat geschrieben:Wer wirklich reich ist, rettet die Welt indem er ein paar Hausangestellte mitverdienen lässt.


Klar, unter der Oberfläche blüht ein grauer Markt an Pflegekräften aus Polen und für die weniger Wohlhabenden aus Rumänien. Das nimmt halt kolonialistische bis im schlimmeren Fall sklavenhalterische Züge an. Aber haben wir ja längst auf der Welt. Sexsklaven, Arbeitsskalven, Soldatensklaven, gerne Kinder.
Aber an Feinheiten der Kindererziehung zu schrauben und Kinderkrippen als kurz vor Menschenverachtung zu sehen und dann im selben Moment zu sagen, „tja, Indien und Afrika sind weit weg, was kümmert's mich“ musst Du da nicht nachjustieren?
Kannst Du das wirklich ausblenden? Vielleicht ist das wirklich die einzige Möglichkeit.

stine hat geschrieben:Die Mittelschicht haut zwar auf den Putz, putzt aber ansonsten noch selber und außer für den eigenen Spaß geben sie nichts aus.


Kann schon sein. Die Mittelschicht verachtet vor allem diejenigen, die sie als Unterschicht empfinden. Aus Angst bald selbst dazu zu gehören. Und die Unterschicht verachtet die gefaketen RTL 2 Prolls, die 300 kg wiegen, stutendoof sind und keine Zähne im Mund haben, weil es da zum Glück immer noch welche gibt, denen es schlechter geht. Und die letzten Prolls am Arsch der Welt verachten halt alle, weil sie von allen verachtet werden.
Du blickst halt mit einer gewissen Verachtung auf die Mittelschicht. Und bist immerhin so ehrlich und gibst es zu.
Aber genau das scheint ja das Problem zu sein. Es geht uns eigentlich ganz gut und es könnte uns noch besser gehen, doch statt uns zu solidarisieren, gehen wir immer verächtlicher miteinander um.
Wir verhärten uns, wir sondern uns ab, wir zeigen dem Rest der Welt den Mittelfinger.

In der Nachkriegszeit, als wirklich alles in Schutt und Asche lag, als die Leute wirklich nichts zu Essen hatten, als Kaffee ein Luxusgut war, von Fleisch kaum zu reden (in der Familie meines Vaters hieß es: „Sondermeldung: Kartoffel im (fettfreien) Essen“, als man Ruinen zugeteilt bekam, von denen man sich Steine holen durfte, um sein Haus wieder aufzubauen, als man noch einkochte und der Kohlraspel in der Nachbarschaft die Runde machte, war die Solidarität groß, so groß, dass viele sich gerne an diese harte Zeit zurückerinnern. Du träumst ja auch davon.

Aber wovon genau und warum meinst Du, lässt sich das nicht wiedergewinnen?
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon provinzler » Sa 23. Feb 2013, 11:55

Vollbreit hat geschrieben:.
provinzler hat es am Beispiel Fußball erwähnt. Er hat, so schrieb er, einige Einblicke gewonnen, die reichen aus, um ihn hinreichend skeptisch zu machen. Aber im Grunde interessiert das keine Sau. Es gibt eine erstaunliche Bereitschaft, oft wider besseres Wissen, bestimmte Illusionen des realen Lebens aufrecht erhalten zu wollen, z.B. die Illusion vom an sich sauberen Sport, in dem es böserweise sehr seltene Fälle von Betrügern und Dopern gibt. Ansonsten sei alles in Ordnung.
Im Angesicht der frei zugänglichen Kenntnisse um Dopingmittel, um Skandale in der FIFA auf höchster Ebene, auf Erkenntnisse um Wetten und Schiebereien von der Kreisklasse bis zur WM ist es grenzenlos naiv an sauberen Sport zu denken.
http://www.n-tv.de/sport/Der-deutsche-S ... 75101.html

Ich meinte eigentlich weder Doping noch Wettskandal, sondern die Strukturen im Bereich der sogenannten Spielerberater. Es gibt Vereine, die über die Besetzung des Sportdirektorenpostens oder andrer Entscheidungsträger fest in der Hand eines bestimmten Vermittlers sind, der dann auf Kosten des Vereins Kasse macht. So mancher überteuerte Sinnlostransfer erscheint in einem ganz andren Licht, wenn man weiß, wer da mit wem wie verbandelt ist. Namen sollte man bei der Gelegenheit aber besser nicht nennen, denn sonst wird man im günstigsten Fall mit Klagen überzogen (so mancher Blog kann davon ein Liedchen singen) oder im ungünstigsten wird einem schon mal telefonisch gedroht einem "die Beine zu brechen". Leitende Angestellte/Vorstandsmitglieder, die das schmutzige Spiel nicht mitspielen wollen, treten urplötzlich unter fadenscheinigen Begründungen zurück, weil auch sie bedroht werden. Und ja, das passiert hier mitten in Mitteleuropa. Der Leidtragende ist der gemeine Fan, der regelmäßig Geld für Eintrittskarten, Pay-TV und Fanschals ausgibt
und das ganze so finanziert.

stine hat geschrieben:Was soll ich also tun?
Ich sags dir: Ich helfe meiner eigenen Familie und meinen engsten Freunden ein angenehmes Leben zu führen!
Es waren viele Lebensjahre Erfahrung notwendig, um bei der eigenen Nasenspitze anzukommen. Ich hab es satt, ständig daran erinnert zu werden was alles schlecht ist und was nicht gut läuft und ich habe es satt, mich immer schuldig zu fühlen.


Richtig. Ich kann vielleicht die Orangen aus Südamerika noch liegen lassen und warten bis es wieder welche aus Spanien gibt. Solche Kleinigkeiten halt. Was mich halt nervt, sind Leute, die immer alles von andren erwarten, aber selbst die Hände in Unschuld waschen. Also vier Supermärkte nach den billigsten Erdbeeren abklappern, aber gleichzeitig verlangen, dass der Supermarkt höhere Löhne zahlt.
Der Schrei nach mehr "sozialer Gerechtigkeit" ist eigentlich auch genau das. "Die da oben" (also alle die mehr verdienen als ich) sollen gefälligst mehr abdrücken, damit der Staat meinen Beuteanteil angemessen erhöhen kann. Ich kann ja noch damit leben, wenn ein Warren Buffett mehr Steuern zahlen will (auch wenn er seinen persönlichen Steuersatz m.E. falsch berechnet, und ihn viel zu niedrig ansetzt*). Aber die allermeisten schreien nach mehr Umverteilung und erwarten dabei, dass andre die Party bezahlen.


*Denn er unterschlägt "seinen" Anteil an den Steuern, die das Unternehmen Berkshire Hathaway jedes Jahr zahlt, aus dessen Aktien sein Vermögen nach eigenen Angaben zu 99% besteht. Von deren Gewinnen waren ihm etwa 2011 ca. 4,5 Mrd.$ zuzurechnen, auf die ziemlich genau 30% Steuer gezahlt wurden. Dagegen sind die 10 Millionen $ (Größenordnung) die er laut eigenen Angaben verdient hat (hauptsächlich Gewinne aus privaten Anlagen), und die mit 15% versteuert wurden irrelevant. Sein ökonomischer Steuersatz liegt bei um die 30% und nicht bei 15%. Das ist deswegen so absurd, weil er Anlegern seit 20 Jahren rät, sich beim Geld anlegen auf die "Look-Through-Earnings", also auch die einbehaltenen Gewinne statt nur auf Dividenden zu konzentrieren, seine "Look-Through-Taxes" in dieser Debatte aber geflissentlich unter den Tisch kehrt..
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Sa 23. Feb 2013, 13:02

Danke für die Klarstellung, bezüglich der Spielerberater.
Mir ging es auch mehr um die Struktur, insofern ändert es an der Sache nichts.
Beispiele aus anderen Gebieten könnte man nahtlos anschließen, gelegentliche Drohgesten inklusive.

Der Befund war, dass wir in einer Scheinwelt leben, die primär darum aufrecht gehalten wird und werden kann, weil wir in einer Scheinwelt leben wollen.
Es ist eine „Lass mich doch mit all dem Kram in Ruhe“ Welt, die ich menschlich verständlich und nachvollziehbar finde, aus diversen Gründen.

Und dennoch beschweren wir uns ja lautstark darüber, dass unserer Zeit Werte, Anstand, Zivilcourage und was auch immer fehlen. Wir beschweren uns über „die da oben“, wir schauen bei Schirrmacher, bei Kabarettisten und wo auch immer in den Spiegel, kommen zu dem Befund: „Tja, schlimm irgendwie“ und dann geht alles weiter.

Dass das nicht gut zusammenpasst sieht jeder, dass man gar nichts dran ändern kann, halte ich für falsch. Die Arbeit im Kleinen ist vielleicht gar nicht der schlechteste Ausweg.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » Sa 23. Feb 2013, 14:01

Vollbreit hat geschrieben:In der Nachkriegszeit, als wirklich alles in Schutt und Asche lag, als die Leute wirklich nichts zu Essen hatten, als Kaffee ein Luxusgut war, von Fleisch kaum zu reden (in der Familie meines Vaters hieß es: „Sondermeldung: Kartoffel im (fettfreien) Essen“, als man Ruinen zugeteilt bekam, von denen man sich Steine holen durfte, um sein Haus wieder aufzubauen, als man noch einkochte und der Kohlraspel in der Nachbarschaft die Runde machte, war die Solidarität groß, so groß, dass viele sich gerne an diese harte Zeit zurückerinnern. Du träumst ja auch davon.

Aber wovon genau und warum meinst Du, lässt sich das nicht wiedergewinnen?

Ich träume nicht von der Nachkriegszeit. Ich war ein Kleinkind, als es hier in D einigermaßen aufwärts ging und ich wurde viel zu früh in die jetzt als so heilsam propagierte Kinderkrippe gesteckt. Hilflos, alleingelassen und immer falsch angezogen, weil ich die Sachen von meinem größeren Bruder auftragen musste. Während andere Mädchen schon weiße Kniestrümpfe hatten, durfte ich in Strümpfen mit Bubenmuster herumlaufen und mir von meiner Mutter immer wieder anhören, die Sachen wären doch "neutral". Es war für mich schon immer schwer, irgendwo dazu zu gehören. Deshalb hab ich auch heute keine Lust, die Welt für die zu retten, die sich nie einschränken mussten und es auch heute noch nicht tun.

Vollbreit hat geschrieben:Aber an Feinheiten der Kindererziehung zu schrauben und Kinderkrippen als kurz vor Menschenverachtung zu sehen und dann im selben Moment zu sagen, „tja, Indien und Afrika sind weit weg, was kümmert's mich“ musst Du da nicht nachjustieren?

Wieso?
Die Mütter arbeiten heute fleißiger denn je, aber viele nicht wie früher, weil das Geld ihre Existenz sichert, sondern vielmehr, weil sie nach der guten Ausbildung auch die Früchte ihrer Arbeit ernten wollen. Spricht ja auch nichts dagegen, aber die Rechnung zahlen immer die Schwächsten. Mütter mit schlechter Ausbildung bleiben da eher mal zu Hause, weil der Job den sie bekämen das Leben auch nicht schöner macht.

Die Medien bombadieren uns tagein tagaus mit der Nachricht, dass überall nur alleinerziehende Mütter leben und allesamt nicht wissen, wohin mit ihren Kindern, wo sie doch täglich um ihre Existenz ringen. Die Realität vor der Haustüre sieht aber anders aus: Die Mütter arbeiten, weil das zweite Auto und der dritte Urlaub Geld kosten und weil man sich auch sonst ungern einschränken möchte. Die unter Dreijährigen werden teilweise mehr als 6 Stunden an die Krippe abgegeben, aber dann verlangt die taffe Juristin wenigstens, dass sich das Krippenteam an dem Konzept der Förderung des Kindes nach eigenständiger Persönlichkeit, am Ansatz ganzheitlichen Lernens und mit der Krippe als gemeinschaftlichen Lebensraum orientiert. Die Erzieher sollen die Kinder in ihrer Einzigartigkeit respektieren und sie bestmöglich in ihrer individuellen Entwicklung fördern.
Klar, nichts leichter als das, bei 6 Windelkackern und einer Kinderpflegerin.
Am Wochenende nerven die Kleinen dann ihre Eltern, weil sie hier endlich die notwendige Aufmerksamkeit einfordern können. Das wird dann mit Aktionismus, statt mit Ruhe ausgeglichen. Dann kommt der vielzitierte Spruch auf den Tisch: Nicht die Länge der gemeinsamen Zeit ist wichtig, sondern die Intensität!
Später wundert man sich dann, wenn die Kinder sich nicht konzentrieren können und ihr Seelenheil im Elektronikspielzeug suchen. Das braucht man nämlich nur einschalten und es hat immer Zeit!

Am besten finde ich, wenn Mütter wie Fr.v.Leyen oder Familienministerin Schröder immer ganz genau wissen, was Kinder brauchen.
Ich erinnere mich an ein Interview mit einer engagierten, beruflich erfolgreichen Französin, sie wurde gefragt, ob sie denn auch Zeit hätte mit ihren Kindern zu spielen, sie antwortete: "Wo denken sie hin! Ich bin ihre Mama und nicht ihre Kinderfrau!"

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » So 24. Feb 2013, 10:09

stine hat geschrieben:Ich träume nicht von der Nachkriegszeit. Ich war ein Kleinkind, als es hier in D einigermaßen aufwärts ging und ich wurde viel zu früh in die jetzt als so heilsam propagierte Kinderkrippe gesteckt. Hilflos, alleingelassen und immer falsch angezogen, weil ich die Sachen von meinem größeren Bruder auftragen musste. Während andere Mädchen schon weiße Kniestrümpfe hatten, durfte ich in Strümpfen mit Bubenmuster herumlaufen und mir von meiner Mutter immer wieder anhören, die Sachen wären doch "neutral". Es war für mich schon immer schwer, irgendwo dazu zu gehören.


Ja, kapiert.
Auch, dass Du anderen Kindern bestimmte peinliche Erfahrungen ersparen möchtest.

stine hat geschrieben:Deshalb hab ich auch heute keine Lust, die Welt für die zu retten, die sich nie einschränken mussten und es auch heute noch nicht tun.


Das ist zwar vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen verständlich, aber es ist so, dass jede Zeit ihre Probleme hat. Manche alten Leute denken noch immer in den Kategorien des Hortens, weil es einfach Teil ihres Lebens und Überlebens war. Sie können, wenn man ein Dach überm Kopf und was zu Essen hat, überhaupt nicht verstehen, wie man sich noch über irgendwas beklagen kann. Ist doch alles da, was man braucht, der Rest ist Luxus.

Aber so läuft Entwicklung nicht. Es ist zwar auch m.E. richtig und gut, wenn man dann und wann mal wieder den Reichtum, in dem man in Deutschland tatsächlich lebt zu würdigen weiß – in nicht wenigen Fällen haben ehemalige Genussmittel ja den Status von Lebensmitteln oder Selbstverständlichkeiten erworben und was sich die „armen Menschen“, die heute beim Discounter kaufen müssen, dort kaufen können: mehrfach täglich Fleisch und für nicht zu viel Geld auch Champagner, Lachs und diverse Leckerlis, so haben früher die Adeligen nicht gelebt, zumindest was die Futterei angeht – ist das sicher nicht falsch.

Aber auch der anderen Seite muss man auch bei dem starten was heute Stand der Dinge ist.
Wir feiern heute auch nicht täglich, dass wir nicht mehr in der Höhle sitzen und unser Essen jagen müssen, sondern wir ärgern uns über Staus, Zahnärzte, über Veränderungen der Gesellschaft und so weiter. Alles auch Jammereien auf höchsten Niveau, verglichen mit der Steinzeit.

Und jede Zeit hat ihre Probleme und demütigenden Erfahrungen, die Klamotten des älteren Bruders hat sein Äquivalent heute vielleicht in nicht bei facebook sein zu dürfen oder dort an den Pranger gestellt zu werden oder eben keine Markenklamotten zu haben. Man kann natürlich sagen: „Mach den Scheiß doch einfach aus“, aber das ist deren Welt. Die spielen halt nicht mehr Fußball auf dem Rasen vor der Tür, nur heißt das eben auch nicht, dass sie keine Probleme haben.
Depressionen und Ängste treten kurioserweise ja nicht in der Zeit des Mangels auf, sondern in der Zeit der Überfülle.


stine hat geschrieben:Die Mütter arbeiten heute fleißiger denn je, aber viele nicht wie früher, weil das Geld ihre Existenz sichert, sondern vielmehr, weil sie nach der guten Ausbildung auch die Früchte ihrer Arbeit ernten wollen. Spricht ja auch nichts dagegen, aber die Rechnung zahlen immer die Schwächsten. Mütter mit schlechter Ausbildung bleiben da eher mal zu Hause, weil der Job den sie bekämen das Leben auch nicht schöner macht.


Geht ja im Grunde noch weiter, da Kinder karrierehemmend sind, verzichtet man gleich auf sie.

stine hat geschrieben:Die Medien bombadieren uns tagein tagaus mit der Nachricht, dass überall nur alleinerziehende Mütter leben und allesamt nicht wissen, wohin mit ihren Kindern, wo sie doch täglich um ihre Existenz ringen. Die Realität vor der Haustüre sieht aber anders aus: Die Mütter arbeiten, weil das zweite Auto und der dritte Urlaub Geld kosten und weil man sich auch sonst ungern einschränken möchte.


Zu einem guten Teil stimmt das wohl. Wie in Skandinavien, da ist der Standard zwar hoch, aber damit man mithalten kann, müssen beide ganz einfach arbeiten.

stine hat geschrieben:Die unter Dreijährigen werden teilweise mehr als 6 Stunden an die Krippe abgegeben, aber dann verlangt die taffe Juristin wenigstens, dass sich das Krippenteam an dem Konzept der Förderung des Kindes nach eigenständiger Persönlichkeit, am Ansatz ganzheitlichen Lernens und mit der Krippe als gemeinschaftlichen Lebensraum orientiert.
...
Ich erinnere mich an ein Interview mit einer engagierten, beruflich erfolgreichen Französin, sie wurde gefragt, ob sie denn auch Zeit hätte mit ihren Kindern zu spielen, sie antwortete: "Wo denken sie hin! Ich bin ihre Mama und nicht ihre Kinderfrau!"


Ja, das sind gute Argumente, die ich im wesentlichen auch teile, wie Du weißt.
Mein Punkt ist dabei der, dass ich versuche den größeren Strang zu finden. Das ist primär Dein Thema und das von anderen Leuten, die das zufällig interessiert, aber wieder andere sind Pendler und wollen bessere Straßen, die Nächsten die Energiewende, jemand anderes keine Ballerspiele und so weiter.

Ich will halt wissen, ob es einen roten Faden gibt, der, wenn erkannt wird verändert werden kann.
Ich glaube das ist eine Mischung aus inneren (psychischen) und äußeren (sozialen und gesellschaftlichen) Komponenten.
Ich bin der Meinung es wird deutlich zu viel am Symptom geschraubt und dann feiert man sich, wenn man einen Teilsieg errungen hat und missachtet, was nicht gut läuft.
Ich will nicht das Paradies auf Erden, aber ich glaube, dass das Thema Demographie so ernst und drängend ist, dass es ein gewaltiges Problem ist, an dem Europa scheitern wird. Ob man nun eine politische, wirtschaftliche oder auch mititärische Einheit hinbekommt ist völlig zweitrangig, wenn Europa in dem Maße weiter ausstirbt, wie das derzeit der Fall ist.
Böserweise merkt man das noch nicht, weil wir ja immer noch 82 Millionen Einwohner haben, in Grunde so viel wie nie.
Aber, das liegt an der höheren Lebenserwartung, doch der Effekt läuft schon längst. Dass überall kein Geld da ist, ist einer dieser Effekte und auch Deutschland wird es in einem Armenhaus Europa nicht mehr lange gut gehen. Und da bringt es auch nichts, wenn wir unsere Produktivitätssteigerung ankurbeln, denn wenn es in den Ländern um uns nicht besser aussieht und wir Abermilliarden in zukünftige Retttungsschirme pumpen, ist dieser Effekt verbrannt. Also, das ist der eine Punkt.

Parallel und ursächlich verknüpft kommt es zu einer Fundamentalisierung und die kann zwei Formen annehmen. Einmal die narzisstische Regression, jeder kümmert sich nur noch um sich, entsolidarisiert sich, schottet sich ab, versucht die Schäfchen ins Trockene zu bringen, winkt ab und sagt: Leckt mich doch alle mal. Das Interesse an Politik, Gesellschaft und allem was nicht mir nützt, geht verloren. Ist in vollem Gange der Trend.
Das andere ist die paranoide Regression: Moralapostel, Besserwisser und diverse Aufklärer vereinen sich zu kleinen Grüppchen, die ihren eigenen Ansatz leben. Mal als selbstversorgende Ökokommune, mal als Extremisten mit Terrorneigung. Auch das ist ein sichtbarer Trend.
Hier ist der gemeinsame Hintergrund die psychische Regression, auf die Moral der Kinder. Schwarz oder weiß, dafür oder dagegen, alles ist irgendwie eine Entscheidungsschlacht. Das mag virtuos formuliert sein, es ist primitiv und regressiv. Das ist der andere Punkt.
Beide Punkte bedingen einander, weil man mit Kindern nicht Demokratie spielen kann und schon gar nicht Europa und wirtschaftlicher Druck die Regression fördert.

Man kann natürlich einen weiteren Schritt abstrahieren und sagen: Was jammern wir über Europa, es wird so kommen, wie immer, Aufstieg und Niedergang? Jetzt ist eben Niedergang, die anderen warten schon, Indien, Brasilien, vielleicht Indonesien. Ich fand nur die europäische Lebensart schön, insofern würde ich halt noch, im Rahmen der bescheidenen Möglichkeiten, die einem zur Verfügung stehen, versuchen was zu schrauben.

Und es ist ja nicht so, dass es nicht auch gute Ansätze gibt. Naja, das mal so als Motiv.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon stine » So 24. Feb 2013, 10:50

Der rote Faden den du suchst ist in der Tat der Egoismus. Es lässt die Menschen da hin gehen, wo sie übeleben können.
Um europäisches Aussterben und Demografie mache ich mir derzeit noch keine Sorgen. Mit den Grenzöffnungen in den ärmeren Osten und den maroden Süden wird es mehr junge Zuwanderer geben, wie heimische Kinder und das tut allen gut. Man muss die Zuwanderer aber arbeiten lassen und nicht in Ghettos sperren und mit Brot und Milch versorgen. Falsch ist auch, ständig an den Arbeitsbedingungen für Menschen ohne Ausbildung herum zu nörgeln. Arbeiter, die aus Ländern ohne Arbeit kommen, räumen hier auch mal gerne die Lager auf oder verpacken die Auslieferungen.
Es gibt eben noch Knochenjobs und die wird es auch immer geben, aber niemand macht das ein Leben lang. Insofern ist es auch ertragbar.

Falsch ist die Jammerei auf zu hohem Niveau und falsch ist es zu glauben, der Idealzustand wäre, wenn es allen gleich gut oder gleich schlecht geht. Und falsch ist es auch zu glauben, die Völkerwanderungen hätten irgendwann ein Ende.

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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » So 24. Feb 2013, 11:31

stine hat geschrieben:Der rote Faden den du suchst ist in der Tat der Egoismus. Es lässt die Menschen da hin gehen, wo sie übeleben können.


Das ist erst mal kein pathologischer Egoismus, finde ich. Wenn wir qualifizierte Arbeiter anwerben wollen, setzen wir ja genau auf diese Eigenschaft.

stine hat geschrieben:Um europäisches Aussterben und Demografie mache ich mir derzeit noch keine Sorgen. Mit den Grenzöffnungen in den ärmeren Osten und den maroden Süden wird es mehr junge Zuwanderer geben, wie heimische Kinder und das tut allen gut.


Jo, nur ist da der Ofen auch aus, demographisch gesehen. Zudem hat es zur Folge, dass diese Länder noch mehr veröden. Was hat man mittelfristig davon, wenn Spaniens Jugend in Deutschland arbeitet und wir dann die spanischen Rentenkassen füllen müssen?
Man kann natürlich „hoffen“ dass die ihre Sozialsysteme auf ein Minimum herunterfahren, aber wer kauft in den umliegenden Armenhäusern dann noch deutsche Exportwaren? Der Automarkt in Europa ist ja schon tot.

stine hat geschrieben:Man muss die Zuwanderer aber arbeiten lassen und nicht in Ghettos sperren und mit Brot und Milch versorgen. Falsch ist auch, ständig an den Arbeitsbedingungen für Menschen ohne Ausbildung herum zu nörgeln. Arbeiter, die aus Ländern ohne Arbeit kommen, räumen hier auch mal gerne die Lager auf oder verpacken die Auslieferungen.


Völlig richtig. Völlig falsch ist auch, die im ersten Jahr gar nicht arbeiten zu lassen (und gleichzeitig zu nörgeln, sie würden nur rumlungern). Oder sie nur drei Monate behalten zu dürfen. Ist auf der Baustele jemand eingearbeitet, muss er gehen.

stine hat geschrieben:Es gibt eben noch Knochenjobs und die wird es auch immer geben, aber niemand macht das ein Leben lang. Insofern ist es auch ertragbar.


Finde ich auch, als Erntehelfer ist doch kein Deutscher mehr weit und breit zu finden. Wenn mal jemand kommt, dann für genau einen Tag.

stine hat geschrieben:Falsch ist die Jammerei auf zu hohem Niveau und falsch ist es zu glauben, der Idealzustand wäre, wenn es allen gleich gut oder gleich schlecht geht. Und falsch ist es auch zu glauben, die Völkerwanderungen hätten irgendwann ein Ende.


Ich glaube es wird und kann nie allen gleich gut gehen, weil das nun tatsächlich von einer Vielzahl von Faktoren abhängt. Was ich aber sicher weiß, ist, dass es pathologischen Narzissten und Egoisten schlecht geht.

Und ich glaube, wenn der Egoismus die Wurzel ist, darüber sind sich ja viele einig, muss man eben klar machen, dass und warum path. Egoismus auch für den Egoisten schlecht ist (denn er macht unglücklich, nicht glücklich auch wenn das kontraintuitiv ist), dann aufzeigen, wie es zum Egoismus kommt und danach, was man dagegen tun kann.

Das Ursachenbündel ist vielfältig, aber an vielen Faktoren kann man was drehen.
Man wird den Egoismus nicht aus der Welt schaffen, aber man muss sich klar machen, dass narzisstische Eltern mit höchster Wahrscheinlichkeit ihre Kinder zu Narzissten erziehen werden und so ist die Kette nie unterbrochen. Eine gute Therapie retten damit nicht nur den einen Menschen, sondern auch sein Umfeld (ein path. Narzisst reißt viele Mitmenschen mit ins Unglück) und die nachfolgenden Generationen.

Und ob die Zahl an schweren Persönlichkeitsstörungen (die alle auch eine narzisstische Problematik haben) bei 15 – 20% liegt (Tendenz steigend) wie bisher, oder bei 5% ist ein Unterschied. Ein weiterer Unterschied ist, ob path. Narzissmus/Egoismus gesellschaftlich negativ sanktioniert wird, oder ob es als vollkommen normal und vernünftig angesehen wird so zu sein, weil das heute eben dazugehört.

Die Oberflächlichkeit, mit der wir uns den Spiegel vorhalten lassen, um uns dann, kurz aufgewallt, zu schütteln und weiter zu machen wie bisher – an mir liegt's ja doch nicht – ist bereits ein Symptom. Nettes Reden und gute Vorsätze ohne auch nur die entfernte Absicht zu haben, das Gerede in irgendeine Art von Verbindlichkeit zu überführen, das ist bereits narzisstisch. Alles dient dazu mich zu unterhalten und meine chronische innere Leere, gefühlt als Langeweile sobald die Reize sich nicht die Klinke in die Hand geben, zu unterdrücken. Ablenkung, Talk und Spiele wo immer es geht. Ständig in Kontakt mit 130 „Freunden“, die neuesten Nachrichten kennen, mal eben die Welt erklären können, auch das sind Symptome.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » So 24. Feb 2013, 12:44

Das Berlin-Institut hat z.B. ausgeführt, was (angeblich) die demographische Entwicklung anheizt und was nicht. Für Europa ergibt das z.B. folgendes Bild:
http://www.berlin-institut.org/publikat ... -2012.html

Demnach sieht es ja gar nicht so schlecht aus, gute Noten für weite Teile Europas, inklusive Deutschland. Leider ist die Lebenswirklichkeit dann aber, auch nach einer Untersuchung des Instituts bei uns so:
http://www.berlin-institut.org/online-h ... hland.html

Und es ist ja erfreulich wenn die die Bevölkerungszahl des Musterschülers Norwegen, im 20. Jahrhundert verdoppelt hat, aber die haben Öl, jede Menge Geld um die gute Sozialsysteme zu leisten, aber vor allem sind das nur 5 Millionen Menschen.
Die Situation in Polen mit sein 38 Millionen ist ähnlich katastrophal wie bei uns. 1,3 Kinder, 2,1 wäre der Schnitt um eine Bevölkerung stabil zu halten.
Frankreich schafft das so eben noch, als einziges bevölkerungsreiches Land, derzeit 2,0.
Der Rest ist miserabel.

Das bedeutet, eine immer ältere Bevölkerung, das heißt, immer weniger junge Leute zahlen für immer mehr Rentner, das heißt der Rentenbedarf (die Rente ist schon bei uns nicht mehr aus dem Generationenvertrag zu stemmen, sondern wird subventioniert) steigt.
Wenn die Kohle aber weg ist, die Sozialsysteme ausdünnen, wer soll dann noch zu uns kommen?

Klar Billigkräfte, die für Saisonarbeit einfallen und dann wieder gehen, aber was ist mit den vielzitierten Fachkräften. Das versucht man momentan dadurch aufzufangen, dass man geringer qualifizierte Hilfskräfte einstellt oder eben dubiose Leiharbeitsverträge abschließt, nur erstens geht das auf Kosten der Qualität (das sind nicht immer nur Autos oder Nahrunsgmittel, sondern auch mal Pflegebeürftige) und zweitens, wenn die Leute von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, ist das nicht nur unwürdig, sondern, es muss auch wieder finanziert werden, von allen – durch Aufstockung oder wie auch immer.
Das heißt, irgendwie steigen die Steuern oder was auch immer es da für Möglichkeiten gibt.
Und es geht auf Kosten der sozialen Absicherung, paradoxerweise der Arbeiten.
Befristete Verträge – die eine Familienplanung erschweren – oder Arbeitsverhätnisse, in denen man nicht krank werden darf.

Nun kann man sagen, tja, Pech, die Welt ist halt nicht schön, aber wir hatten das schon mal besser.
Und an die Brighst gerichtet hieße die Frage, was am achselzuckenden Desinteresse noch in der Tradition des Humanismus steht, an die Glaubenden, was daran christlich ist?
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Lumen » So 24. Feb 2013, 18:35

Ich halte viele Ansichten und Thesen in obigen Beiträgen für Halbwahrheiten die durch das Verrühren von emotional gefärbten Ansichten, ein paar Anekdoten und Urteile entsteht. Genau jener Krempel, der oft fabriziert wird und dann einfach geglaubt wird.

Ihr wart alle mal klein. Eure Eltern haben euch mit sehr viel Zeit, Ressourcen und Mühen großgezogen und dabei nicht nur auf das eine oder andere verzichtet. Haben sie sich ihre gelegentliche Freude und eventuell mal ein paar Besuche im Alter doch nur egoistisch durch jahrzehntelange Hilfe, Mühen und Kosten erkauft? Ich hoffe doch mal stark, dass das nicht euer Menschenbild ist. Andauernd tun Menschen Dinge, die sich nicht allein durch Eigeninteresse erklären lassen. Irgendwo kann man behaupten, dass ein paar ausgeschüttete Botenstoffe aus einem Belohnungszentrum der Grund für das handeln seien, dann sollte aber nicht über Biologismus gejammert werden. Ich halte auch diesen Ansatz für zweifelhaft, weil sich die Kosten/Nutzen nicht wirklich vergleichen lassen und oftmals auch nicht aufwiegen.

Egoismus ist ein Konzept dass sehr stark durch Werturteile gefärbt ist. Es ist genauso exakt wie Gleichgültigkeit oder Selbstsicherheit. Was soll das heißen? Und warum sollte jemand auf seine eigenen Interessen verzichten, und so jemandem anderem "egoistische" Vorteile zugestehen? Natürlich wird jeder zum Beispiel versuchen, möglichst günstig einzukaufen. Das ist die Spielregel.

Menschen haben die interessante Fähigkeit Regeln zu entwerfen, die dann unabhängig in Gang gehalten werden und alle, sogar die Urheber unterwerfen können. Möglicherweise sind wir nur so aus der Höhle herausgekommen. Die meisten Leute setzen dauernd Dinge in Gang, die sie dann wiederum antreiben und zum Handeln zwingen. Müssten wir uns bei jedem Schritt selbst motivieren, würden wir kaum Vorwärts kommen. Die Kehrseite der Medaille ist aber, dass diese Prozesse so beschaffen sein können, dass sie absolut Eigennützig sind oder Eigennutz fordern. Zum Beispiel können Manager nicht gegen die geschaffenen Prozesse handeln, sonst fliegen sie raus. Ebenso hat keine einzelne Person Kontrolle darüber, wie viel Geld in Bildung und gute Zwecke oder Militär gestreckt wird.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Vollbreit » Mo 25. Feb 2013, 10:22

Das hast Du möglicherweise was in den falschen Hals bekommen oder ich habe mich unglücklich ausgedrückt:

Es ist gerade nicht meine These, dass Menschen „von Natur aus“ Egoisten sind, fähig allerhöchstens zur Kooperation um des größeren eigenen Vorteils willen.

Es ist auch nicht meine These, dass man alles Verhalten auf spieltheoretische Konzepte runterbrechen kann und man durch ein paar Algorithmen bald jeden kennt und beschreiben kann.

Es ist weiter nicht meine These, dass der Mensch eine fleischumhüllte Rechenmaschine ist, die wie das Modell des homo oeconomicus es will, Kosten und Nutzen gegenrechnet und ich bin weiter auch nicht der Auffassung, dass das exreme Gegenteil stimmt, dass der Mensch nämlich ganz und gar irrational ist, weil die Zentren in denen Rationalität verarbeitet wird, neurologisch nicht mit den emotionalen Zentren verschaltet sind.

All diese dargestellten Theorien über den Menschen: evolutionsbiologische, neurobiologische, spieltheoretische, wirtschaftstheoretische halte ich für falsch oder besser, unterkomplex – wie Du offenbar auch.

Mal zielen diese Theorien auf den Menschen als reines (gefühlloses) Verstandeswesen ab, mal als reines (irrationales) Gefühlswesen.

All diese Theorien vermitteln das Bild dem Menschen ginge es letztlich nur um sich selbst, weil es gar nicht anders gehen könne. Manche dieser Theorien stützen andere. So erinnere ich mich, wie ein forenaktiver Biologist mehrfach feststellte, der Kapitalismus sei sozusagen die natürlichste Wirtschaftsform, denn der Mensch sei nun mal zweifelsfrei egoistisch (Biologen hätten das herausgefunden, Egoismus sei sozusagen der eine Urtrieb der alles Leben bewegt) und folgerichtig sei auch die kapitalistische Vorteilsmaximierung, die sich in Gleichgewichten einpendelt, das organische Resultat aus der Biologie des Menschen.
Dass es die Spieltheorie ist, die beides verbindet, indem sie der Doktrin der egoistischen Gene eine Vorrangstellung verschaffte (vgl. Eibl-Eibesfeldt„Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung“) und die ebenso das Verhalten des homo oeconomicus berechnet, kann man nachlesen.

Und diese Theorien kommen an. Sie beherrschten der Diskurs der letzten Jahrzehnte, wenigstens in der breiten Öffentlichkeit. Ein mediales Dauerfeuer, gar nicht mal von irgendwem inszeniert, alles andere kam nur einfach gar nicht vor.

Diese These ist nun also nicht, dass der Mensch so ist und gar nicht anders kann und jeder der was anderes denkt ein romantischer Träumer oder Sozialuropist ist, der die Wissenschaft nicht verstanden hat, sondern die These ist, dass der Mensch nicht einzig und allein egoistisch ist und falls er es von Geburt an mehr ist, er sich doch zumindest ein sehr weites Stück da heraus bewegen kann.

Die These von Schirrmacher ist, dass sich heutzutage der Gedanke etabliert, es bliebe einem überhaupt keine Wahl mehr als Egoist zu sein (im Gegensatz zu Altruist zu sein = die Absicht zu haben, das Wohl(befinden) eines anderen zu vergößern).
Diese These hat auch die Narzissmusforscherin Twenge bei ihren Forschungen gefunden: Ihren Studenten war klar, dass sie sich zu einem großen Teil mehr oder minder narzisstisch verhielten, gleichzeitig fanden sie aber nichts dabei sondern argumentierten: Klar ist das narzisstisch, aber heute muss man so sein, es geht nicht anders, alle sind so, wer da nicht mitzieht, kommt unter die Räder.

Und dieser Befund wird von mehreren anderen ebenfalls geteilt.
Und das ist das eigentliche Problem. Je mehr sich ein Weltbild etabliert, das es völlig rational erscheinen lässt, sich einzig und allein um den eigenen Vorteil zu kümmern und dem anderen allenfalls taktisch entgegenzukommen (man könnte ihn ja noch mal brauchen), umso mehr verstärkt sich natürlich dieses Verhalten.

Je mehr man dem Menschen Legitimationen an die Hand gibt, dass er je letztlich nichts für sein Verhalten kann, da seine „Natur“ ja dagegen spricht, umso mehr ändert sich signifikant sein Verhalten (vgl. zitierten Spiegel Beitrag).

Dieses scheinbar die offensichtliche und selbstverständliche Weltbild zu kritisieren, bzw. zu hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, was den Gedanken, wir seien eben alle Egoisten so sexy macht, ist die Intention.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon provinzler » Mo 25. Feb 2013, 13:21

Natürlich trifft ein Bild wie das des Homo oeconomicus auf den Individualmenschen eigentlich nie zu. Sie funktionieren aber ganz gut, wenn man das Verhalten größerer am besten anonymer Gruppen beobachtet. Ist ungefähr so wie die Beobachtung der Bewegung einer Wasserwelle, und die Beobachtung der Bewegungsrichtung einzelner Atome innerhalb dieser Welle. Wenn du nun sagst, es gibt keine Gesetzmäßigkeit im Bewegungsverhalten der Welle in Richtung X, weil sich Atom A in dieser Welle nach Richtung Y bewegt, so ist das offensichtlich Unsinn. Und so ähnlich funktioniert das auch auf beim Homo oeconomicus. Wenn man einen Anreizstruktur (vergleichbar dem Impuls bei der Welle) vorgibt, wird es eine tendentielle Verhaltensänderung bei Beobachtung des aggregierten Gruppenverhaltens zu beobachten geben. Auf Individualebene lässt sich diese Aussage nicht so einfach respektive gar nicht treffen.
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Re: Sind wir alle Egoisten?

Beitragvon Nanna » Mo 25. Feb 2013, 15:58

Das stimmt so pauschal nicht, provinzler. Auch wenn das vielleicht alles Wischiwaschi-Geisteswissenschaftler-Geschwätz ist, aber die Kultur und der vorherrschende Diskurs haben einen ENORMEN Einfluss auf das Individualverhalten. Wenn Altruismus ein gesellschaftlich gepflegtes Ideal ist oder wenn, gerade in ärmeren und lebensfeindlichen Gegenden häufig vorherrschend, die Kooperation mit anderen etwas ist, worauf man einfach angewiesen ist, wird auch viel mehr altruistisches Verhalten zu beobachten sein.

Natürlich kann man das auch wieder biologistisch erklären, aber das halte ich für Käse. Das klingt wie diese lächerlichen Thesen aus dem 19. Jahrhundert, dass Araber hitzige Gemüter haben, weil sie in der Wüste leben und Deutsche nachhaltig denken, weil sie seit Jahrtausenden zur Vorratshaltung gezwungen sind.
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