Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » Sa 19. Jun 2010, 23:15

Ausgehend von der Nebendiskussion über das Wesen der Mathematik im Thread Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie, habe ich ordnungshalber eine Liste der möglichen mathematikphilosophischen Standpunkte erstellt. (Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie vollständig ist.)

************************

0. PHILOSOPHIEN DER MATHEMATIK:

1. REALISMUS:
Der mathematische Diskurs handelt von existenten, realen Objekten.

1.1 NICHTREDUKTIVER REALISMUS = PLATONISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind (geist- und sprachunabhängige) abstrakte Objekte (oder Eigenschaften), und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Objekten (oder Eigenschaften).

1.1.1 ANTE-RES-STRUKTURALISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind (geist- und sprachunabhängige) abstrakte Strukturen, und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Strukturen.

1.2 REDUKTIVER REALISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind nichtabstrakte, konkrete Objekte (oder Eigenschaften), und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Objekten (oder Eigenschaften).

1.2.1 PSYCHOLOGISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind mentale Objekte, und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Objekten.

1.2.1.1 IDEALISMUS (KONZEPTUALISMUS):
Die Objekte der Mathematik existieren, sind aber geistabhängig und geisterzeugt ("Ideen").

1.2.1.1.1 KONSTRUKTIVISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind mentale Konstrukte, und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Konstrukten.

1.2.1.1.1.1 INTUITIONISMUS

1.2.2 PHYSIKALISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind physische Objekte, und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Objekten.

1.2.2.1 IN-REBUS-STRUKTURALISMUS:
Die Objekte der Mathematik sind physische Strukturen, und mathematische Sätze und Theorien handeln von solchen Strukturen.

1.2.3 LINGUISTIZISMUS (SPRACHFORMALISMUS):
Die Objekte der Mathematik sind linguistische Objekte, und mathematische Sätze und Theorien handeln (metasprachlich—vom Sprechen über Zahlen zum Sprechen über Zahlwörter) von solchen Objekten.

2. ANTIREALISMUS = NOMINALISMUS:
Der mathematische Diskurs handelt nicht von existenten, realen Objekten.

2.1 FIKTIONALISMUS:
Mathematische Sätze und Theorien handeln von abstrakten Objekten und sind falsch, weil es solche Objekte nicht gibt.

2.2 MEINONGIANISMUS:
Mathematische Sätze und Theorien handeln von abstrakten Objekten und sind wahr, obwohl es solche Objekte nicht gibt.

2.3 LUDIZISMUS (SPIELFORMALISMUS):
Mathematische Sätze und Theorien handeln von keinen (bestimmten) Objekten und sind weder wahr noch falsch.

2.3.1 DEDUKTIVISMUS

2.4 PARAPHRASISMUS:
Mathematische Sätze und Theorien können so umformuliert werden, dass sie nicht mehr die Existenz abstrakter Objekte implizieren.

2.4.1 "WENN-DANN-ISMUS":
Beispiel: "3 ist eine Primzahl" wird umformuliert zu "Wenn es Zahlen gäbe, dann wäre 3 eine Primzahl".

************************

Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass nur der mathematische Platonismus, d.i. der nichtreduktive mathematische Realismus, mit dem (ontologischen) Naturalismus grundsätzlich unvereinbar ist, was wiederum heißt, dass sowohl der reduktive mathematische Realismus als auch der mathematische Antirealismus damit vereinbar scheinen. (Dass Letzterer naturalismuskompatibel ist, versteht sich ja von selbst.)

"Platonism about mathematics (or mathematical platonism) is the metaphysical view that there are abstract mathematical objects whose existence is independent of us and our language, thought, and practices. Just as electrons and planets exist independently of us, so do numbers and sets. And just as statements about electrons and planets are made true or false by the objects with which they are concerned and these objects' perfectly objective properties, so are statements about numbers and sets. Mathematical truths are therefore discovered, not invented."
———
"Der Platonismus in Bezug auf die Mathematik (oder der mathematische Platonismus) ist die metaphysische Ansicht, dass es mathematische Objekte gibt, deren Existenz von uns und unserer Sprache, unserem Denken und Handeln unabhängig ist. Genauso wie Elektronen und Planeten unabhängig von uns existieren, so auch Zahlen und Mengen. Und genauso wie Aussagen über Elektronen und Planeten von den Objekten, von denen sie handeln, und den vollkommen objektiven Eigenschaften dieser Objekte wahr oder falsch gemacht werden, so auch Aussagen über Zahlen und Mengen. Mathematische Wahrheiten werden demnach entdeckt, nicht erfunden."
[© meine Übers.]

(http://plato.stanford.edu/entries/platonism-mathematics)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 20. Jun 2010, 01:30

Zur weiteren Klärung der Verhältnisse:

Zwei Fragen sind auseinanderzuhalten, eine semantische und eine ontologische:

1. Handeln mathematische Sätze und Theorien von abstrakten Objekten?
2. Gibt es abstrakte mathematische Objekte?

Zunächst einige Definitionen:

semantischer (mathematischer) Abstraktismus =def die Ansicht, dass mathematische Sätze und Theorien von (nichtlinguistischen) abstrakten Objekten handeln
semantischer (mathematischer) Nihilismus =def die Ansicht, dass mathematische Sätze und Theorien weder von abstrakten noch von konkreten Objekten, sondern von nichts (Bestimmtem) handeln
ontologischer (mathematischer) Abstraktismus =def die Ansicht, dass es abstrakte mathematische Objekte gibt

– Die nichtreduktiven Realisten sind sowohl semantische als auch ontologische Abstraktisten.
– Die reduktiven Realisten sind sowohl semantische als auch ontologische Antiabstraktisten.
– Unter den Antirealisten/Nominalisten sind die Fiktionalisten und die Meinongianisten semantische Abstraktisten und ontologische Antiabstraktisten, und die (wie ich sie nenne ["ludus" =lat. "Spiel"]) Ludizisten (Formalisten) sind semantische Nihilisten und ontologische Antiabstraktisten.

Die reduktiven Realisten sind also als ontologische Antiabstraktisten zumindest in dieser Hinsicht Antirealisten, was leider widersprüchlich klingt.
Die nominalistischen ontologischen Antiabstraktisten unterscheiden sich von den psychologistischen und physikalistischen ontologischen Antiabstraktisten nur darin, dass letztere im Gegensatz zu ersteren meinen, dass das mathematische Diskursuniversum zwar nicht abstrakte Realia, aber doch konkrete Realia umfasst.
Die Psychologisten und Physikalisten sind also semantische Konkretisten, was die Nominalisten nicht sind.

Der Punkt ist, dass es einen Unterschied macht, ob man sagt: "Das mathematische Diskursuniversum handelt von irrealen Objekten", oder: "Das mathematische Diskursuniversum handelt von realen, aber nicht von abstrakten Objekten".
Und so macht es beispielsweise einen Unterschied, ob man sagt: "Es gibt überhaupt keine Zahlen", oder: "Es gibt keine Zahlen als abstrakte Objekte".
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 20. Jun 2010, 04:58

Myron hat geschrieben:Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, dass nur der mathematische Platonismus, d.i. der nichtreduktive mathematische Realismus, mit dem (ontologischen) Naturalismus grundsätzlich unvereinbar ist, was wiederum heißt, dass sowohl der reduktive mathematische Realismus als auch der mathematische Antirealismus damit vereinbar scheinen. (Dass Letzterer naturalismuskompatibel ist, versteht sich ja von selbst.)


Ein naturalistischer mathematischer Realismus besteht also entweder im Psychologismus, im Physikalismus oder im Linguistizismus, wobei Letzterer inkonsequent ist, wenn er zwar die Existenz nichtlinguistischer mathematischer Abstrakta verneint, aber zugleich die Existenz linguistischer Abstrakta, d.i. von Sprachzeichentypen, anerkennt. Ein solcher Linguistizismus vertritt sowohl eine Art von semantischem Abstraktismus (Mathematische Sätze handeln von einem abstrakten Sprachsystem) als auch eine Art von ontologischem Abstraktismus (Es gibt abstrakte Sprachzeichentypen), was ihn eigentlich zu einer Art von Platonismus macht. Damit dürfte er für einen antiabstraktistisch eingestellten Naturalisten nicht sonderlich attraktiv sein, auch wenn Sprachzeichentypen weniger "transzendent" anmuten als nichtsprachliche und sprachunabhängige mathematische Abstrakta.
Es bleiben dem Naturalisten also im Wesentlichen nur der Physikalismus und der Psychologismus übrig, wenn er mathematischer Realist sein will:

"Anti-platonistic realism (physicalism and psychologism):

The main advocate of mathematical physicalism is John Stuart Mill (…). The idea here is that mathematics is about ordinary physical objects and, hence, that it is an empirical science, or a natural science, albeit a very general one. Thus, just as botany gives us laws about plants, mathematics, according to Mill's view, gives us laws about all objects. For instance, the sentence '2 + 1 = 3' tells us that whenever we add one object to a pile of two objects, we will end up with three objects. It does not tell us anything about any abstract objects, like the numbers 1, 2, and 3, because, on this view, there are simply no such things as abstract objects.

[Psychologism] is the view that mathematics is about mental objects, in particular, ideas in our heads; thus, for instance, on this view, '3 is prime' is about a certain mental object, namely, the idea of 3.
One might want to distinguish two different versions of psychologism; we can call these views actualist psychologism and possibilist psychologism and define them in the following way:

Actualist Psychologism is the view that mathematical statements are about, and true of, actual mental objects (or mental constructions) in actual human heads. Thus, for instance, the sentence '3 is prime' says that the mentally constructed object 3 has the property of primeness.

Possibilist Psychologism is the view that mathematical statements are about what mental objects it's possible to construct. E.g., the sentence 'There is a prime number between 10,000,000 and (10,000,000! + 2)' says that it's possible to construct such a number, even if no one has ever constructed one.

But (according to the usage I'm employing here) possibilist psychologism is not a genuinely psychologistic view at all, because it doesn't involve the adoption of a psychologistic ontology for mathematics. It seems to me that possibilist psychologism collapses into either a platonistic view (i.e., a view that takes mathematics to be about abstract objects) or an anti-realist view (i.e., a view that takes mathematics not to be about anything—i.e. a view like deductivism, formalism, or fictionalism that takes mathematics not to have an ontology). If one takes possible objects (in particular, possible mental constructions) to be real things, then presumably (unless one is a Lewisian about the metaphysical nature of possibilia) one is going to take them to be abstract objects of some sort, and hence, one's possibilist psychologism is going to be just a semantically weird version of platonism. (On this view, mathematics is about abstract objects, it is objective, and so on; the only difference between this view and standard platonism is that it involves an odd, non-face-value view of which abstract objects the sentences of mathematics are about.) If, on the other hand, one rejects the existence of possible objects, then one will wind up with a version of possibilist psychologism that is essentially anti-realistic: on this view, mathematics will not have an ontology."


(Balaguer, Mark. "Realism and Anti-Realism in Mathematics." In Philosophy of Mathematics, edited by Andrew D. Irvine, 35-101. Vol. of Handbook of the Philosophy of Science, edited by Dov M. Gabbay, Paul Thagard, and John Woods. Amsterdam: North Holland/Elsevier, 2009. pp. 37-8) [DOWNLOAD]

Auch wenn der mathematische Psychologismus und der mathematische Physikalismus als reduktiv-realistische Standpunkte naturalismuskompatibel sind, bedeutet das natürlich noch nicht, dass einer der beiden besser, d.h. glaubwürdiger und stimmiger ist als die antirealistischen/nominalistischen Standpunkte.
(Zur Kritik am Psychologismus & Physikalismus siehe z.B.: http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... Pre4PhyPsy)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 20. Jun 2010, 08:23

Myron hat geschrieben:2.2 MEINONGIANISMUS:
Mathematische Sätze und Theorien handeln von abstrakten Objekten und sind wahr, obwohl es solche Objekte nicht gibt.


Der Pate dieses Ismus, Alexius Meinong, ist berühmt-berüchtigt für seine Unterscheidung von Arten des Daseins, sodass die Phrase "es gibt (nicht)" aus seiner Perspektive mehrdeutig erscheint. So könnte man sagen, dass abstrakte Objekte im Gegensatz zu konkreten Objekten zwar nicht existieren, ihnen aber doch zumindest eine "dünnere", "schwächere" Art des Daseins zukommt: "Bestand" oder "Subsistenz".
(Meinong spricht sogar von einem noch dünneren "Außersein", das sich immer noch vom absoluten Nichtsein unterscheidet.)
Dann könnte man sagen, dass die Zahl 12 zwar nicht existiert, aber doch "besteht" oder "subsistiert".
Das große intellektuelle und logische Problem bei Meinongs Vervielfachung von Daseinsarten ist:

"I do not have the slightest idea what a difference in manner of existing is supposed to be."
———
"Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ein Unterschied in der Art zu existieren sein soll."

(Lewis, David. On the Plurality of Worlds. Oxford: Blackwell, 1986. p. 2)

"The concept of existence, however, cannot be relativized without destroying its meaning completely."
———
"Der Begriff der Existenz kann jedoch nicht relativiert werden, ohne dass seine Bedeutung vollständig zerstört wird."

(Gödel, Kurt. "A Remark about the Relationship Between Relativity and Idealistic Philosophy." In Albert Einstein: Philosopher-Scientist, edited by Paul Schilpp, 557-562. Open Court: La Salle, IL, 1949. 558)

Der Standpunkt, den ich oben als "Meinongianismus" bezeichne, verwendet die Phrase "es gibt" jedoch (wie alle vernünftigen Menschen) im eindeutigen Sinne, d.h. ohne die Annahme, dass es unterschiedliche Arten des Daseins gibt: Was (da) ist, existiert, und was existiert, ist (da)!

(Fußnote: Es geht hier um unterschiedliche Arten des Daseins/der Existenz, nicht um unterschiedliche Arten von Daseiendem/Existierendem.
Selbstverständlich gibt es viele Arten von Daseiendem/Existierendem, aber alles Daseiende/Existierende ist in ein und demselben Wortsinn daseiend/existierend.)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 20. Jun 2010, 08:35

So wie ich die Sache sehe, läuft sie im Kern auf die folgenden vier naturalismuskompatiblen Standpunkte hinaus:

Antiplatonistischer Realismus:

1. Physikalismus
2. Psychologismus

Antirealismus:

3. Fiktionalismus
4. Formalismus
[*

Was meine Wenigkeit betrifft, so zieht es mich als materialistischen Naturalisten am stärksten zum Fiktionalismus, vor allem, weil mir der semantische Konkretismus des mathematischen Physikalismus und Psychologismus völlig unplausibel erscheint, welchem zufolge (rein) mathematische Sätze nicht von abstrakten, sondern von konkreten (physischen oder mentalen) Objekten handeln.

[* "Full-blooded formalism is the doctrine that mathematics involves nothing but the manipulation of symbols according to certain rules. The symbols have no meaning whatever (and might therefore better be called 'characters'). This philosophy of mathematics evades many hard problems: it need say nothing about mathematical objects, since it denies that there are any, nor about the nature of mathematical truth, since it denies that mathematical formulas express propositions or are apt for assignment of truth-values. It also leaves it unclear what point there is in mathematics."
———
"Der vollblütige Formalismus besteht in der Lehre, dass die Mathematik in nichts weiter besteht als der regelgeleiteten Handhabung von Symbolen. Die Symbole haben keinerlei Bedeutung (und deswegen sollten sie vielleicht besser 'Schriftgestalten' genannt werden). Diese Philosophie der Mathematik entgeht vielen schwierigen Problemen: Sie braucht nichts über mathematische Objekte zu sagen, da sie bestreitet, dass es welche gibt, und auch nichts über das Wesen mathematischer Wahrheit, da sie bestreitet, dass mathematische Formeln Sachverhalte ausdrücken oder ihnen Wahrheitswerte zugeteilt werden können. Sie belässt auch den Zweck der Mathematik im Unklaren."

[© meine Übers.]
(Dummett, Michael. "The Philosophy of Mathematics." In Philosophy 2: Further through the Subject, edited by A. C. Grayling, 122-196. Oxford: Oxford University Press, 1998. p. 160)]
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Do 1. Jul 2010, 23:08

Herzlichen Dank, Myron, für die edle Speisekarte! Es fällt echt schwer, sich zu entscheiden!

M.E. ist Mathematik ein "reales Modell", und zwar so:

Eine menschliche Hand ist ein Modell von dem was sie greifen kann. In Ihr steckt eine gewisse "Vorstellung" von der Welt, in der sie gebraucht wird und auch eine gewisse "Verallgemeinerung" der vielen Gegenstände, die sie greifen kann und soll. Sie konnte sich nicht beliebig, zufällig entwickeln. Ihre Entwicklung hing einerseits von den Bedürfnissen des menschlichen Organismus ab. Andererseits spielen biologische, physikalische usw. Gegebenheiten ein Rolle. Ein Evolutionsprozess kann immer nur etwas weiterentwickeln. Es werden nicht plötzlich Hände mit Knochen aus Titan entstehen, obwohl das evtl. eine optimale Anpassung darstellen würde.

Die Hand stellt somit ein Wirklichkeitsmodell dar, ohne mit der Wirklichkeit ähnlich im üblichen Wortsinn zu sein, aber vollständig durch diese Wirklichkeit bestimmt. Ist nun diese Hand ein reales Objekt? - Ich würde sagen, ja. Sind die Dinge, die eine Hand als Modell darstellt, reale Objekte? - Ich würde sagen, ja. Genauso dürfte das mit den Modellen in unseren Köpfen laufen.

Die Zahl Pi ist ein Modell von etwas Realem, das wir mit diesem Begriff greifen wollen, von dem dieser Begriff handelt. Sie ist aber auch selbst etwas Reales - ein reales Modell, das in unserem Gehirn eine physische Existenz hat. Wie bei der Hand ist es nicht erforderlich, dass das Modell in einer Ähnlichkeitsbeziehung zur dargestellten Wirklichkeit steht.

Man braucht also nicht anzunehmen, dass die Zahl Pi außerhalb von unserem Denken existiert und kann ihr trotzdem Realität zugestehen. Man braucht auch nicht anzunehmen, dass das Modell der Zahl Pi unabhängig von der Außenwelt besteht, denn sie ist ja - genau wie die Hand - eine Anpassung an diese Außenwelt. Man braucht auch nicht anzunehmen, dass das Modell der Zahl Pi unabhängig von unserem Organismus existiert - nicht etwa nur nicht, weil der Organismus als "Speichermedium" dient, sondern weil die Zahl Pi ein Teil dieses Organismus ist und sich deshalb nur organisch und nicht beliebig aus ihm heraus entwicklen kann.

Hm - welche von deinen Leckereien würdest du mir empfehlen?
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Fr 2. Jul 2010, 09:56

Als Naturalist und Monist muss ich vom Organismus ausgehen - Mathematik muss sich irgendwie physisch erklären lassen. Mathematik ist natürlich ein weites Feld, aber ich denke, wenn man zeigen kann, dass sich die Grundlagen der Mathematik rein physisch erklären lassen, hat man auch die physische Natur der Mathematik gezeigt.

Ein elementares Beispiel wäre die logische Implikation : "Wenn A, dann B". Diese logische Struktur hat eine sehr große Ähnlichkeit zur Kausalität, weshalb sie auch oft damit verwechselt wird. Ich würde aber behaupten, dass die logische Implikation aus der Kausalitäserfahrung abegeleitet ist.

Stellen wir uns einen Einzeller vor, der im Meer lebt und sich durch Photosynthese ernährt. Er hat einen Regelkreis eingebaut, der ihn dazu veranlasst, dem Licht entgegen zu schwimmen, also nach oben zu steigen, wenn es nicht ausreicht ("wenn ..., dann ..."). der selbe Mechanismus schützt ihn vor zerstörerischer UV-Strahlung, wenn das Licht zu stark wird, sinkt er nach unten. Diese Funktion stellt immer ein Optimum an Lichteinstrahlung her. Sie stellt ein Modell verschiedener physikalischer Gegebenheiten - der kontinuierlich gegebenen Umwelt - dar. Würde diese Kontinuität gestört werden, würde das Modell versagen und der Organismus u.U. sterben. Z.B. wenn das Wasser in oberen Regionen eine tödliche Temperatur hätte. Jetzt kann der Organismus aber seinen Regelkreis, sein Modell verbessern, in dem er die Komplexität von ein Bit auf zwei Bit erhöht, und zusätzlich noch die Daten eines Temperatursensors einbezieht - "Wenn ... und wenn nicht ..., dann ...". usw., bis die Komplexität unseres Gehirns ereicht wird.

Irgendwann ist es dann dazu gekommen, dass Regelkreise nicht nur Daten von Umweltrezeptoren verarbeitet haben, sondern auch welche von anderen Regelkreisen innerhalb des Organismus. Dabei hat der Organismuss strukturelle Ähnlichkeiten "entdeckt", und hat sich an diese Kontinuitäten angepasst. Das heißt, er hat für seine eigenen Möglichkeiten nicht nur eine äußere Nische in der Umwelt, sondern auch eine innere Nische in sich selbt erschlossen, in die sich seine Strukur durch Evolution weiter hieneinwentwickelt hat. Diese inneren Kontinuitäten würde ich als "Abstraktionen" bezeichnen. Sie sind absolut reale Objekte, vollständig von der Bauart (also auch von den Restriktionen) des Organismus abhängig und stehen aber in einer ebenfalls realen Beziehung zur äußeren Wirklichkeit.

Eine solche innere Strukur wäre z.B. "Wenn..., dann ...". Der Organismus hat entdeckt, dass nicht nur Apfel 1 und Apfel 2 und Apfel n so ähnlich sind, dass sie als gleich, als eine Sache betrachtet werden können. Er hat entdeckt, dass auch "Wenn A, dann B" und "Wenn X, dann Y" usw. als eine Sache betrachtet werden können. So wurde die Kausalität entdeckt - besser gesagt, geschaffen, denn sie ist nur ein Werkzeug, dessen sich der Organismus bedient, es gehört dem Organismus an.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Sa 3. Jul 2010, 12:22

Warum Platonsimus nicht geht

Was ist die Zahl Zwei?

Bis vor kurzem dachte ich noch, dass man beim Zählen von der Identität der gezählten Objekte ausgehen müsse, man zähle Gleiches - "Zwei Eier". Wenn man so denkt, kommt man irgendwie nicht daran vorbei, das "Wesen einer Sache" oder so etwas anzunehmen. Denn es gleicht bekanntlich kein Ei dem anderen und deshalb müsste man dann von den Differenzen ein "Wesentliches" abstrahieren.

Mir scheint aber, es ist das Gegenteil der Fall. Wir können überhaubt nur Dinge zählen, die sich unterscheiden! Meist ist die Differenz eine räumliche. Der Grund, warum wir Dinge zusammen zählen, mag eine Ähnlichkeit ihrer Beschaffenheit sein, muss aber nicht. Wir können auch zwei verschiedene Gegenstände zählen, "ein Ei und ein Segelschiff sind zwei Dinge". Oder "ein Ei und ein Gedicht". Damit ist klar, dass das, was wir mit "zwei" meinen, keine Eigenschaft sein kann, die den gezählten Dingen anhaftet. "Zwei" ist eine Struktur im Regelkreis unseres Gehirnes, unseres Organismus.

Nun könnte man geneigt sein, zu sagen, "zwei" beziehe sich also auf nichts Wirkliches, doch dies wäre nicht berechtigt. Warum nicht? - Unser Organismus ist genauso in der Lage, auf Signale von Umweltrezeptoren zu reagieren, wie auf Signale, die aus seinem eigenen inneren kommen. Unser Gehirn besteht aus Neuronen, die sich trotz verschiedenster Aufgaben prinzipiell nicht unterscheiden - gut vergleichbar mit einem Computer, auf dem die unteschiedlichsten Anwendungen laufen können. Der Organismus kann sich sozusagen selbst erkunden und, wie oben schonmal gesagt, nicht nur auf Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen äußeren Dingen reagieren, sondern auch auf Ähnlichkeiten und Differenzen innerhalb seiner selbst. Denn die Signale, die im Gehirn zusammenlaufen, ob von innen oder von außen oder aus sich selbst, sind letzlich als elektrische Impulse qualitativ alle gleich. Der Zahl Zwei kann man also genau so viel Wirklichkeit zugestehen, wie einem Apfel. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Begriff "Apfel" ebenso nur ein Modell von dem ist, was wir damit meinen, modelliert in Form von neuronalen Zuständen.

"Zwei" wäre also etwas Wirkliches, aber nichts außerhalb unseres Geistes.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 4. Jul 2010, 12:27

ujmp hat geschrieben:Die Zahl Pi ist ein Modell von etwas Realem, das wir mit diesem Begriff greifen wollen, von dem dieser Begriff handelt. Sie ist aber auch selbst etwas Reales - ein reales Modell, das in unserem Gehirn eine physische Existenz hat. … Man braucht also nicht anzunehmen, dass die Zahl Pi außerhalb von unserem Denken existiert und kann ihr trotzdem Realität zugestehen.


1. "π" scheint für einen Gegenstand, d.i. die Zahl π, und nicht für einen Begriff, d.i. "π-heit", zu stehen.

2. Es ist zu unterscheiden zwischen (1) Zahlen als abstrakten (nichtsprachlichen und sprachunabhängigen) Dingen sui generis und (2) Ziffern, d.i. Zahlzeichen und -wörtern, wobei weiter zu unterschieden ist zwischen (2.1) abstrakten Zahlzeichen- oder Zahlworttypen und (2.2) konkreten Zahlzeichen- oder Zahlwortexemplaren.

Dass in unseren Köpfen konkrete Zahlzeichenexemplare vorkommen, steht außer Frage. Die Existenz abstrakter Zahlzeichentypen ist dagegen schon fraglicher, und ein konsequenter Nominalist wird sich damit nicht wirklich anfreunden können, wenngleich solche sprachabhängigen Abstrakta ontologisch akzeptabler und unproblematischer erscheinen als sprachunabhängige abstrakte Zahlen.

3. Was den "Modellcharakter" von π betrifft, so verhält es sich doch so, dass wir das Zahlzeichen "π" in Sätzen wie "Eine materielle Kugel hat ein Volumen von 4/3πr^3 m^3" verwenden, wobei z.B. das Prädikat "hat ein Volumen von 4/3π x 2 m^3" durchaus eine physikalische Eigenschaft repräsentiert.
Zahlzeichen werden bekanntlich immer dann in der Erfahrungswissenschaft verwendet, wenn es um die Bestimmung quantitativer Eigenschaften geht.
Man beachte aber, dass ein Ausdruck wie "4/3π x 2 m^3" kein Ausdruck der reinen, sondern der auf die Physik angewandten Mathematik ist. Und die Philosophie der Mathematik ist hauptsächlich die Philosophie der reinen Mathematik, welche sich mit den Fragen beschäftigt, worauf sich rein mathematische Ausdrücke (Zeichen) beziehen und wovon rein mathematische Sätze und Theorien handeln.

ujmp hat geschrieben:Hm - welche von deinen Leckereien würdest du mir empfehlen?


Da mir sowohl der mathematische Psychologismus als auch der mathematische Physikalismus höchst unglaubwürdig erscheinen, kann ich einem Naturalisten nur noch entweder den Formalismus oder den Fiktionalismus empfehlen. Allerdings muss man sich bei Letzterem erst an den sehr kontraintuitiven Gedanken gewöhnen, dass mathematische Aussagen wie "1 + 1 = 2" zwar nützlich aber falsch sind, da sie von fiktiven Objekten handeln. (Dass es so etwas wie "die π-Idee" geben mag, will der Fiktionalismus gar nicht bestreiten, sondern lediglich, dass "π" ein Name der π-Idee ist, und die Mathematik entsprechend von geistigen Gebilden ("Konstrukten") handelt. Ihm zufolge steht "π" schlicht für die Zahl π und "die π-Idee" für die π-Idee—was immer das genau sein mag.)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » So 4. Jul 2010, 13:19

ujmp hat geschrieben:Was ist die Zahl Zwei?
…Wir können überhaubt nur Dinge zählen, die sich unterscheiden!


Zählbarkeit setzt logischerweise numerische, aber nicht unbedingt qualitative Verschiedenheit voraus.
Wir können sehr wohl auch einzelne Dinge zählen, die einander vollkommen gleichen, wobei wir dabei allerdings im Mikrokosmos, d.h. im Bereich der Elementarteilchen, an Grenzen stoßen. (http://plato.stanford.edu/entries/qt-idind)

ujmp hat geschrieben:Meist ist die Differenz eine räumliche.


Das geht von der Voraussetzung aus, dass zwei Dinge nicht zur selben Zeit denselben Raumbereich besetzen können.
(Es scheint jedoch quantenphysikalische Gegenbeispiele zu geben. Stichwort: Bose-Einstein-Kondensat.)

ujmp hat geschrieben:Der Grund, warum wir Dinge zusammen zählen, mag eine Ähnlichkeit ihrer Beschaffenheit sein, muss aber nicht. Wir können auch zwei verschiedene Gegenstände zählen, "ein Ei und ein Segelschiff sind zwei Dinge". Oder "ein Ei und ein Gedicht".


Wir können in der Tat sowohl gleichartige als auch ungleichartige Dinge zusammenzählen.
Auf die unbestimmte Frage, wie viele Dinge in deinem Wohnzimmer vorhanden sind, könntest du aber keine eindeutige Antwort geben, solange du nicht weißt, wie viele Dinge von welcher Art von Dingen du zählen sollst.
(Zum Beispiel könntest du mit der Frage, wie viele Stühle in deinem Wohnzimmer stehen, konkret etwas anfangen.)

ujmp hat geschrieben:Damit ist klar, dass das, was wir mit "zwei" meinen, keine Eigenschaft sein kann, die den gezählten Dingen anhaftet.


Für Gottlob Frege sind Zahlen (im Sinne von Anzahlen) keine Eigenschaften von Gegenständen oder Gruppen von Gegenständen, sondern von Begriffen. Er liest also z.B. "Es gibt acht Planeten in unserem Sonnensystem" [vor dem bedauerlichen "Rausschmiss" Plutos waren es neun] als "Der Begriff <Planet unseres Sonnensystems> hat die Eigenschaft der Achtzahligkeit", was bedeutet, dass acht Gegenstände unter diesen Begriff fallen.
Im Gegensatz dazu behauptet z.B. der zeitgenössische englische Philosoph Jonathan Lowe, dass Zahlen Eigenschaften von Gegenständen oder Gruppen von Gegenständen seien. Er liest also z.B. "Auf dem See schwimmen zwölf Schwäne" als "Die auf dem See schwimmenden Schwäne haben (als Gruppe) die Eigenschaft des Zwölf-Seins/Zwölf-Dinge-Seins".

ujmp hat geschrieben: "Zwei" ist eine Struktur im Regelkreis unseres Gehirnes, unseres Organismus.


Das denke ich nicht.

ujmp hat geschrieben:Der Zahl Zwei kann man also genau so viel Wirklichkeit zugestehen, wie einem Apfel. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Begriff "Apfel" ebenso nur ein Modell von dem ist, was wir damit meinen, modelliert in Form von neuronalen Zuständen. "Zwei" wäre also etwas Wirkliches, aber nichts außerhalb unseres Geistes.


Äpfel sind keine Begriffe, und der Begriff <Apfel> ist kein Apfel.
Wenn sich der Ausdruck "(die Zahl) 2" auf etwas "innerhalb unseres Geistes" bezieht, dann muss man nachfragen, um was genau es sich dabei handelt. Wenn sich die Ziffer "2" auf ein mentales Objekt bezieht, dass wir "die 2-Vorstellung" nennen, dann besteht das Problem, dass jeder von uns seinen eigenen Kopf/Geist hat und sich somit die Frage stellt, in wessen Kopf/Geist sich die 2-Vorstellung denn befindet. Falls jeder eine eigene 2-Vorstellung in seinem Kopf/Geist hat, dann gibt es die 2-Vorstellung nämlich überhaupt nicht, sondern so viele 2-Vorstellungen, wie es mathematikkundige Menschen gibt.
Außerdem scheitert der mathematische Psychologismus an den Unendlichkeiten der Mathematik. Psychologistisch interpretiert, ist ein Theorem wie "Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen" zu lesen als "Es gibt unendlich viele Vorstellungen natürlicher Zahlen in unseren Köpfen/Geistern". Doch dass darin tatsächlich Platz für derart viele Zahlvorstellungen (Zahlideen) ist, ist praktisch ausgeschlossen:

"To give just one argument here, it seems that psychologism is just as incapable as physicalism is of dealing with the huge infinities in mathematics. As was just seen, standard set theories entail that there actually exist huge infinities of mathematical objects. But it's just not believable that there are that many ideas in our heads. Indeed, it seems clear that there are only finitely many ideas in our heads. Therefore, it is not plausible to maintain that the claims of set theory are made true by mental objects."

(http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... Pre4PhyPsy)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » So 4. Jul 2010, 19:31

Myron hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Der Zahl Zwei kann man also genau so viel Wirklichkeit zugestehen, wie einem Apfel. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Begriff "Apfel" ebenso nur ein Modell von dem ist, was wir damit meinen, modelliert in Form von neuronalen Zuständen. "Zwei" wäre also etwas Wirkliches, aber nichts außerhalb unseres Geistes.


Äpfel sind keine Begriffe, und der Begriff <Apfel> ist kein Apfel.
Wenn sich der Ausdruck "(die Zahl) 2" auf etwas "innerhalb unseres Geistes" bezieht, dann muss man nachfragen, um was genau es sich dabei handelt. Wenn sich die Ziffer "2" auf ein mentales Objekt bezieht, dass wir "die 2-Vorstellung" nennen, dann besteht das Problem, dass jeder von uns seinen eigenen Kopf/Geist hat und sich somit die Frage stellt, in wessen Kopf/Geist sich die 2-Vorstellung denn befindet. Falls jeder eine eigene 2-Vorstellung in seinem Kopf/Geist hat, dann gibt es die 2-Vorstellung nämlich überhaupt nicht, sondern so viele 2-Vorstellungen, wie es mathematikkundige Menschen gibt.


Es ist kein Problem, sondern eine Lösung für das Problem, das der Platonismus mit sich bringt. Ich kann doch auch sagen, dass jeder Mensch eine Lunge hat - jeder seine eigene - ohne "die Lunge" annehmen zu müssen. In jedem Kopf befindet sich dementsprechend eine neuronaler Zustand, der "zwei" repräsentiert (sei es hard- oder software). Wenn ich nicht schon voraussetze, dass "zwei" unabhängig von meinem Geist existiert, habe ich an dieser Stelle jedenfalls noch keinen Anlass, dies anzunehmen.

Myron hat geschrieben:Außerdem scheitert der mathematische Psychologismus an den Unendlichkeiten der Mathematik. Psychologistisch interpretiert, ist ein Theorem wie "Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen" zu lesen als "Es gibt unendlich viele Vorstellungen natürlicher Zahlen in unseren Köpfen/Geistern". Doch dass darin tatsächlich Platz für derart viele Zahlvorstellungen (Zahlideen) ist, ist praktisch ausgeschlossen:

"To give just one argument here, it seems that psychologism is just as incapable as physicalism is of dealing with the huge infinities in mathematics. As was just seen, standard set theories entail that there actually exist huge infinities of mathematical objects. But it's just not believable that there are that many ideas in our heads. Indeed, it seems clear that there are only finitely many ideas in our heads. Therefore, it is not plausible to maintain that the claims of set theory are made true by mental objects."


Mein Hand kann doch auch unendlich viele verschiedene Gegenstände fassen, wie sollte mein Gehirn nicht unendlich viele natürliche Zahlen fassen können? Es besteht ja keine Notwendigkeit, alles auf einmal zu fassen. Davon abgesehen ist "Unendlichkeit" ein theoretisches Konstrukt, das falsch sein kann. "Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen" ist eigentlich zu lesen als "Es ist keine Begrenzung der natürlichen Zahlen denkbar, daher gehen wir davon aus, dass es keine Begrenzung gibt. Was keine Begrenzung hat nennen wir 'unendlich'." Man kann aber das Kriterium der Denkbarkeit nicht als Beweis heranziehen.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Di 6. Jul 2010, 17:44

Myron hat geschrieben:Für Gottlob Frege sind Zahlen (im Sinne von Anzahlen) keine Eigenschaften von Gegenständen oder Gruppen von Gegenständen, sondern von Begriffen. Er liest also z.B. "Es gibt acht Planeten in unserem Sonnensystem" [vor dem bedauerlichen "Rausschmiss" Plutos waren es neun] als "Der Begriff <Planet unseres Sonnensystems> hat die Eigenschaft der Achtzahligkeit", was bedeutet, dass acht Gegenstände unter diesen Begriff fallen.

Daran habe ich nichts auszusetzen. Zahlen sind für ihn Teil eines Modells, zusammen mit anderen Begriffen.

Myron hat geschrieben:Im Gegensatz dazu behauptet z.B. der zeitgenössische englische Philosoph Jonathan Lowe, dass Zahlen Eigenschaften von Gegenständen oder Gruppen von Gegenständen seien. Er liest also z.B. "Auf dem See schwimmen zwölf Schwäne" als "Die auf dem See schwimmenden Schwäne haben (als Gruppe) die Eigenschaft des Zwölf-Seins/Zwölf-Dinge-Seins".

"Ein Schwan, die Wochentage, die Drei Musketiere und die Abseitsregel" haben dann auch die Eigenschaft des "Zwölfseins"? Und haben "Max und Moritz" die Eigenschaft des "Undseins"? - Hört sich nicht sehr vernünftig an! Es bedeutet nämlich, dass jeder Gegenstand die Eigenschaft jeder Zahl hätte, jede sogar unendlich oft. Von "Eigenschaft" ist dann nicht mehr zu reden. Das "Nullsein" fiele höchstens raus...
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » Do 8. Jul 2010, 12:54

ujmp hat geschrieben:In jedem Kopf befindet sich dementsprechend eine neuronaler Zustand, der "zwei" repräsentiert (sei es hard- oder software). Wenn ich nicht schon voraussetze, dass "zwei" unabhängig von meinem Geist existiert, habe ich an dieser Stelle jedenfalls noch keinen Anlass, dies anzunehmen.


Sicher, meiner Vorstellung der Zwei entspricht ein Nervenzustand meines Gehirns. Doch die entscheidende Frage ist, ob die Zwei als mein Vorstellungsgegenstand bloß imaginär ist oder nicht. Den Psychologisten nach ist sie genau deshalb nicht imaginär, weil sie mit der Vorstellung der Zwei identisch ist, welche selbst psychisch real ist. Aber die Gleichsetzung von Zahlen mit unseren Vorstellungen davon führt zu Problem, die den Psychologismus höchst unglaubhaft erscheinen lassen:

"Wäre die Zahl eine Vorstellung, so wäre die Arithmetik Psychologie. Das ist sie so wenig, wie etwa die Astronomie es ist. Wie sich diese nicht mit den Vorstellungen der Planeten, sondern mit den Planeten selbst beschäftigt, so ist auch der Gegenstand der Arithmetik keine Vorstellung. Wäre die Zwei eine Vorstellung, so wäre es zunächst nur die meine. Die Vorstellung eines Andern ist schon als solche eine andere. Wir hätten dann vielleicht zwei Millionen Zweien. Man müsste sagen: meine Zwei, deine Zwei, eine Zwei, alle Zweien. Wenn man latente oder unbewusste Vorstellungen annimmt, so hätte man auch unbewusste Zweien, die dann später wieder bewusste würden. Mit den heranwachsenden Menschen entständen immer neue Zweien, und wer weiß, ob sie sich nicht in Jahrtausenden so veränderten, dass 2 x 2 = 5 würde. Trotzdem wäre es zweifelhaft, ob es, wie man gewöhnlich meint, unendlich viele Zahlen gäbe. Vielleicht wäre 10^10 nur ein leeres Zeichen, und es gäbe gar keine Vorstellung, in irgendeinem Wesen, die so benannt werden könnte.
Wir sehen, zu welchen Wunderlichkeiten es führt, wenn man den Gedanken etwas weiter ausspinnt, dass die Zahl eine Vorstellung sei."


(Frege, Gottlob. Die Grundlagen der Arithmetik. 1884. Hrsg. v. Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam, 1987. §27)

[PDF-DOWNLOAD]

ujmp hat geschrieben:Mein Hand kann doch auch unendlich viele verschiedene Gegenstände fassen, wie sollte mein Gehirn nicht unendlich viele natürliche Zahlen fassen können? Es besteht ja keine Notwendigkeit, alles auf einmal zu fassen. Davon abgesehen ist "Unendlichkeit" ein theoretisches Konstrukt, das falsch sein kann. "Es gibt unendlich viele natürliche Zahlen" ist eigentlich zu lesen als "Es ist keine Begrenzung der natürlichen Zahlen denkbar, daher gehen wir davon aus, dass es keine Begrenzung gibt. Was keine Begrenzung hat nennen wir 'unendlich'." Man kann aber das Kriterium der Denkbarkeit nicht als Beweis heranziehen.


Der Begriff der Unendlichkeit ist selbst nicht unendlich, sodass wir die Unendlichkeit mit unserem endlichen geistigen Fassungsvermögen durchaus erfassen können.
Du hast insofern recht, als die Psychologisten, zu denen auch die Konstruktivisten zählen, das Vorhandensein unendlich vieler Zahlen bzw. Zahlvorstellungen als einer aktual-unendlichen Menge bestreiten:

"Constructive mathematics is distinguished from its traditional counterpart, classical mathematics, by the strict interpretation of the phrase 'there exists' as 'we can construct'."

(http://plato.stanford.edu/entries/mathe ... nstructive)

Das heißt, eine Zahl bzw. eine Zahlvorstellung existiert erst dann, wenn sie geistig hervorgebracht worden ist.
(Wenn Zahlen Vorstellungen wären, dann wäre dies natürlich wahr, da Vorstellungen Geisteszustände sind.)
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » Do 8. Jul 2010, 13:29

ujmp hat geschrieben:"Ein Schwan, die Wochentage, die Drei Musketiere und die Abseitsregel" haben dann auch die Eigenschaft des "Zwölfseins"? Und haben "Max und Moritz" die Eigenschaft des "Undseins"? - Hört sich nicht sehr vernünftig an! Es bedeutet nämlich, dass jeder Gegenstand die Eigenschaft jeder Zahl hätte, jede sogar unendlich oft. Von "Eigenschaft" ist dann nicht mehr zu reden. Das "Nullsein" fiele höchstens raus...


Wenn natürliche Zahlen Eigenschaften von Gegenständen sind, dann doch wohl eher von Mengen. Diese besitzen eine bestimmte Mächtigkeit, und man könnte sagen, dass eine Menge mit zwölf Mitgliedern die Eigenschaft der Zwölfheit (d.h. die Mächtigkeit 12) besitzt, wobei die Menge natürlich nicht zwölf Dinge ist, sondern nur ein Ding, da eine Menge mit zwölf Mitgliedern nicht mit diesen identisch ist.
So könnte man auch die Null unterbringen, da eine leere Menge, d.i. eine Menge mit der Eigenschaft der Nullheit, keine nichtseiende Menge ist, wohingegen eine Gruppe ohne Mitglieder eine nichtseiende Gruppe ist.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Sa 17. Jul 2010, 22:26

Myron hat geschrieben:"Wäre die Zahl eine Vorstellung, so wäre die Arithmetik Psychologie. Das ist sie so wenig, wie etwa die Astronomie es ist. Wie sich diese nicht mit den Vorstellungen der Planeten, sondern mit den Planeten selbst beschäftigt, so ist auch der Gegenstand der Arithmetik keine Vorstellung. Wäre die Zwei eine Vorstellung, so wäre es zunächst nur die meine. Die Vorstellung eines Andern ist schon als solche eine andere..."
(Frege, Gottlob. Die Grundlagen der Arithmetik. 1884. Hrsg. v. Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam, 1987. §27)

Frege klingt hier ein wenig nach "es kann nicht sein, was nicht sein darf". Was ist dagegen einzuwenden, das jeder seine eigene Zwei hat? M.E. gehören Zahlen Funktionen an, die zum Organismus gehören und keine äußere Exsitenz haben. Frege sagst selbst irgendwo, dass die Grundlage der Mathematik die Logik ist. Ich denke, dass die logischen Funktionen fest verdrahtet in uns eingebaut sind.

Damit ein Organsimus lernfähig ist, muss er eine Vergleichsfunktion haben, die ermittelt, ob bestimmte Signale die ihn erreichen sich ähnlen oder nicht. Er muss feststellen können, ob ein Signal eine Wiederholung ist, eine Kontinuität. Diese Funktion liefert dann ein Ja oder ein Nein. Es ist vollkommen unproblematisch anzunehmen, dass jeder Mensch eine eigene Kopie dieser Funktion in sich hat.

Neben Funktionen, die Signale von außerhalb des Organismus verarbeiten gibt es auch Funktionen, die Signale von anderen, inneren Funktionen verarbeiten. Nicht nur die Zahlen, unsere gesammte Begriffswelt wird m.E. aus solchen inneren Funtionen gebildet.

"Zwei" ist der Name für "etwas und etwas anderes". "Drei" für "etwas und etwas anderes und ein weiteres, das anders ist als des eine und das andere" - usw. Zahlen sind Muster von Ergebnissen der Vergleichsfunktion, die dann wieder in eine Vergleichsfunktion eingespeist werden und, da sich diese Muster wiederholen, ebenso als Kontinuitäten wahrgenommen werden, wie der tägliche Sonnenaufgang. Zahlen sind einfache Namen für komplexere Muster logischer Strukturen.

Es ist sogar denkbar, dass ein Mensch nicht nur eine eigene Zwei hat, sondern mehrere, sogar unzählige. Das Gehirn funktioniert ja nicht wie eine CPU, die alle Informationseinheiten nacheinander durchnudelt. Es ist ein Netzwerk, in dem sehr viele Dinge gleichzeitig geschehen. Dass logische Grundmuster bis zu einer gewissen Komplexität dabei mehrfach gleichzeitig verarbeitet werden, ist sogar ziemlich wahrscheinlich.

Dass Zwei und Zwei gleich Vier ist, sagt m.E. nichts über eine äußere Wirklichkeit aus, sondern nur etwas darüber, wie unser Gehirn funktionert. Die Grenzen dieses Werkzeuges zeigen sich z.B. bei der Zahl Pi. Obwohl das Verhältnis von Kreisdurchmesser zu Kreisumfang eindeutig ist, können wir es nicht eindeutig in einer Zahl ausdrücken. Unsere Zahlen eigenen sich nur dazu, Pi als eine Näherung anzugeben.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » So 18. Jul 2010, 09:45

Die Idee, dass ein Organismus ein Modell der Welt ist, in der er lebt, hatte ich mal von hier: Konrad Lorenz, Sir Karl Popper 1983 - Nichts ist schon dagewesen

Und hier (Teil 2,ab 2:25 "internes Modell"): Künstliche Intelligenz und Robotik - 3sat scobel
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » Mo 19. Jul 2010, 16:16

ujmp hat geschrieben:Was ist dagegen einzuwenden, das jeder seine eigene Zwei hat? M.E. gehören Zahlen Funktionen an, die zum Organismus gehören und keine äußere Exsitenz haben.


Soweit ich weiß, hat noch kein Pathologe bei einer Autopsie Zahlen entdeckt. ;-)

ujmp hat geschrieben:Frege sagst selbst irgendwo, dass die Grundlage der Mathematik die Logik ist. Ich denke, dass die logischen Funktionen fest verdrahtet in uns eingebaut sind.


Die Logik ist für Frege keine psychologische Disziplin, die unsere tatsächlichen Denkvorgänge untersucht und beschreibt, sondern wie die Ethik eine normative Disziplin, die vorschreibt, wie man zu schlussfolgern hat, wenn man wahrheitsgetreu denken will.
Und wie die Erfahrung lehrt, ist uns folgerichtiges Denken keineswegs angeboren.

ujmp hat geschrieben:Damit ein Organsimus lernfähig ist, muss er eine Vergleichsfunktion haben, die ermittelt, ob bestimmte Signale die ihn erreichen sich ähnlen oder nicht. Er muss feststellen können, ob ein Signal eine Wiederholung ist, eine Kontinuität.


Die Fähigkeit zur Erkennung von Ähnlichkeiten und Gleichheiten sowie von deren Gegenteilen ist sicher naturgegeben.

ujmp hat geschrieben:"Zwei" ist der Name für "etwas und etwas anderes". "Drei" für "etwas und etwas anderes und ein weiteres, das anders ist als des eine und das andere" - usw.


"Zwei Dinge" bedeutet in der Tat "zwei verschiedene Dinge", aber das macht "Zwei" nicht zum Namen der Beziehung der Verschiedenheit (Nichtidentität).

ujmp hat geschrieben:Zahlen sind Muster von Ergebnissen der Vergleichsfunktion, die dann wieder in eine Vergleichsfunktion eingespeist werden und, da sich diese Muster wiederholen, ebenso als Kontinuitäten wahrgenommen werden, wie der tägliche Sonnenaufgang.


Der Organismus verarbeitet Reize, aber keine Zahlen.
(Computer verarbeiten genauso wenig Nullen und Einsen.)

ujmp hat geschrieben:Dass Zwei und Zwei gleich Vier ist, sagt m.E. nichts über eine äußere Wirklichkeit aus, sondern nur etwas darüber, wie unser Gehirn funktionert.


Wenn sich also unser Gehirn naturgeschichtlich anders entwickelt hätte, dann hätte es z.B. sein können, dass 2 + 2 = 5?

"…Sonst kommen wir noch dahin, dass man beim Beweise des pythagoräischen Lehrsatzes es nötig findet, des Phosphorgehaltes unseres Gehirnes zu gedenken, und dass ein Astronom sich scheut, seine Schlüsse auf längst vergangene Zeiten zu erstrecken, damit man ihm nicht einwende: "Du rechnest da 2 x 2 = 4; aber die Zahlvorstellung hat ja eine Entwickelung, eine Geschichte! Man kann zweifeln, ob sie damals schon so weit war. Woher weißt du, dass in jener Vergangenheit dieser Satz schon bestand? Könnten die damals lebenden Wesen nicht den Satz 2 x 2 = 5 gehabt haben, aus dem sich erst durch natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein der Satz 2 x 2 = 4 entwickelt hat, der seinerseits vielleicht dazu bestimmt ist, auf demselben Wege sich zu 2 x 2 = 3 fortzubilden?" Est modus in rebus, sunt certi denique fines! Die geschichtliche Betrachtungsweise, die das Werden der Dinge zu belauschen und aus dem Werden ihr Wesen zu erkennen sucht, hat gewiss eine große Berechtigung; aber sie hat auch ihre Grenzen."

(Frege, Gottlob. Die Grundlagen der Arithmetik. 1884. Hrsg. v. Joachim Schulte. Stuttgart: Reclam, 1987. Einl.)

Wir sollten Folgendes auseinanderhalten:

1. Die Geschichte der Mathematik

1.1 Die (Evolutions-)Psychologie des Zählens und Rechnens

1.2. Die (historische und systematische) Semiotik von Zahlzeichensystemen

2. Die Ontologie (Referenzsphäre) der (reinen) Mathematik

Und was (2) anbelangt, so bin ich der Auffassung, dass "2" weder für eine konkret-physische noch für eine konkret-psychische Entität steht, sondern für eine abstrakte: die Zahl 2.
Da ich als Naturalist überdies meine, dass es keine abstrakten mathematischen Entitäten gibt, ist die Zahl 2 für mich ein fiktives Objekt, ein unwirkliches "Gedankending" (was nicht heißen soll, dass sie "in meinen Gedanken existiert").
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon ujmp » Mo 19. Jul 2010, 18:08

Myron hat geschrieben:
ujmp hat geschrieben:Was ist dagegen einzuwenden, das jeder seine eigene Zwei hat? M.E. gehören Zahlen Funktionen an, die zum Organismus gehören und keine äußere Exsitenz haben.

Soweit ich weiß, hat noch kein Pathologe bei einer Autopsie Zahlen entdeckt. ;-)

Müssen halt richtig gucken! Hier ist eine:

Bild

:mg:
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Dissidenkt » Mo 19. Jul 2010, 21:34

Myron hat geschrieben:Wenn sich also unser Gehirn naturgeschichtlich anders entwickelt hätte, dann hätte es z.B. sein können, dass 2 + 2 = 5?


Wenn 1+1+1+1=5, dann wäre auch 2+2=5 wahr. Zumindest als sprachliche Interpretation einer wahrgenommenen Realität. Wir würden dann vielleicht 1 2 3 5 4 6 7 8 9 10 zählen. Die Ziffern sind doch nur geistige Begriffe für reale Erscheinungen.

Myron hat geschrieben:Und was (2) anbelangt, so bin ich der Auffassung, dass "2" weder für eine konkret-physische noch für eine konkret-psychische Entität steht, sondern für eine abstrakte: die Zahl 2.
Da ich als Naturalist überdies meine, dass es keine abstrakten mathematischen Entitäten gibt, ist die Zahl 2 für mich ein fiktives Objekt, ein unwirkliches "Gedankending" (was nicht heißen soll, dass sie "in meinen Gedanken existiert").


Das sehe ich auch so - wenn ich dich richtig verstanden habe :mg:
"2" ist nur ein Begriff für die Wahrnehmung von etwas mehr als Eins (Objekt,Ereignis,....)
Dennoch steht dieser fiktive Begriff für eine verifizierbare Realität und hat deshalb für mich eine "wirkliche" Entsprechung ausserhalb meiner Gedanken.
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Re: Naturalismus und (Philosophie der) Mathematik

Beitragvon Myron » Mo 19. Jul 2010, 22:30

Dissidenkt hat geschrieben:"2" ist nur ein Begriff für die Wahrnehmung von etwas mehr als Eins (Objekt,Ereignis,....)
Dennoch steht dieser fiktive Begriff für eine verifizierbare Realität und hat deshalb für mich eine "wirkliche" Entsprechung ausserhalb meiner Gedanken.


Die Ziffer "2" steht als Eigenname nicht für einen Begriff, sondern für einen bestimmten Gegenstand: die Zahl 2.
Man kann auch vom Begriff <Zweiheit> sprechen, wobei sich allerdings die Frage stellt, was—falls überhaupt irgendwas—in der Realität die Eigenschaft der Zweiheit besitzt. (Begriffe repräsentieren Eigenschaften, wobei nicht jeder Begriff eine existente, reale Eigenschaft repräsentiert.)
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