Re: Ist der Evolutionsglaube eine Religion?
Verfasst: Di 23. Jun 2009, 15:05
Mark hat geschrieben: Was ist denn eine "natürliche" Selektion im Bezug auf wissenschaftliche Hypothesen ? Das ist so wie von einer natürlichen Atombombe zu sprechen !
Da wird Kraut und Rüben vermischt, daß nur so die Fetzen fliegen, und dann stolzgeschwellter Brust erklärt man habe irgendeine bahnbrechende Erkenntnis getätigt, weil man erkannt habe daß Planeten um die Sterne kreisen so wie Elektronen um die Atomkerne, und deshalb bedeutungsvoll prophezeien, daß darum wohl auf den Elektronen ebenfalls mit dem Auftreten von "Jahreszeiten" zu rechnen sei, wobei dies noch viel näher dran wäre an einer möglichen Falsifikation als all das was Mersch so selbst hypothetisiert !
Herrje, warum tönst du herum, wenn du dich auf dem Gebiet nicht auskennst? Zu all dem gibt es innerhalb der Wissenschaftstheorie eine breite Diskussion, kann man bei Popper, Vollmer etc. nachlesen. Mersch zitiert in seinem Buch den Grundgedanken gemäß Thagard (1993) wie folgt:
Scientists generate theories, hypothesis, and concepts; only a few of these variations are judged to be advances over existing views, and these are selected; the selected theories and concepts are transmitted to other scientists through journals, textbooks, and other pedagogic measures.
um dann den Gedanken zu verwerfen und die wirklichen Mechanismen aufzudecken (siehe mein gestriges Posting).
Dennett nennt Evolutionen, die sich gemäß solchen Prinzipien entwickeln, als "Evolutions by natural Selection". Du kannst dich doch hier nicht an Begriffen stören, wenn sie in den entsprechenden Wissenschaften breit verwendet werden!
Mark hat geschrieben: Den bis jetzt formulierten Gesetzen der Evolution folgend kann man sehr wohl durch die Untersuchung von Verbreitungen bestimmter Erbinformationen mathematische Vorhersagen machen bzw diese bestätigen.
Vorhersagen? Man kann sicherlich prognostizieren, wie es sich entwickeln würde, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern. Ansonsten ist Evolution nicht vorhersagbar.
Entsprechende Prognosen erlaubt natürlich auch die Merschsche Theorie, und zwar besser, als das bislang möglich war. Denn immerhin kann er erklären, warum es in menschlichen Gesellschaften zum Central Theoretical Problem of Human Sociobiology kommt, was gemäß Darwin eigentlich nicht möglich sein sollte.
Mark hat geschrieben: Und worin bestünde denn bitteschön genau die Neuerung in der Überlegung von Mersch, wenn man mal dieses unsinnige "Reproduktionsinteresse" aussen vor lässt, welches ja sowieso nur einen Teilfaktor darstellt und zusammen mit zahlreich formulierbaren anderen die Fitness bildet ?
Das Reproduktionsinteresse ist nicht Teil der Fitness. Es beeinflusst stark den Reproduktionserfolg, es ist aber nicht Teil der Fitness. Irgendwo muss in einer Evolutionstheorie ein Bezug zum Lebensraum hergestellt werden, sodass man von einer Anpassung sprechen kann. Das Reproduktionsinteresse gehört nicht dazu, der reine Fortpflanzungserfolg natürlich auch nicht. Der würde nur ein Indikator für Fitness (Anpassung) sein, wenn man implizit davon ausgeht, dass alle Individuen das gleiche Fortpflanzungsinteresse besitzen. Mersch zweifelt das an.
Mark hat geschrieben: Darüber nachsinnieren, daß in der menschlichen Gesellschaft und in der Wirtschaft / Wissenschaft auch ähnliche Gesetzmäßigkeiten vorherrschen wie bei "Fressen und gefressen werden" ist ja wohl wahrlich nichts weltbewegendes.
Ja weil du aus lauter Arroganz nicht zuhörst. Der Sozialdarwinismus hat gemeint, menschliche Gesellschaften würden genauso evolvieren wie es in der Natur der Fall ist, und zwar auf Basis eines Fressen und Gefressen-werdens oder anders ausgedrückt: Auf Basis eines Kampfes ums Dasein. Deshalb mache es nichts, wenn man Juden eins über die Rübe gibt, das seien dann eben die Schwachen gewesen.
Mersch hat damit aufgeräumt. Er zeigt, dass ein großer Unterschied zwischen der natürlichen Selektion und der sexuellen Selektion in der Art und Weise besteht, wie Ressourcen erlangt werden. Bei der natürlichen Selektion wählt derjenige, der die Ressource haben will. Mersch nennt das dominant. Anders bekannt ist dies als Fressen und Gefressen werden (Kampf ums Dasein). Bei der sexuellen Selektion wählt aber der aktuelle Ressourceninhaber denjenigen Bewerber, der sie haben will und der gefällt. Mersch nennt das Gefallen-wollen-Kommunikation. Das Pendant zur natürlichen Selektion bei der sexuellen Paarung ist für ihn die Haremsbildung, nicht die sexuelle Selektion! Allein schon mit solch banalen Unsauberkeiten in den Biowissenschaften räumt er radikal auf.
Er zeigt nun, dass auf Basis der Gefallen-wollen-Kommunikation sehr leicht neue Lebensräume (Evolutionsräume) entstehen können, in denen eigenständige Evolutionen ablaufen können. Ein Beispiel ist für ihn die Marktwirtschaft: Jeder einzelne Markt ist für ihn ein Evolutionsraum, in dem Populationen aus Unternehmen per Gefallen-wollen-Kommunikation um die Ressource Geld der Kunden im Wettbewerb stehen, die anhand von deren Produkte selektieren. Das bringt u.a. die Evolution der Technik hervor. Ein anderes Beispiel ist die Demokratie (Populationen aus Parteien, Gefallen-wollen-Kommunikation, Wettbewerb um Wählerstimmen etc.), ein noch anderes die Wissenschaftsdisziplinen (habe ich schon erklärt, musst du nur lesen).
Eine seine markantesten Thesen ist: Der Prozess der Zivilisation im Sinne von Norbert Elias ist nichts anderes als die sukzessive Umstellung fast aller dominanten Selektionen in die Gefallen-wollen-Kommunikation. Je höher deren Anteil an den gesellschaftlichen Selektionen ist, desto zivilisierter ist eine Gesellschaft.
Sorry, aber das sind bahnbrechende Thesen und Erkenntnisse, die so vorher noch niemand geäußert hat. Und meines Erachtens ist das vom Kern her korrekt. Es ist auch nicht so fürchterlich weit von Darwin entfernt. Auch kommt er ganz ohne metaphysische Konstrukte wie Meme aus.