Ich verstehe deine Argumentation sehr gut und kann sie auch sehr gut nachvollziehen. Jeder von uns hat sich schon oft über pauschale Parolen geärgert, das geht mir nicht anders, insofern ist dein Reflex angebracht. Vielleicht erwecke ich bisweilen den Eindruck, als habe ich mich nicht wirklich damit befasst. Das stimmt aber nicht.
Selbstverständlich gibt es eine große Spannbreite an Auslegungen und es ist in Wahrheit vermutlich unmöglich, sie überhaupt zu klassifizieren. Ich gehe davon aus, dass die meisten Gläubigen in Deutschland vielmehr „kulturelle Christen“ sind und dann durch Zusatz eines vagen Glaubens dem Christentum zugerechnet werden, obwohl ihr Glauben möglicherweise inkompatibel dazu ist (Beispielsweise Glaube an unpersönliche Gott-Macht, nicht-glaube an Jesus). Das spielt allerdings letztlich keine Rolle und die Fixierung auf irgendwelche Glaubensgemeinschaften sind für mich aus mehreren Gründen unverständlich.
- Glaube ist immer Privatsache und subjektiv. Es ist praktisch unmöglich festzustellen, ob zwei Gläubige genau dasselbe glauben. Dazu eine absurde Forderung zu verlangen, sich in Fantasie-Welten zu begeben um auf der Basis dann sinnvoll argumentieren zu können. Das einzige, was dann gesagt wäre, ob betreffende Person religiös motivierte intolerante Ansichten hegt oder nicht; kaum etwas über die betreffende Religion selbst.
- Entsprechend ist es gleichgültig, was jemand konkret glaubt. Der Gegenstand ist die Ideologie, wie sie sich konkret und praktisch darstellt, sowohl aktuell als auch geschichtlich betrachtet. Anders gesagt: es wird auch nicht jeder Neo-Nazi einzeln befragt, ob nur wegen des Gemeinschaftsgefühls dabei ist, ob er die Ästhetik anziehend findet, oder ob er einer bestimmten Rassenideologie glaubt und dann welcher, in welcher Ausprägung. Diesen Eiertanz führt man exklusiv bei Religionen auf. Letztlich geht es nicht um irgendein Individuum, sondern um Konzepte und Ideologien.
- Ich vermute einen Fehlschluss in der Argumentation. Es wird so getan, als handele es sich um ein fremdbestimmtes Stereotyp, das jemandem aufgedrückt wird, dass dann mit extremen Positionen verknüpft wird. Wer der Meinung ist, dass die christliche Tradition nicht tragbar ist (eine Ansicht, die man haben könnte), dem steht es frei, sich eine andere Bezeichnung zu suchen. Aber hier liegt ja die Krux. Wenn es um Lobpreisungen geht, möchten erklärte Christen offenbar gerne etwas Glanz abbekommen. Wenn aber —als Reaktion darauf wohlbemerkt— auch die Schweinereien auf den Tisch kommen, dann wird das aber ganz weit von sich gewiesen. Korrigiere mich, wenn der Eindruck täuscht. Die christliche Geschichte ist weitgehend(!) eine ausgesprochen düstere, da finde ich schon einigermaßen verwunderlich, wie immer gelobt und mit keinem sterbenswörtlichen erwähnt wird, was da noch so vorgefallen ist. Da meinte auch der sonst eher moderate Daniel Dennett, wenn da einer etwa Kritik äußert, wird aber sofort die “Hurt Feelings Card” gespielt. Da setzt sich etwa jemand hin und schreibt über Jahre akribisch eine Kriminalgeschichte des Christentums und die christlichen Damen und Herren überlegen fieberhaft, ob die Person vom Hass angetrieben wird — siehe den Fall Deschner. Sie könnten ja genauso gut sagen: „Das stimmt alles, aber wir gehören einer Glaubensgemeinschaft an, die sich davon distanziert. Wir lehnen die Bibel als Offenbarung ab, denn sie enthält fragwürdige, in heutiger Zeit untragbare Inhalte, ziehen sie lediglich als eher historisch geprägtes Werk heran“ und so fort. Könnte man ja machen.
Nichtsdestotrotz, steht auf der anderen Seite der Gleichung eine Ideologie die nur mit bestimmten Annahmen funktionieren
kann. Es ist das Selbstverständnis der großen monotheistischen Religion, dass sie wahr ist und das diese Wahrheit selbstverständlich allumfassend ist. Es ist
keine subjektive Wahrheit, oder eine persönliche Sichtweise. Natürlich kann es Menschen geben, die das so sehen. Es kann auch Leute geben, die denken, dass beim Schach gewürfelt wird — das wird kaum das Konzept des Schachs zu Fall bringen. Aus Sicht des Christentums hat Gott die Menschen geschaffen. Es gibt eine heilige Schrift, die diesen Vorgang erklärt, und dies wird als unstrittige Tatsache angesehen. Je nach Auffassung hat der geschilderte Vorgang symbolisch oder tatsächlich so stattgefunden und in etwa so verhält es sich auch mit dem Rest der Offenbarung. Sie ist aber in jedem Fall absolut „wahr“ in der einen oder anderen — aus rationaler Sicht jedoch unverständlichen — Weise. Christen, die die Bibel nicht als irgendwie wahr anerkennen, kann man vernünftigerweise nicht wirklich als Christen bezeichnen, auch wenn bereits Babies technisch gesehen christlich getauft sein können.
Rein hypothetisch könnte es irgendwann Menschen geben, die Hitlers „Mein Kampf“ aus ästhetischer Sicht gut finden. Sie würden dann sagen, dass sie zwar nicht „tatsächlich“ daran glauben, aber es für sie „symbolisch“ einen Wert hätte. Sie würden vielleicht auch Nazi Symbolik gut finden, warum ja auch nicht, sie glauben ja nicht „wirklich“ an die Ideologie, sie finden nur bestimmte Aspekte gut. Dann würde es Kritiker geben, die darauf hinweisen, dass im Namen dieser Ideologie viele schreckliche Dinge geschehen sind und es würde Menschen wie du geben, die die Kritik zerstreuen wollen — oder etwa nicht?
Und natürlich lässt sich das Grauen im Falle des Christentums belegen, falls an dieser Stelle noch Zweifel bestehen. Wie auch immer die interne Mechanik des Christentums aussehen mag, es hat sich konsistent ein Bild des Schreckens ergeben — alles reiner Zufall? Ich hatte bis eben noch mal wieder eine Geschichtsstunde stehen, lasse diese aber mal weg (reicht auch hin für's erste). Deine Aufgabe: angenommen es hätte nicht „1984“ von George Orwell gegeben, sondern „984“ von einem gewissen Gregor Orwellus — wie hätte er es angelegt?
Bei den anderen großen Monotheismen gab es diese Dominanz nicht. Aber wie offen das Judentum wirklich ist, ist glaube ich auch sofort klar. Was es mit dem freien Willen und Toleranz im Islam auf sich hat, zeigt ein Blick auf die Sharia — oder wird das auch bestritten? Irgendwie wird im Westen immer der Versuch unternommen, eine Menge aus Gläubigen zu bilden, und diesen dann positive Eigenschaften zugeschrieben, wobei in der standard-Deutung die Extremen eine kleine Teilmenge seien. Stimmt das denn? Was ist wenn die modernen aufgeklärten Leute in Wahrheit die kleinere Teilmenge sind? (was ich nicht weiß und im übrigen meine Argumentation nicht berührt — es könnten alle modern sein und meine Sichtweise wäre identisch).
Noch anders gesagt, ein blutrünstiges Werk und eine zweifelhafte Ideologie bleiben das auch, wenn Menschen sie moderat auffassen.