stine hat geschrieben:Was spricht heute noch für das Christ sein:
Gott erfahren.
Ach weißt du, das ist so 'ne relative Sache, die im wesentlichen vom Gottesbild abhängt. Das Christentum hat, insbesondere in Gestalt der katholischen Kirche, auch einen ziemlich masochistischen Zug und Gott erfahren kann bei Opus Dei auch Selbstgeißelung bedeuten. Mir ist schon klar, dass du das nicht meintest, aber wenn ich spirituelle Erfahrungen möchte, kann ich auch ganz weltlich meditieren, ohne gleich das ganze Programm mit Reinheitsidealen, Erlösungsfantasien und einem Großer-Bruder-Gott herunterzuspulen. Den christlichen Gott in seinerganzen Bandbreite möchte ich jedenfalls ungefähr so sehr erfahren wie einen Jahresurlaub in einer gewissen Bucht auf Kuba.
stine hat geschrieben:Gemeinschaft leben.
Soziales Leben ist noch das eheste, was ich an gemäßigtem religiösen Leben Verständis entgegenbringen kann.
Gruppendynamik ist aber auch eine gefährliche Sache, besonders dann, wenn gewisse fixe Ideen sich erstmal festgesetzt haben, die als Gruppennorm von allen geachtet werden müssen. Eine intensive Gemeinschaft entwickelt, wenn sie beginnt, totalitäre Züge anzunehmen, dieselbe negative Intensität wie eben potentiell eine positive. Wo idealerweise gegenseitige Unterstützung und Respekt stehen, tritt dann gegenseitige Normenkontrolle im Übermaß, resultierend in Misstrauen und Überwachung. Der vermeintlich positive Gruppeneffekt macht dummerweise das Individuum derart abhängig von der Gruppe(nmeinung), dass ein Ausstieg bzw. die Drohung eines Verstoßens extrem disziplinierend wirken. So ein System ist sehr selbststabilisierend, was im Grunde die einzige Erklärung dafür ist, dass selbst offensichtlichst mit der Realität kollidierende Weltsichten mit voller Überzeugung geglaubt werden. Das Unterbewusstsein ist ja nicht blöd, das kalkuliert nämlich ganz richtig, dass die sozialen Kosten einer Korrektur viel zu hoch wären, als dass man dem präfrontalen Cortex die Freigabe zum Denken geben dürfte.
Mir gefällt es daher zum Beispiel sehr gut, dass die Brights den Individualismus so stark in ihren Prinzipien verankert haben. Gruppen, die soetwas nicht haben und die keine starke Diskurskultur haben, wo das Vorhandensein einer eigenen Meinung mehr geschätzt wird als das gedankenlose Übernehmen der Gruppenmeinung, stehen ganz besonders in der Gefahr, eine selbstschädigende Gruppendynamik zu erzeugen. Es ist fast überflüssig, hinzuzufügen, dass unhinterfragt geglaubte Dogmen hier den worst case darstellen.
Ich denke, wenn es darum geht, eine Gemeinschaft zu finden, gibt es sicherlich bessere starke Ideen, um die eine Gruppe sich scharen kann, als Religion: Sport oder die Menschenrechte beispielsweise.
stine hat geschrieben:Gesellschaft gestalten.
Das ist eine sehr verantwortungsvolle Sache. Sollten wir dabei nicht andere Grundlagen hernehmen, als die heiligen Schriften einer bronzezeitlichen Hirtenkultur und die herbeifabulierten Offenbarungen offenbar geistig überregter Charismatiker?
stine hat geschrieben:Das sind doch wunderbare Ziele, oder nicht?
Wie immer: Wo ist die atheistische Alternative?
Der Atheismus, hier noch besser: Naturalismus, hält derzeit kein Gegenstück zu gruppendynamischen und spirituell-emotionalen Erfahrungen bereit, wie Religionen sie bieten. Klar gab es den Kult um den Sozialismus, aber das war ja schon wieder mehr eine Religion. Der Naturalismus als solcher hält sich im Großen und Ganzen von solchen Aufregungen und Gemütswallungen fern und wenn ich es richtig sehe, dann wollen auch die wenigsten Naturalisten und Quasi-Naturalisten, also die pragmatischen Areligiösen, die sich keine Gedanken über solche Themen machen, auch keine hermetischen Glaubenssysteme, sondern einfach in Ruhe ihr Leben führen, ohne diesen ganzen ideologischen Ballast.
Die Neigung zum Spiritualismus ist zum Teil schon in den Genen angelegt (sagte mir eine ZEIT Wissen irgendwann die letzten Monate), was ja auch logisch ist, da die Entgrenzungserfahrungen irgendwo im Gehirn stattfinden müssen, man also eine entsprechende strukturelle Disposition dafür braucht. Es gibt daher auch keine Lösung für alle. Eine charismatische Person wird in einem trockenen Philosophenzirkel nicht glücklich werden, eine durch und durch logisch strukturierte Person dagegen schon.
Wer fordert, dass der Atheimus/Naturalismus eine ähnliche Institution oder Ideologie bereitstellt wie Religionen, der verkennt, dass ihm das historisch als Ergebnis von Aufklärung und wissenschaftlicher Forschung völlig wesensfremd ist. Alles andere würde bedeuten, die eine dogmatische Ideologie durch eine andere zu ersetzen, die sich im wesentlichen durch den Bichtgebrauch des Wortes Gott von ersterer unterscheidet, und wäre daher strukturell und methodisch überhaupt kein Fortschritt. Wer aber soviel Erkenntnis gewonnen hat, dass er Naturalist geworden ist, der wird auch ohne emotionale Gruppenhysterien auskommen und wenn nicht, dann geht er halt zu einem absolut weltlichen Rockkonzert.