Shine hat geschrieben:ganimed hat geschrieben:Wenn die Evolution einen Gottesglauben begünstigt, dann ist sie genau nicht gottlos. Andernfalls könnte man sich auch wundern, wieso die zahnlose Evolution Zähne hervorgebracht hat. Ich sehe also eigentlich keinen Widerspruch.
Also ich denke, die Evolution hat Zähne hervorgebracht, weil sie zur Nahrungsaufnahme wichtig sind und somit ein Weiterleben und eine Weiterentwicklung ermöglichen, also etwas sehr Reales und sehr Nützliches. Wozu aber ist ein nichtexistierender Gott nütze? Welchen Sinn hat es, an ihn zu glauben, wenn es ihn nicht gibt? Versucht nicht gerade dieses Forum mit diesem Unfug reinen Tisch zu machen? Wieso soll also die Evolution nun also doch nicht gottlos – im Sinne von ohne Gott – sein?
Ich habe vor wenigen Tagen einen
Hinweis auf die evangelikale Missionierung in Haiti gegeben. Die Leute dort sind arm, perspektivenlos, ungebildet und verzweifelt. Um die Ohnmachtsgefühle, die sie zwangsläufig entwickeln müssen, zu bekämpfen und zumindest etwas einzuhegen, suchen diese Leute nach Verantwortlichen und Fixpunkten, die ihr Leid in einen gemeinsamen Rahmen stellen. Sie suchen ein gemeinsames Narrativ, das ihnen Orientierung bietet.
Der tiefere Grund dafür ist, dass Menschen mit ihren hochentwickelten sozialen Fähigkeiten von der Evolution stark darauf gepolt wurden, sich in ihrem sozialen Umfeld zu verorten, Absichten anderer Menschen zu erkennen und die Gründe dafür zu verstehen (vereinfacht: "Der Ranghöhere unterdrückt mich, weil er stärker ist, ergo muss ich mehr essen und mehr Muskeln bekommen, um ihn loszuwerden."
Da steckt alles drin, was ich eben gesagt habe: Die Intention des Ranghöheren wird erkannt, die eigene soziale Position ebenso, es gibt ein gemeinsames Narrativ ("Der Ranghöhere ist stärker und deshalb der Herr"), es gibt einen Verantwortlichen für das eigene Leid und wenn es mehrere Rangniedere ("Knechte") gibt, stellen diese ihr Leid in den gemeinsamen Rahmen, der durch die geteilte Erfahrung der Unterdrückung durch den Ranghöheren geteilt wird. Das bietet Orientierung, ein gemeinsames Feindbild, es schafft Sicherheit durch das Bündnis gegen diesen Feind und es reduziert komplexe soziale Abhängigkeiten auf ein simples Schema - das hat Vorteile, weil nicht so viel Energie auf die permanente Analyse der sozialen Beziehungen verwendet werden muss und weil es Fronten klärt.
Manchmal überdreht dieser Mechanismus auch, beispielsweise wenn komplexe Ursache-Wirkung-Beziehungen sich partout nicht reduzieren lassen oder wenn nichtmenschliche Akteure wie Naturgewalten beteiligt sind, die prinzipiell unkontrollierbar und unvorhersehbar in ihrem Verhalten sind. Ein komplett unberechenbares sozialer Akteur ist in unserem sozialen Empfinden nicht vorgesehen, von daher werden dann schnell Intentionen unterstellt, weil die Angst, die durch Unsicherheit entsteht, so quälend ist. Einfache Erklärungen, beispielsweise, dass hinter einer Flutwelle ein zorniger, übermächtiger Gott steckt, der wütend wegen des Fehlverhaltens seiner Untergebenen ist (eine millionenfach geteilte und daher logisch erscheinende Erfahrung), werden dann dankbar angenommen. Einfach eine Erklärung zu haben, bringt schon so eine Erleichterung, dass übersehen und/oder ausgeblendet wird, dass das eigentliche Schema völlig unbewiesen und lückenhaft ist. Wenn man sich ansieht, wie viele unserer Entscheidungen auf Mutmaßungen über die Welt und unser soziales Umfeld beruhen, ist es eigentlich auch überhaupt nicht erstaunlich, dass das passiert. Man nimmt aus einer Menge unbefriedigender Erklärungen eben die, in im persönlichen Kontext Sinn macht - was soll man in aller Welt auch sonst machen? Und wenn dann auch noch alle sagen, dass es einen bösen Gott gibt, der die Flutwelle geschickt hat, dann rennt man als soziales Herdentier den anderen eben auch schnell hinterher, schließlich will man sich nicht ohne Not außerhalb des Schutzes der Gruppe stellen, indem man das sehnlichst erwartete gemeinsame Narrativ hinterfragt, das endlich mit der quälenden Ungewissheit ein Ende zu machen scheint.
Einen Gott braucht man für das alles nicht.
Shine hat geschrieben:Die Phantasie des Menschen ist Teil seines – unsichtbaren – Geistes. Für mich ist Gott nicht sagenhaft, sondern eine logische Erklärung. Viel phantastischer erscheint mir ein Entstehen aus dem wirklichen „Nichts“, so wie das allgemein verstanden wird und die Entstehung des Lebens aus Zufall. Sehr neugierig bin ich zu erfahren, wie Geist und Leben in der Materie entstehen, wohin oder weshalb sie nach dem Tod verschwinden während die Materie erhalten bleibt, und vor allen Dingen, was die Materie zum Leben drängt.
Du verlagerst das Problem nur, Shine. Auch Gott wäre aus dem Nichts erstanden. Die Frage nach dem, was am Anfang allen Seins stand, wird dadurch nicht beantwortet, denn es wäre auch etwas denkbar, was vor Gott wäre bzw. ihm übergeordnet ist. Auch wir Naturalisten haben dafür keine zufriedenstellende Erklärung, die meisten von uns geben sich in der Tradition des Agnostizismus letztlich damit zufrieden, dass es eine für uns Menschen aus epistemologischen Gründen unbeantwortbare Frage bleibt. Man kann das ablehnen, weil es einen nicht zufriedenstellt, aber damit sagt man letztlich, dass "es nicht sein kann, weil es nicht sein darf."
Bei der Frage, "was die Materie zum Leben drängt" gehst du meiner Meinung nach von einer falschen Prämisse aus: Du nimmst an, es braucht etwas, was die Materie antreibt. Du kommst dabei nicht aus deiner dualistischen Auffassung heraus. So funktioniert Leben aber nicht. Es hat irgendwann in ferner Vergangenheit eine unwahrscheinliche, aber mögliche (!) chemische Reaktion gegeben, die ein System zur Folge hatte, das in der Lage war, seine eigene Entropie zu verringern. Mehr tut Leben nicht. Aufgrund evolutionärer Mechanismen, die in den Naturgesetzen unserer Welt angelegt sind, war nur den Typen dieser Systeme ein längeres Dasein beschieden, die effiziente Möglichkeiten fanden, diese Entropieverringerung durchzuführen. Irgendwann wurden diese Systeme durch Evolution (System A kann mehr und verdrängt zwangsläufig System B) so komplex, dass eine Weiterentwicklung nur mit komplizierten bioelektrischen Steuerungen möglich war, die die Körperprozesse und die äußere Navigation überwachen konnten. Da auch das irgendwann geschah, wurde die Linie weitergeführt bis hin zu dem Punkt, an dem Primaten entstanden, die logische und reflexive Fähigkeiten entwickelten, um komplexe Überlebensstrategien selbst formulieren zu können. Das Bewusstsein ist eine der letzten Entwicklungen der Evolution in dieser Linie. Es ermöglicht die zielgerichtete, weniger von brachialen Trieben geleitete Formulierung von sozialen und technischen Strategien und die Prüfung intuitiv "erfühlter" Lösungen (das kann dir jeder Mathematiker bestätigen, der eine Aufgabe löst: Irgendwie fühlt sich ein Rechenweg richtig an und dann wird dieser mithilfe bewusster Überlegungen exakt ausgearbeitet).
Nichts davon ist fantastisch, im Gegenteil, es ergibt alles doch ein, wie ich finde, erstaunlich stimmiges und sparsam erklärtes System.