Warum gibt es Religionen?

Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon ganimed » Do 13. Jan 2011, 20:14

Shine hat geschrieben:Ein "evolutionärer" Sinn von Religion würde bedeuten, das die "gottlose" Evolution es für nötig befände einen Gott zu erfinden, weil dies für die Entwicklung der Menschheit notwendig ist ...!? Liegt darin nicht ein Widerspruch?

Wenn die Evolution einen Gottesglauben begünstigt, dann ist sie genau nicht gottlos. Andernfalls könnte man sich auch wundern, wieso die zahnlose Evolution Zähne hervorgebracht hat. Ich sehe also eigentlich keinen Widerspruch.

Shine hat geschrieben:Ist es nicht erstaunlich, dass wirklich jede Zivilisation den Glauben an eine höhere Macht entwickelt hat? Ist das wirklich einfach mit der Angst vor dem Tod und der Unkenntnis natürlicher Vorgänge zu erklären?

Es kommen noch andere Eigenschaften des Hirns als Erklärungselemente hinzu. Beispielsweise unsere Neigung, Sinn und Zusammenhänge zu entdecken bzw. zu unterstellen. Und unser Talent, auch unbelebten Dingen Absicht und Motiv zu unterstellen.
Das mag in Summe dennoch erstaunlich bleiben. Aber wäre es nicht viel erstaunlicher, wenn es wirklich diesen sagenhaften Gott gäbe?
Ich vermute deshalb, dass die weit weniger erstaunliche Erklärung die richtige ist.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Myron » Sa 15. Jan 2011, 05:34

Herzlich willkommen!
:brights:

Shine hat geschrieben:Ich bin davon überzeugt, dass wir einen "Instinkt" für Gott haben, ein angeborenes "Wissen" um seine Existenz. Ihn zu suchen ist ein natürlicher Vorgang und liegt im menschlichen Wesen begründet. Seit der Mensch aber angefangen hat zu denken, versucht er, sich diesen Gott vorzustellen und hat sich von ihm ein Bild gemacht, das Gott nicht entsprechen kann, weil er nicht den Sinnen zugängig ist.


Wer oder was ist er denn, der Gott?
Es gibt nicht nur bildliche, sondern auch begriffliche Vorstellungen; und ohne irgendeinen, irgendwie definierten Gottesbegriff steht "Gott" für nichts.
(Übrigens, die Gegenstände der reinen Mathematik sind unsinnlich, und doch haben die Mathematiker eine klare begriffliche Vorstellung davon.)
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Lumen » Sa 15. Jan 2011, 07:33

Shine hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Wenn die Evolution einen Gottesglauben begünstigt, dann ist sie genau nicht gottlos. Andernfalls könnte man sich auch wundern, wieso die zahnlose Evolution Zähne hervorgebracht hat. Ich sehe also eigentlich keinen Widerspruch.


Also ich denke, die Evolution hat Zähne hervorgebracht, weil sie zur Nahrungsaufnahme wichtig sind und somit ein Weiterleben und eine Weiterentwicklung ermöglichen, also etwas sehr Reales und sehr Nützliches. Wozu aber ist ein nichtexistierender Gott nütze? Welchen Sinn hat es, an ihn zu glauben, wenn es ihn nicht gibt? Versucht nicht gerade dieses Forum mit diesem Unfug reinen Tisch zu machen? Wieso soll also die Evolution nun also doch nicht gottlos – im Sinne von ohne Gott – sein?


Gott nicht, aber Geschichtenerzählen, Erklärungsmodelle entwickeln und kommunizieren können und letztlich die langsame und durch Hilflosigkeit geprägte Entwicklung eines Menschen, die es notwendig macht, bestimmte Geschichten nicht zu hinterfragen.

P.S. Hi Shine. Bald haben wir alle Varianten von Hell abgedeckt. Wobei Lux und Luchs wären noch drin :)
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Nanna » Sa 15. Jan 2011, 16:52

Shine hat geschrieben:
ganimed hat geschrieben:Wenn die Evolution einen Gottesglauben begünstigt, dann ist sie genau nicht gottlos. Andernfalls könnte man sich auch wundern, wieso die zahnlose Evolution Zähne hervorgebracht hat. Ich sehe also eigentlich keinen Widerspruch.


Also ich denke, die Evolution hat Zähne hervorgebracht, weil sie zur Nahrungsaufnahme wichtig sind und somit ein Weiterleben und eine Weiterentwicklung ermöglichen, also etwas sehr Reales und sehr Nützliches. Wozu aber ist ein nichtexistierender Gott nütze? Welchen Sinn hat es, an ihn zu glauben, wenn es ihn nicht gibt? Versucht nicht gerade dieses Forum mit diesem Unfug reinen Tisch zu machen? Wieso soll also die Evolution nun also doch nicht gottlos – im Sinne von ohne Gott – sein?

Ich habe vor wenigen Tagen einen Hinweis auf die evangelikale Missionierung in Haiti gegeben. Die Leute dort sind arm, perspektivenlos, ungebildet und verzweifelt. Um die Ohnmachtsgefühle, die sie zwangsläufig entwickeln müssen, zu bekämpfen und zumindest etwas einzuhegen, suchen diese Leute nach Verantwortlichen und Fixpunkten, die ihr Leid in einen gemeinsamen Rahmen stellen. Sie suchen ein gemeinsames Narrativ, das ihnen Orientierung bietet.

Der tiefere Grund dafür ist, dass Menschen mit ihren hochentwickelten sozialen Fähigkeiten von der Evolution stark darauf gepolt wurden, sich in ihrem sozialen Umfeld zu verorten, Absichten anderer Menschen zu erkennen und die Gründe dafür zu verstehen (vereinfacht: "Der Ranghöhere unterdrückt mich, weil er stärker ist, ergo muss ich mehr essen und mehr Muskeln bekommen, um ihn loszuwerden."
Da steckt alles drin, was ich eben gesagt habe: Die Intention des Ranghöheren wird erkannt, die eigene soziale Position ebenso, es gibt ein gemeinsames Narrativ ("Der Ranghöhere ist stärker und deshalb der Herr"), es gibt einen Verantwortlichen für das eigene Leid und wenn es mehrere Rangniedere ("Knechte") gibt, stellen diese ihr Leid in den gemeinsamen Rahmen, der durch die geteilte Erfahrung der Unterdrückung durch den Ranghöheren geteilt wird. Das bietet Orientierung, ein gemeinsames Feindbild, es schafft Sicherheit durch das Bündnis gegen diesen Feind und es reduziert komplexe soziale Abhängigkeiten auf ein simples Schema - das hat Vorteile, weil nicht so viel Energie auf die permanente Analyse der sozialen Beziehungen verwendet werden muss und weil es Fronten klärt.

Manchmal überdreht dieser Mechanismus auch, beispielsweise wenn komplexe Ursache-Wirkung-Beziehungen sich partout nicht reduzieren lassen oder wenn nichtmenschliche Akteure wie Naturgewalten beteiligt sind, die prinzipiell unkontrollierbar und unvorhersehbar in ihrem Verhalten sind. Ein komplett unberechenbares sozialer Akteur ist in unserem sozialen Empfinden nicht vorgesehen, von daher werden dann schnell Intentionen unterstellt, weil die Angst, die durch Unsicherheit entsteht, so quälend ist. Einfache Erklärungen, beispielsweise, dass hinter einer Flutwelle ein zorniger, übermächtiger Gott steckt, der wütend wegen des Fehlverhaltens seiner Untergebenen ist (eine millionenfach geteilte und daher logisch erscheinende Erfahrung), werden dann dankbar angenommen. Einfach eine Erklärung zu haben, bringt schon so eine Erleichterung, dass übersehen und/oder ausgeblendet wird, dass das eigentliche Schema völlig unbewiesen und lückenhaft ist. Wenn man sich ansieht, wie viele unserer Entscheidungen auf Mutmaßungen über die Welt und unser soziales Umfeld beruhen, ist es eigentlich auch überhaupt nicht erstaunlich, dass das passiert. Man nimmt aus einer Menge unbefriedigender Erklärungen eben die, in im persönlichen Kontext Sinn macht - was soll man in aller Welt auch sonst machen? Und wenn dann auch noch alle sagen, dass es einen bösen Gott gibt, der die Flutwelle geschickt hat, dann rennt man als soziales Herdentier den anderen eben auch schnell hinterher, schließlich will man sich nicht ohne Not außerhalb des Schutzes der Gruppe stellen, indem man das sehnlichst erwartete gemeinsame Narrativ hinterfragt, das endlich mit der quälenden Ungewissheit ein Ende zu machen scheint.

Einen Gott braucht man für das alles nicht.

Shine hat geschrieben:Die Phantasie des Menschen ist Teil seines – unsichtbaren – Geistes. Für mich ist Gott nicht sagenhaft, sondern eine logische Erklärung. Viel phantastischer erscheint mir ein Entstehen aus dem wirklichen „Nichts“, so wie das allgemein verstanden wird und die Entstehung des Lebens aus Zufall. Sehr neugierig bin ich zu erfahren, wie Geist und Leben in der Materie entstehen, wohin oder weshalb sie nach dem Tod verschwinden während die Materie erhalten bleibt, und vor allen Dingen, was die Materie zum Leben drängt.

Du verlagerst das Problem nur, Shine. Auch Gott wäre aus dem Nichts erstanden. Die Frage nach dem, was am Anfang allen Seins stand, wird dadurch nicht beantwortet, denn es wäre auch etwas denkbar, was vor Gott wäre bzw. ihm übergeordnet ist. Auch wir Naturalisten haben dafür keine zufriedenstellende Erklärung, die meisten von uns geben sich in der Tradition des Agnostizismus letztlich damit zufrieden, dass es eine für uns Menschen aus epistemologischen Gründen unbeantwortbare Frage bleibt. Man kann das ablehnen, weil es einen nicht zufriedenstellt, aber damit sagt man letztlich, dass "es nicht sein kann, weil es nicht sein darf."

Bei der Frage, "was die Materie zum Leben drängt" gehst du meiner Meinung nach von einer falschen Prämisse aus: Du nimmst an, es braucht etwas, was die Materie antreibt. Du kommst dabei nicht aus deiner dualistischen Auffassung heraus. So funktioniert Leben aber nicht. Es hat irgendwann in ferner Vergangenheit eine unwahrscheinliche, aber mögliche (!) chemische Reaktion gegeben, die ein System zur Folge hatte, das in der Lage war, seine eigene Entropie zu verringern. Mehr tut Leben nicht. Aufgrund evolutionärer Mechanismen, die in den Naturgesetzen unserer Welt angelegt sind, war nur den Typen dieser Systeme ein längeres Dasein beschieden, die effiziente Möglichkeiten fanden, diese Entropieverringerung durchzuführen. Irgendwann wurden diese Systeme durch Evolution (System A kann mehr und verdrängt zwangsläufig System B) so komplex, dass eine Weiterentwicklung nur mit komplizierten bioelektrischen Steuerungen möglich war, die die Körperprozesse und die äußere Navigation überwachen konnten. Da auch das irgendwann geschah, wurde die Linie weitergeführt bis hin zu dem Punkt, an dem Primaten entstanden, die logische und reflexive Fähigkeiten entwickelten, um komplexe Überlebensstrategien selbst formulieren zu können. Das Bewusstsein ist eine der letzten Entwicklungen der Evolution in dieser Linie. Es ermöglicht die zielgerichtete, weniger von brachialen Trieben geleitete Formulierung von sozialen und technischen Strategien und die Prüfung intuitiv "erfühlter" Lösungen (das kann dir jeder Mathematiker bestätigen, der eine Aufgabe löst: Irgendwie fühlt sich ein Rechenweg richtig an und dann wird dieser mithilfe bewusster Überlegungen exakt ausgearbeitet).

Nichts davon ist fantastisch, im Gegenteil, es ergibt alles doch ein, wie ich finde, erstaunlich stimmiges und sparsam erklärtes System.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon ganimed » Mo 17. Jan 2011, 22:10

Nanna, sehr schöne Ausführungen wiedermal, vor allem die sozialpsychologischen Erklärungen. Ich hätte gern ein T-Shirt, auf dem das genau so steht und das jeder durchliest, der sich längere Zeit mit mir unterhält und von meinem Geplapper gelangweilt ist. Und es sollte in der Schule auswendig gelernt werden. Meine Meinung.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Nanna » Mo 17. Jan 2011, 23:55

Ich freue mich immer sehr, wenn jemand einen meiner Texte schätzt. Danke für das Kompliment!
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon platon » So 6. Feb 2011, 14:29

ganimed hat geschrieben:Wenn die Evolution einen Gottesglauben begünstigt, dann ist sie genau nicht gottlos. Andernfalls könnte man sich auch wundern, wieso die zahnlose Evolution Zähne hervorgebracht hat.

Entschuldige ganymed, aber das ist der gleiche hanebüchene Unsinn, den die Kreationisten immer wieder gebetsmühlenartig hervorbringen. Solange Du glaubst, es gäbe irgend einen Grund oder Plan warum die Evolution dies oder jenes hervorgebracht hat, wirst Du nicht verstehen, was hier passiert.
Evolution hat keinen Plan und kein Ziel. Ich nehme an, Du bist gottgläubig und deshalb ist es für Dich auch sehr schwer, dieses nachgewiesene Prinzip zu akzeptieren, aber es entspricht den tausendfach verifizierten Tatsachen.
Die Evolution wird aus der zufälligen, ziel- und zweckfreien Mutation gespeist und wenn etwas Brauchbares entstanden ist, was weniger nachteilig ist als das bisher vorhandene, dann wird es sich durchsetzen, hat es weder besondere Vor- noch Nachteile, kann es "mitgescheppt" werden, bis es irgendwann einmal genauso sang- und klanglos verschwindet, wie es gekommen ist.
Es ist übrigens keineswegs so, dass alle Menschen aus sich heraus den Drang nach der Existenz einer höheren Macht verspüren. Das Problem ist, dass jeder, der diese blöde Idee aufbringt, natürlich sofort in Erklärungsnot gerät und sich deshalb mehr oder weniger gute "Begründungen" für die Existenz seines gerade ausgedachten Gottes liefern muss. Und das funktioniert umso besser, je unwissender die Menschen sind. Denn es ist natürlich das Einfachste, wenn man dem Gott alle unerklärlichen Phänomene in die Schuhe schieben kann. Deshalb hatten die ganz alten Naturreligionen noch ihre Donner- und Regengötter, heute könnte man solche Götter nur noch vom Allgemeinwissen abgeschnittenen Analphabeten vermitteln.
Eine andere menschliche Eigenschaft, die die Religionen in geradezu perfider Weise ausnutzen ist unsere durchaus sinnvolle Eigenschaft, dass Kinder all das, was ihnen ihre Eltern sagen, als richtig akzeptieren und zwar völlig unhinterfragt, selbst dann, wenn die Kinder die Unrichtigkeit dieser Aussage am eigenen Leib beurteilen könnten. Im Allgemeinen hilft uns das, erwachsen zu werden, ohne uns die lebensgefährlichen Erfahrungen im Selbstversuch aneignen zu müssen.
Leider macht uns das auch gottgläubig ohne dass wir uns fragen, warum eigentlich?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon ganimed » So 6. Feb 2011, 15:10

Shine hatte argumentiert, dass es einen Widerspruch darstellt, wenn eine gottlose Evolution einen Glauben an Gott hervorbringt.
Mir erschien es so, als würde dieser Widerspruch künstlich an einer überpitzten Formulierung konstruiert. Was bedeutet schon "gottlose" Evolution?
Wir meinen, glaube ich, alle damit, dass kein Gott zielgebend oder sonstwie in die Evolution eingegriffen hat. Shine hat aber unzulässigerweise im zweiten Teil seines Arguments eine andere Bedeutung eingeschmuggelt. Nämlich : gottlose Evolution ist eine, welche keinen Glauben an Gott hervorbringt. Ich wollte mit meiner Erwiderung nur auf den Umstand hinweisen, dass bei seiner zweiten Bedeutung die erste Bedeutung hinfällig wird und man dann doch wieder von einer "gotthaften" Evolution sprechen müsste. So nach dem Motto: entweder verwendet man den Begriff "gottlose Evolution" kohärent, und dann gibt es keinen Widerspruch, oder man kann in keinem Fall von "gottloser Evolution" sprechen. Vermutlich habe ich das alles in allem recht ungeschickt formuliert.

Also: ich halte die Evolution im ersten Sinn (Ursache, Ziel, Sinn) für völlig gottlos, wie wohl jeder hier.

Und im zweiten Sinn (Ergebnis) halte ich sie für gottvoll. Will sagen: die Evolution hat unsere Gehirne hervorgebracht. Und diese Gehirne haben ganz offenbar eine Tendenz zu Aberglauben und Religiösität.

platon hat geschrieben:Es ist übrigens keineswegs so, dass alle Menschen aus sich heraus den Drang nach der Existenz einer höheren Macht verspüren.

Woher weißt du das? Vielleicht spüren ihn ja alle, aber alle unterschiedlich stark. Und vielleicht ist dieser Drang bei einer Minderheit von sagen wir 40% durch andere Dinge überlagert, so dass er nicht explizit wahrgenommen wird. Natürlich sind das auch nur Vermutungen meinerseits. Aber deine Behauptung ist zumindest nicht besonders zwingend.
Die Tatsache, dass viele intelligente, gebildete Menschen an Gott glauben, scheinst du lediglich mit dem Kindheitserziehungseffekt begründen zu können. Das halte ich für wenig plausibel. Wieso können sich einige vom Glauben befreien und andere nicht? Weil die einen als Kind weniger religiös erzogen wurden?
Meine zusätzliche Vermutung, dass auch beim intelligenten, gebildeten Hirn bestimmte psychologische Tendenzen zur Religiösität hinwirken, scheint mir die realen Verhältnisse, in denen immer noch Mehrheiten an diesen hahnebüchenen Unsinn glauben, besser zu erklären.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon stine » So 6. Feb 2011, 16:04

Der Glaube an eine höhere Macht ist mE die Folge der Sinnfrage, die sich widerrum erst dann gestellt hat, als der Mensch schon mehr konnte als nur Essen und Trinken.
Wir wissen nicht, wie lange Menschen schon in der Lage sind sich ihrer selbst bewusst zu sein. Aber mit ziemlicher Sicherheit kann man sagen, dass nur ein sich selbstbewusstes Wesen weiß, dass seine Lebenszeit begrenzt ist. Ein Baby und ein Kleinkind wissen davon noch nichts, erst im Grundschulalter kommt plötzlich die Frage nach dem Tod. Und viele Kinder reagieren sehr traurig auf das Erkennen ihrer begrenzten Lebenszeit. Da ist der (Gottes)Glaube, der die Fragen woher komme ich, was ist meine Aufgabe hier und wohin werde ich gehen, einfühlsam und tröstend erklärt, geradezu willkommen.
Religionen dienen also auch dem Zwecke der Selbsterklärung.

LG stine
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon platon » So 6. Feb 2011, 16:22

ganimed hat geschrieben:Woher weißt du das? Vielleicht spüren ihn ja alle, aber alle unterschiedlich stark.

Weil es zumindest einen Menschen gibt, von dem ich Dir versichern kann, dass er den Gedanken an ein höheres Wesen nur absurd und lächerlich findet. Und damit gilt: "nicht alle!" Ich bin aber sicher, dass ich nicht der einzige bin.

ganimed hat geschrieben:Meine zusätzliche Vermutung, dass auch beim intelligenten, gebildeten Hirn bestimmte psychologische Tendenzen zur Religiösität hinwirken ...

Dagegen spricht, dass nichts so sehr die Ungläubigkeit von Kindern fördert wie ungläubige Eltern, die in aller Regel ihre Kinder nicht mit Geschichten über die Nichtexistenz eines nicht existenten Geistwesens traktieren, sondern einfach nicht von sich aus darüber sprechen.
So habe ich das mit meinen Kindern gehalten und nur auf die explizite Frage nach meinem Gottglauben wahrheitsgemäß geantwortet, dass es keinerlei Belege für die Existenz eines solchen Wesens gäbe und dass ich mir auch nicht vorstellen könne, was auf dieser Welt anders abliefe, wenn es einen Gott gäbe. Das hat gereicht.
Jetzt sind wir drei Atheisten im Haushalt gegen eine mäßig gottgläubige Frau und Mutter, deren Gottgläubigkeit sich darin erschöpft, über dieses Problem in Anbetracht der daraus möglicherweise erwachsenden Konsequenzen lieber nicht nachdenken zu wollen. Damit kann ich leben.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Telos » Sa 12. Feb 2011, 02:05

stine hat geschrieben:Ich denke, es geht um Kulturen. Nicht um Religion im herkömmlichen Sinn.
Es ist Stammeskrieg im weitesten Sinn.

LG stine



Es ist die Differenz zum Andersartigen, zum Anderen, die erregt - und was erregt, macht aggressiv. Das sind wahrscheinlich uralte Erfahrungen, jede Kultur fasste diese Tatsache menschlichen Verhaltens in Ritual und Regel. Die jüdische Religion setzte das "Liebe den Anderen, er ist wie du", so kann man das mosaische Liebesgebot, das Jesus bestätigt, übersetzen. "Er ist wie du" - eine erste Idee der Gleichheit im Menschsein aller. Verpflichtend als Ideal im Judentum und Christentum. Heute real vielleicht im Zusammenschluss des heterogenen Europas als EU.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon mat-in » Sa 12. Feb 2011, 09:46

Wir sollten glaube ich mal den Unterscheid Kultur/Religion definieren, bevor wir weiter reden? Wobei "Christliche Leitkultur" das schon... schwierig macht, aber ich sehe das keinesfalls untrennbar.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon platon » Sa 12. Feb 2011, 23:34

mat-in hat geschrieben:Wir sollten glaube ich mal den Unterscheid Kultur/Religion definieren

Kultur braucht keine Götter, keine diktatorischen Hierarchien, keine Unterwerfung unter eine unhinterfragt übergeordnete Macht. All das braucht Religion.
Kultur ist Wandlungen, Zeitströmungen und einem gesellschaftlichen Diskurs unterworfen. Religion hat einen Ewigkeitsanspruch und widersetzt sich so lange es geht, Veränderungen.
Frag lieber mal, was die beiden gemeinsam haben.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Telos » Sa 12. Feb 2011, 23:52

platon hat geschrieben:
mat-in hat geschrieben:Wir sollten glaube ich mal den Unterscheid Kultur/Religion definieren

Kultur braucht keine Götter, keine diktatorischen Hierarchien, keine Unterwerfung unter eine unhinterfragt übergeordnete Macht. All das braucht Religion.


"Braucht" ist unverständlich. Kultur als Summe alle Lebensäußerungen braucht das nicht, was Religion braucht? Wie ist das gemeint?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon platon » So 13. Feb 2011, 00:04

braucht soll heißen funktioniert , entsteht
Kultur ist unabhängig von hierarchischen Strukturen, Religion nicht usw. Jetzt klar?
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Telos » So 13. Feb 2011, 01:07

Auch Kultur kennt hierarchische Strukturen. Und zwar über den sozialen Habitus. Was hier keinen interessiert, kann woanders ein Tabubruch sein - und umgekehrt. Mit Konsquenzen.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon mat-in » So 13. Feb 2011, 01:44

Summe aller Lebensäußerungen? Dann haben meine Tausendfüßler auch Kultur...
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon platon » So 13. Feb 2011, 21:48

Telos hat geschrieben:Auch Kultur kennt hierarchische Strukturen.

Das heißt aber nicht, dass es Kultur ohne hierarchische Strukturen nicht gibt. Religion ist durch die angenommene Existenz des höheren Wesens, das über uns steht, aber ohne Hierarchie nicht denkbar.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon Telos » So 13. Feb 2011, 23:40

Mir fällt überhaupt kein Bereich der Zivilisation/Kultur ein, der keine Hierarchie kennt. Es gab und gibt immer Abhängigkeiten durch Macht - und Sozialstrukturen, zu allen Zeiten.
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Re: Warum gibt es Religionen?

Beitragvon musicman » Mo 14. Feb 2011, 10:00

Auch sollte man Kultur nicht in den Kategorien gut/böse bewerten, manche Leute machen aus den Köpfen ihrer Feinde nette Trinkbecher, das ist ebenfalls Kultur, auch wenn es bei uns eher verpönt ist. Oft wird es so dargestellt, als wäre Kultur immer grundsätzlich etwas Gutes, aber das ist abhängig von Ort und Zeit.
Das nur nebenbei, aber vielleicht verrät uns Platon ja noch sein Geheimnis der hierachiefreien Kultur.

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