Arathas hat geschrieben:Wo ist der Unterschied zwischen einem "echten Glauben" an etwas Religiöses und dem "echten Glauben" an eine Sache, an sich selbst, an jemand anderen?
ja, das ist eine gute Frage. Ebensogut wie die Frage, wo die Gemeinsamkeit zwischen einem religiös motivierten Glauben und dem "echten" Glauben an eine Sache, sich selbst, jemand anderen liegen soll. Denn zumindest eine Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Glaubenstypen scheinst du ja mit deiner Frage an Stine zu implizieren, nicht wahr?
Ohne religiösen Glauben (und wir sprechen nicht von Wunderglaube, Animismus etc.) erfährt, erlebt der Mensch die Welt und die Zeit, in der er lebt, mittels bestimmter Institutionen, Lehrmeinungen, oder auch mittels seiner eigenen Vorurteile, die diese Welt oder besser die Welt, in der der Mensch lebt, repräsentieren. Der "gottlose" Mensch bildet sich Meinungen über die Welt, so wie
er sie sieht. Das kann immer nur
eine ganz bestimmte Weltsicht sein, abhängig von der Zeit, in der er lebt. Der "gottlose" Glaube ist ein Glaube an die Welt, so wie sie der "Gottlose" gerade sieht und sehen will. Vor allem aber ist es ein Glaube an das Sichtbare und überhaupt sinnlich Wahrnehmbare. Aus diesem Grund tritt der Teufel immer in der doppelten Gestalt des rationalen Verführers auf, beispielsweise im Kino als Anwalt, der schwache Frauen verführt.
Durch diese doppelte Beschränkung durch seine eigenen Vorurteile, die auf seiner Rationalität basieren, und die starke Betonung oder Hervorhebung seiner Sinneswahrnehmung, nimmt sich der Mensch die Möglichkeit,
sich wirklich im Jetzt zu erleben. Der "gottlose" Wissenschaftler sieht seine Welt durch seine Theorien vermittelt, und durch sonst nichts. Alles, was er sieht und wahrnimmt, nimmt er durch die Brille seiner Theorien wahr. Alles bestätigt letztendlich seine Theorie. So besteht für den Marxisten die Welt aus Proletariern und der Bourgoisie. Diese hat die Kontrolle über die Produktionsmittel, jene wollen sie auch haben. Der Naturwissenschaftler sieht überall irgendwelche Naturkräfte am Werk. Das ist alles gut und alles fein und alles richtig. Und freilich gibt es das Widerlegen von Theorien. Aber das spielt für das eben gesagte keine Rolle. Solange ein bestimmtes Paradigma gilt, bestimmt es die Sicht der Welt. Die Welt
ist dann nichts mehr anderes, als in den Ontologien der verschiedenen Theorien festgeschrieben ist.
Das Erleben seiner selbst im Jetzt - unvermittelt durch die Brille unserer Meinungen. Das ist göttlicher Glaube, Streben, Hingabe; alles andere ist Mode,
Tanz ums Goldene Kalb. Apple. Natürlich sind auch Gläubige sind an Traditionszusammenhänge gebunden, deshalb entkommt kein Mensch dieser materiellen Welt. Dennoch - manchmal, ganz selten nur, empfinde ich im Glauben wirklich eine schönere Gegenwart. Alles wirkt plötzlich viel nüchterner, klarer, ergreifender; die Farben kontrastreicher, Entfernungen und Proportionen schärfer abgesteckt.
All das hat die Werbung schon längst für sich entdeckt: "es ist deine Zeit", "sei einfach du selbst". So sagt sie. Aber sie vermittelt die Gegenwart, die ja immer nur die von mir vergegenwärtigte Gegenwart sein kann, durch Dinge, zeitliche Dinge, die einen Lebenszyklus haben. "Alles, was die Zeit berührt, ist sterblich", sagt die christliche Mystik. Wer sich den Dingen hingibt, verliert sie. Besitz impliziert immer auch Verlust. Alles hat eine Dauer. Die göttliche Ewigkeit der Gegenwart ist davon losgelöst: "Das Nun, in dem Gott den ersten Menschen schuf, und das Nun, in dem die Welt vergehen wird, und das Nun, in dem ich jetzt spreche, sind
eins."