Naturalismus ist Grundlage einer Religion

Der Atheismus selbst ist zwar keine Religion, aber der Naturalismus kann die Grundlage einer Religion werden. In dem folgenden Essay habe ich versucht in zusammen zu fassen, was ich unter "Naturmystik" verstehe. Die Namensgebung erklärt sich dann von selbst:
Die Religion der Deutschen
Die Säkularisierung des Abendlandes scheint eine Tatsache zu sein. Von den einen wird sie begrüßt, von den anderen bedauert. Es wird diskutiert, wie weit sie sich bereits entwickelt hat, welche Auswirkungen sie haben mag und wie man sich darauf einstellen sollte. Aber niemand fragt, ob es sie überhaupt gibt. Die Abkehr vom Christentum ist nicht automatisch die Hinwendung zur Religionslosigkeit.
In diesem Artikel vertrete ich die These, dass eine neue Religion an die Stelle des Christentums getreten ist, eine Religion, die sich ihrer selbst noch nicht bewusst und doch jedem vertraut ist.
Ihre Wurzeln liegen in der Romantik, sie erfuhr in der Wandervogelbewegung und dann vor allem im Nationalsozialismus eine Renaissance und lebt in der Wählerschaft der „Grünen“ bis heute weiter.
Da es keine anerkannte Definition für den Begriff „Religion“ gibt, wähle ich zu ihrem Nachweis einen induktiven Weg: im Folgenden werde ich verschiedene Elemente der Religion beschreiben. Am Ende dieses Überblicks dürfte klar sein, dass die dargestellte Religion fast jeder Definition genügt. Und es wird ebenfalls klar sein, weshalb ich sie als „Naturmystik“ bezeichne.
Was ist „Naturmystik“?
Die Naturmystik ist eine Religion, in deren Zentrum die Natur steht und deren Heilserwartung an die Vereinigung (daher „Mystik“) mit der Natur gebunden ist. Was dies bedeutet, soll im Folgenden entfaltet werden.
Die Natur im Urzustand
Der Natur werden im Wesentlichen alle Eigenschaften eines Gottes zugeschrieben: sie hat alles aus sich hervorgebracht, gleichsam aus dem Nichts (so genau weiß man das nicht). Sie hat alles in Schönheit und Harmonie geordnet. Sie ist gut und vollkommen.
Der Fall
Durch diese positive Sicht der Natur stellt sich die Frage nach der „Theodizee“: Wie konnte es dazu kommen, dass die Erde ein so unwirtlicher Raum ist und wir uns so schlecht fühlen und benehmen?
Als Antwort verweist der Naturmystiker auf unsere „Entfremdung“ von der Natur. Der Mensch ist als Körper eigentlich ein Teil von ihr und hat daher Anteil an ihren guten Eigenschaften. Er kann eigentlich im Einklang mit den anderen Lebewesen leben und ist wie sie Glied in einem Ökosystem. D.h. nicht, dass er keine geistigen Fähigkeiten entwickelt hat. Aber so lange er eine Einheit mit der Natur bildete, war auch sein geistiges und sogar religiöses Leben von den gleichen harmonisierenden Kräften der Natur geleitet. Der Mensch entwickelte zwar Kulte und („Natur“-)Religionen, aber er lebte mit unterschiedlichen Vorstellungen friedlich zusammen (harmonisch wie in einem Ökosystem).
Dieses sensible System wurde vordergründig durch die Technisierung des Alltags gestört, diese aber wiederum durch den Monotheismus hervorgebracht, der als der eigentliche Störer des geistigen Ökosystems angesehen wird. Seit die Menschen an den einen Gott glauben, duldeten sie keine anderen Religionen mehr. Sie entfremdeten sich untereinander, sie entfremdeten sich von der Natur, weil sie nach unnatürlichen Geboten leben mussten und das alles, weil sie durch diesen Glauben von sich selbst entfremdet wurden. Selbst- und Nächstenliebe sowie Umweltschutz hängen in der Naturmystik unauflöslich zusammen. Denn da der Natur heilsam-synchronisierende Kräfte zugeschrieben werden, führt wahre Selbstliebe nicht nur automatisch zur Nächstenliebe, sie ist sogar der einzige Weg dorthin! „Zu sich selbst zu finden“ ist der einzige Weg um zu meinem Nächsten und auch der Natur zu finden .
„Sich selbst“ meint hier vor allem den eigenen Körper. Die Menschen entfremdeten sich von ihrem Körper durch Vorstellungen, die ihrem Körper nicht entsprachen und erlebten ihren Körper als Feind, den sie beherrschen mussten. Ähnlich fremd wurde ihnen auch die Natur, die sie nun zu beherrschen versuchten. Durch diesen Bruch wurde die Technisierung des Abendlandes möglich und machte die Natur zur fremden Urlaubswelt.
Die Erlösung
Ein Ausweg aus diesem Schlammassel besteht negativ darin, sich die eigene Entfremdung, insbesondere die christlichen Einflüsse, bewusst zu machen und den Kontakt zu sich selbst, d.h. dem eigenen Körper, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und der Natur wiederherzustellen. Dies geschieht äußerlich über die Anwendung einer Ethik, von der der Gläubige denkt, dass sie das Ergebnis eines natürlichen Lebens sei.
Noch wichtiger aber ist die innere Entwicklung: der Gläubige versucht, sich seinen als natürlich vorgestellten Trieben so weit wie möglich zu fügen und sie nicht zu unterdrücken („leibfeindlich“ zu sein ist ein schwerer Vorwurf). Tut er das nicht, unterdrückt er also seine Triebe, kann es zu „Triebstau“ kommen, „Verklemmungen“, div. psychischen und in der Folge auch körperlichen Gebrechen.
Der Geist hat die Aufgabe, sich der Einheit mit der Natur wieder bewusst zu werden. Das ist ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung aber auch der Gewöhnung, die „Stimme“ des Körpers wieder deutlicher wahr zu nehmen und ihr zu folgen.
Erst wenn der Geist nicht mehr als getrennt vom Leib, nicht mehr im Verhältnis von Diener und Herr verstanden und empfunden wird, ist der Mensch geheilt und leidet nur noch unter den Auswirkungen des Falls bei den anderen Menschen.
Praktische Konsequenzen
Ethik
Die Ethik ergibt sich direkt aus dem Erlösungsbestreben des Menschen: Gut ist jede Handlung, die der Mensch wollen würde, wenn er nicht gefallen wäre. In der Praxis ist man bemüht entfremdende (i.W. christliche) Einflüsse zu erkennen und systematisch zu ignorieren. Stattdessen sollen die natürlichen Wünsche wieder ausgelebt werden. Ein schlechtes Verhalten wird nicht mit dem Hinweis auf Werte oder Gesetze gerügt, sondern indem es in Zusammenhang mit entfremdenden Weltanschauungen gebracht wird.
Also wenn man beispielsweise die Brandrodungen der Indianer verurteilen möchte, genügt es nicht zu zeigen, dass dadurch die Umwelt zerstört wird (was natürlich der Fall ist). Man muss zeigen, dass dieses Vorgehen beispielsweise auf den Einfluss christlicher Missionare zurückzuführen ist (was hier natürlich nicht der Fall ist). Erst dann gewinnt das Verhalten eine ethische Dimension und wird als „gefallen“ oder verdorben betrachtet. Solange dieser Nachweis nicht erbracht ist, wird der Naturmystiker bis zum Umfallen dafür argumentieren, was für ein natürliches und schonendes Verfahren die Brandrodung eigentlich ist.
Pädagogik
Bei den eigenen Kindern versucht man die Wirkungen des Falls weitestgehend fern zu halten. Die Kinder sollen sich „frei“ (immer verstanden im Sinne des Erlösungswegs) entfalten können und ihren „eigenen“ Weg gehen . Das ist das höchste Ziel des Naturmystikers. Sie sollen wissen was ihnen gefällt und sich nicht von anderen davon abbringen lassen. Trotz und Frechheit sind nicht per se schlecht, sondern zunächst einmal Ausdruck eines starken eigenen Willens.
Nun legt sich die Frage nahe, ob solche Kinder nicht zu lupenreinen Egoisten erzogen werden. Dass der Naturmystiker dies nicht befürchtet, liegt an seinem Glauben an die heilsam synchronisierenden Kräfte der Natur, also dass gerade durch die Selbstliebe alle friedlich zusammen leben.
Feminismus
Da Frauen sowohl von konservativen als auch feministischen Menschen als naturverbunden betrachtet werden (und Männer eher als geistig), wird eine Gesellschaft angestrebt, in der die Frauen herrschen. Der Feminismus hat also nichts mit Gleichberechtigung zu tun, sondern strebt eine neue Gesellschaft mit einer neuen Religion und einem veränderten Bewusstsein an.
Wen dies näher interessiert, der muss nur zum Stichwort „Matriarchat“ googlen und erhält ziemlich genau das Bild von Naturmystik, das ich bis hierhin entworfen habe.
Der Tod
Kann es eine Religion ohne Jenseitsvorstellung geben? Es kommt natürlich darauf an, wie man „Religion“ definiert und welche Ansprüche man an eine Jenseitsvorstellung stellt. Kann man im Buddhismus wirklich von einer „Jenseitsvorstellung“ sprechen, wenn das eigene Bewusstsein nicht mehr weiter besteht?
So ähnlich ist es auch in der Naturmystik. Der Mensch hört zwar als Person auf zu existieren. Er erwacht also nicht in einer anderen Welt. Aber er fühlt sich irgendwie geborgen in der Vorstellung, auch in seinem Tod Teil der natürlichen Abläufe zu sein. Der Naturmystiker beruhigt sich und andere mit dem Hinweis darauf, dass „der Tod zum Leben dazu gehört“, oder dass „das Leben nun einmal so sei“, oder auch dass er wieder „zurück kehrt“ in den „Schoß der Natur“ etc...
Der Tod wird also nicht besiegt sondern anders gedeutet. Dadurch soll ihm der Schrecken genommen werden. Der Naturmystiker träumt von der Vorstellung, ohne Todesfurcht, versöhnt mit seinem Schicksal und ergeben in die natürlichen Abläufe zu sterben.
Schöpfungsmythos
Die Evolution ist der Schöpfungsmythos der Naturmystik. Nur so kann man den energischen Kampf gegen den Kreationismus erklären.
Die Evolutionstheorie erklärt zwar nichts (wenn es kein Leben oder nur einzelliges oder ein ganz anderes gäbe, widerspräche das nicht der Evolutionstheorie), aber sie entspricht ganz dem Bild, das der Naturmystiker von der Natur hat: nämlich als einer Größe, die selbstständig und ohne fremde Eingriffe (ganz wichtig!) alles hervorgebracht und geordnet hat.
Der Naturmystiker selbst wird natürlich darauf pochen, dass es eine rein wissenschaftliche Theorie sei. Nur hat das noch jeder von seinem Schöpfungsmythos behauptet.
Mögliche Einwände
Erfahrungsgemäß schwanken die Reaktionen auf die These von der Naturmystik als neuer Gesellschaftsreligion immer zwischen zwei Vorwürfen: einerseits klingt sie vielen zu esoterisch abgedreht um als Religion einer ganzen Gesellschaft anerkannt zu sein. Andererseits klingt sie zu vertraut und kommt den Menschen so „vernünftig“ vor.
Nur für „esoterische Spinner“
Tatsächlich wird die Naturmystik quer durch die Esoterik geglaubt und ernst genommen. Aber sie tut dies in dem Bewusstsein, eine kulturelle Verschiebung zu dokumentieren, die sich ohne ihr Zutun ereignet und weit über ihren eigenen Sympathisantenkreis hinaus das Bewusstsein der Menschen formt.
Eine Religion kann sogar Menschen prägen, die diese eigentlich ablehnen! Auch unter den frühen Kritikern des Christentums zeigt sich immer wieder ein deutlicher Einfluss eben der Religion, die sie ablehnen.
Im Zusammenhang mit der Naturmystik habe ich es oft erlebt, dass Menschen den einzelnen Teilen zustimmen, aber auf Abstand gehen, wenn sie die ganze Religion am Stück vor sich sehen.
Klingt selbstverständlich
Dieses Argument ist mir natürlich ein willkommener Beweis für die große Akzeptanz der Naturmystik in unserem Kulturkreis. Dass es dennoch falsch ist, könnte durch die müßige Aufzählung anderer Religionen gezeigt werden.
Keine Bezeichnung
Dieses Kennzeichen einer Religion ist sicher am schwächsten. In der Regel wird der Name ohnedies von den Gegnern vergeben. Bis dahin nenne ich sie eben „Naturmystik“.
Keine Kirche
Jede Religion braucht einen Ort, an dem der Glaube synchronisiert wird. Strittige Fragen müssen geklärt und neue Entwicklungen beurteilt werden. Z.B. gab es nach dem 11. September einen großen Synchronisationsbedarf, damit nicht manche anfangen, sich einseitig gegen den Islam zu stellen. Dies hätte leicht zu einer differenzierten Wahrnehmung des Phänomens „Monotheismus“ führen können, die natürlich nicht erwünscht war. Mittlerweile haben die Medien es geschafft, den „Fundamentalismus“ als Feind zu entwerfen und damit ist die religiöse Ruhe wieder hergestellt.
Damit bin ich schon bei der Organisation: es ist natürlich kein Kirchengebäude des Mittelalters mehr, sondern es sind die Medien. Durch sie wurde der 11. September zu einem Akt des religiösen Fanatismus und nicht zu einem Akt des islamischen Dschihad! Durch die Medien wird der Deutsche jeden Abend mit den Informationen versorgt, die er braucht, um in seinem Glauben gestärkt zu werden. Er erfährt also von der miserablen Umweltpolitik des Christen George W. Bush. Er erfährt aber wenig über die Vernichtung der Fauna durch vermeintliche Naturvölker (die im Übrigen nichts miteinander gemein haben, als die Tatsache, dass sie vom Westen als „Naturvölker“ betrachtet und verklärt werden).
Über die Partei der „Grünen“ hat diese Religion sogar eine respektable Organisation, deren Einfluss weit über ihre tatsächliche politische Kraft hinausgeht .
„Naturmystik“ ist eigentlich das Interesse an Umweltschutz
Umweltschutz und Naturmystik haben nicht nur nichts miteinander zu tun, sie schließen sich oft sogar gegenseitig aus. Wie könnte man auch seinen Gott schützen?
- So kann man m.W. den Klimawandel wenn überhaupt nur noch durch vermehrten Einsatz von Atomkraftwerken stoppen und nicht durch Windräder. Atomkraftwerke sind aber geradezu das Sinnbild einer nicht-ökologischen Energiequelle, weil sie mit Prozessen arbeiten, die in keinen Kreislauf eingebettet sind.
- Menschen, die von Kindesbeinen an mit dem Wissen aufgewachsen sind, sich niemandem unterordnen zu müssen, sehen es nicht ein, sich auf einmal dem Umweltschutz unterzuordnen. Einschränkungen fallen den Menschen offenbar immer noch schwer, vielleicht sogar schwerer als früher, obwohl Umweltschutz schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema in der Schule ist.
- Viele Menschen haben gerade durch die Naturmystik das Bedürfnis, naturnah zu wohnen. Dadurch kommt es erst recht zur Zersiedlung der Landschaft und der Abholzung von Gelände und zu langen Anfahrtswegen.
- Es sind gerade die eigenen Begierden, die ständig neue Erfindungen und Unterhaltungen nötig machen. Nicht ein natürliches Ausleben dieser Gier bringt den Menschen dazu, die Umwelt zu schonen, sondern gerade das Gegenteil: seine Selbstbeherrschung und Selbstbescheidung! Gerade die sog. „Naturreligionen“ sind ein gutes Beispiel dafür, dass der Mensch durch religiöse Scheu von der Gier abgehalten wird. Bei ihnen ist es keine Ehrfurcht vor der Natur, sondern Scheu vor Geistern und Götzen, wenn sie einen Baum nicht fällen oder einen Berg nicht betreten. Sie haben oft keine Angst vor dem Klimakollaps, sondern vor dem Zorn der Geister oder vor schädlichen Wirkungen irgendwelcher Gegenstände oder Handlungen!
Die Naturmystik kennt keinen Gott
Das stimmt. Bekanntlich gilt das aber auch für den Buddhismus und jede Form des Pantheismus. Trotzdem können wir in allen Beispielen von „Religionen“ sprechen. Vermutlich liegt das daran, dass der jeweilige Glaube das Gefühl der Hingabe kennt: Der Geist steht also nicht über den Dingen, sondern soll in ihnen aufgehen und in dem Bewusstsein der Einheit sich selbst auflösen.
Wollte man diesem Denken die Religion absprechen, würde vermutlich ein großer Teil der christlichen Mystiker religionslos.
Konsequenzen
Wenn die These von der Naturmystik als deutscher Gesellschafts-Religion trifft, ist Deutschland ein religiöser Staat, der alle anderen Religionen an den eigenen Werten misst. Es gäbe folglich keine Religionsfreiheit unter der Herrschaft der Vernunft, sondern nur die schwindende Duldsamkeit einer herrschenden Staatsreligion.
Die Grünen wären eine religiöse Partei, und viele Zeitungen bekämen ein greifbares Profil, weil sie nun einer Weltanschauung zugeordnet werden können, und nicht nur einer politischen Richtung.
Die Grenzen zwischen Entwicklungspolitik und Mission wären obsolet.
Ein Großteil der in Deutschland verkauften Bücher wäre „Erbauungsliteratur“ der Naturmystik (z.B.: Person XY ist in unterdrückenden Verhältnissen aufgewachsen und hat dann zu sich selbst gefunden).
Gruß
Nathan
Die Religion der Deutschen
Die Säkularisierung des Abendlandes scheint eine Tatsache zu sein. Von den einen wird sie begrüßt, von den anderen bedauert. Es wird diskutiert, wie weit sie sich bereits entwickelt hat, welche Auswirkungen sie haben mag und wie man sich darauf einstellen sollte. Aber niemand fragt, ob es sie überhaupt gibt. Die Abkehr vom Christentum ist nicht automatisch die Hinwendung zur Religionslosigkeit.
In diesem Artikel vertrete ich die These, dass eine neue Religion an die Stelle des Christentums getreten ist, eine Religion, die sich ihrer selbst noch nicht bewusst und doch jedem vertraut ist.
Ihre Wurzeln liegen in der Romantik, sie erfuhr in der Wandervogelbewegung und dann vor allem im Nationalsozialismus eine Renaissance und lebt in der Wählerschaft der „Grünen“ bis heute weiter.
Da es keine anerkannte Definition für den Begriff „Religion“ gibt, wähle ich zu ihrem Nachweis einen induktiven Weg: im Folgenden werde ich verschiedene Elemente der Religion beschreiben. Am Ende dieses Überblicks dürfte klar sein, dass die dargestellte Religion fast jeder Definition genügt. Und es wird ebenfalls klar sein, weshalb ich sie als „Naturmystik“ bezeichne.
Was ist „Naturmystik“?
Die Naturmystik ist eine Religion, in deren Zentrum die Natur steht und deren Heilserwartung an die Vereinigung (daher „Mystik“) mit der Natur gebunden ist. Was dies bedeutet, soll im Folgenden entfaltet werden.
Die Natur im Urzustand
Der Natur werden im Wesentlichen alle Eigenschaften eines Gottes zugeschrieben: sie hat alles aus sich hervorgebracht, gleichsam aus dem Nichts (so genau weiß man das nicht). Sie hat alles in Schönheit und Harmonie geordnet. Sie ist gut und vollkommen.
Der Fall
Durch diese positive Sicht der Natur stellt sich die Frage nach der „Theodizee“: Wie konnte es dazu kommen, dass die Erde ein so unwirtlicher Raum ist und wir uns so schlecht fühlen und benehmen?
Als Antwort verweist der Naturmystiker auf unsere „Entfremdung“ von der Natur. Der Mensch ist als Körper eigentlich ein Teil von ihr und hat daher Anteil an ihren guten Eigenschaften. Er kann eigentlich im Einklang mit den anderen Lebewesen leben und ist wie sie Glied in einem Ökosystem. D.h. nicht, dass er keine geistigen Fähigkeiten entwickelt hat. Aber so lange er eine Einheit mit der Natur bildete, war auch sein geistiges und sogar religiöses Leben von den gleichen harmonisierenden Kräften der Natur geleitet. Der Mensch entwickelte zwar Kulte und („Natur“-)Religionen, aber er lebte mit unterschiedlichen Vorstellungen friedlich zusammen (harmonisch wie in einem Ökosystem).
Dieses sensible System wurde vordergründig durch die Technisierung des Alltags gestört, diese aber wiederum durch den Monotheismus hervorgebracht, der als der eigentliche Störer des geistigen Ökosystems angesehen wird. Seit die Menschen an den einen Gott glauben, duldeten sie keine anderen Religionen mehr. Sie entfremdeten sich untereinander, sie entfremdeten sich von der Natur, weil sie nach unnatürlichen Geboten leben mussten und das alles, weil sie durch diesen Glauben von sich selbst entfremdet wurden. Selbst- und Nächstenliebe sowie Umweltschutz hängen in der Naturmystik unauflöslich zusammen. Denn da der Natur heilsam-synchronisierende Kräfte zugeschrieben werden, führt wahre Selbstliebe nicht nur automatisch zur Nächstenliebe, sie ist sogar der einzige Weg dorthin! „Zu sich selbst zu finden“ ist der einzige Weg um zu meinem Nächsten und auch der Natur zu finden .
„Sich selbst“ meint hier vor allem den eigenen Körper. Die Menschen entfremdeten sich von ihrem Körper durch Vorstellungen, die ihrem Körper nicht entsprachen und erlebten ihren Körper als Feind, den sie beherrschen mussten. Ähnlich fremd wurde ihnen auch die Natur, die sie nun zu beherrschen versuchten. Durch diesen Bruch wurde die Technisierung des Abendlandes möglich und machte die Natur zur fremden Urlaubswelt.
Die Erlösung
Ein Ausweg aus diesem Schlammassel besteht negativ darin, sich die eigene Entfremdung, insbesondere die christlichen Einflüsse, bewusst zu machen und den Kontakt zu sich selbst, d.h. dem eigenen Körper, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen und der Natur wiederherzustellen. Dies geschieht äußerlich über die Anwendung einer Ethik, von der der Gläubige denkt, dass sie das Ergebnis eines natürlichen Lebens sei.
Noch wichtiger aber ist die innere Entwicklung: der Gläubige versucht, sich seinen als natürlich vorgestellten Trieben so weit wie möglich zu fügen und sie nicht zu unterdrücken („leibfeindlich“ zu sein ist ein schwerer Vorwurf). Tut er das nicht, unterdrückt er also seine Triebe, kann es zu „Triebstau“ kommen, „Verklemmungen“, div. psychischen und in der Folge auch körperlichen Gebrechen.
Der Geist hat die Aufgabe, sich der Einheit mit der Natur wieder bewusst zu werden. Das ist ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung aber auch der Gewöhnung, die „Stimme“ des Körpers wieder deutlicher wahr zu nehmen und ihr zu folgen.
Erst wenn der Geist nicht mehr als getrennt vom Leib, nicht mehr im Verhältnis von Diener und Herr verstanden und empfunden wird, ist der Mensch geheilt und leidet nur noch unter den Auswirkungen des Falls bei den anderen Menschen.
Praktische Konsequenzen
Ethik
Die Ethik ergibt sich direkt aus dem Erlösungsbestreben des Menschen: Gut ist jede Handlung, die der Mensch wollen würde, wenn er nicht gefallen wäre. In der Praxis ist man bemüht entfremdende (i.W. christliche) Einflüsse zu erkennen und systematisch zu ignorieren. Stattdessen sollen die natürlichen Wünsche wieder ausgelebt werden. Ein schlechtes Verhalten wird nicht mit dem Hinweis auf Werte oder Gesetze gerügt, sondern indem es in Zusammenhang mit entfremdenden Weltanschauungen gebracht wird.
Also wenn man beispielsweise die Brandrodungen der Indianer verurteilen möchte, genügt es nicht zu zeigen, dass dadurch die Umwelt zerstört wird (was natürlich der Fall ist). Man muss zeigen, dass dieses Vorgehen beispielsweise auf den Einfluss christlicher Missionare zurückzuführen ist (was hier natürlich nicht der Fall ist). Erst dann gewinnt das Verhalten eine ethische Dimension und wird als „gefallen“ oder verdorben betrachtet. Solange dieser Nachweis nicht erbracht ist, wird der Naturmystiker bis zum Umfallen dafür argumentieren, was für ein natürliches und schonendes Verfahren die Brandrodung eigentlich ist.
Pädagogik
Bei den eigenen Kindern versucht man die Wirkungen des Falls weitestgehend fern zu halten. Die Kinder sollen sich „frei“ (immer verstanden im Sinne des Erlösungswegs) entfalten können und ihren „eigenen“ Weg gehen . Das ist das höchste Ziel des Naturmystikers. Sie sollen wissen was ihnen gefällt und sich nicht von anderen davon abbringen lassen. Trotz und Frechheit sind nicht per se schlecht, sondern zunächst einmal Ausdruck eines starken eigenen Willens.
Nun legt sich die Frage nahe, ob solche Kinder nicht zu lupenreinen Egoisten erzogen werden. Dass der Naturmystiker dies nicht befürchtet, liegt an seinem Glauben an die heilsam synchronisierenden Kräfte der Natur, also dass gerade durch die Selbstliebe alle friedlich zusammen leben.
Feminismus
Da Frauen sowohl von konservativen als auch feministischen Menschen als naturverbunden betrachtet werden (und Männer eher als geistig), wird eine Gesellschaft angestrebt, in der die Frauen herrschen. Der Feminismus hat also nichts mit Gleichberechtigung zu tun, sondern strebt eine neue Gesellschaft mit einer neuen Religion und einem veränderten Bewusstsein an.
Wen dies näher interessiert, der muss nur zum Stichwort „Matriarchat“ googlen und erhält ziemlich genau das Bild von Naturmystik, das ich bis hierhin entworfen habe.
Der Tod
Kann es eine Religion ohne Jenseitsvorstellung geben? Es kommt natürlich darauf an, wie man „Religion“ definiert und welche Ansprüche man an eine Jenseitsvorstellung stellt. Kann man im Buddhismus wirklich von einer „Jenseitsvorstellung“ sprechen, wenn das eigene Bewusstsein nicht mehr weiter besteht?
So ähnlich ist es auch in der Naturmystik. Der Mensch hört zwar als Person auf zu existieren. Er erwacht also nicht in einer anderen Welt. Aber er fühlt sich irgendwie geborgen in der Vorstellung, auch in seinem Tod Teil der natürlichen Abläufe zu sein. Der Naturmystiker beruhigt sich und andere mit dem Hinweis darauf, dass „der Tod zum Leben dazu gehört“, oder dass „das Leben nun einmal so sei“, oder auch dass er wieder „zurück kehrt“ in den „Schoß der Natur“ etc...
Der Tod wird also nicht besiegt sondern anders gedeutet. Dadurch soll ihm der Schrecken genommen werden. Der Naturmystiker träumt von der Vorstellung, ohne Todesfurcht, versöhnt mit seinem Schicksal und ergeben in die natürlichen Abläufe zu sterben.
Schöpfungsmythos
Die Evolution ist der Schöpfungsmythos der Naturmystik. Nur so kann man den energischen Kampf gegen den Kreationismus erklären.
Die Evolutionstheorie erklärt zwar nichts (wenn es kein Leben oder nur einzelliges oder ein ganz anderes gäbe, widerspräche das nicht der Evolutionstheorie), aber sie entspricht ganz dem Bild, das der Naturmystiker von der Natur hat: nämlich als einer Größe, die selbstständig und ohne fremde Eingriffe (ganz wichtig!) alles hervorgebracht und geordnet hat.
Der Naturmystiker selbst wird natürlich darauf pochen, dass es eine rein wissenschaftliche Theorie sei. Nur hat das noch jeder von seinem Schöpfungsmythos behauptet.
Mögliche Einwände
Erfahrungsgemäß schwanken die Reaktionen auf die These von der Naturmystik als neuer Gesellschaftsreligion immer zwischen zwei Vorwürfen: einerseits klingt sie vielen zu esoterisch abgedreht um als Religion einer ganzen Gesellschaft anerkannt zu sein. Andererseits klingt sie zu vertraut und kommt den Menschen so „vernünftig“ vor.
Nur für „esoterische Spinner“
Tatsächlich wird die Naturmystik quer durch die Esoterik geglaubt und ernst genommen. Aber sie tut dies in dem Bewusstsein, eine kulturelle Verschiebung zu dokumentieren, die sich ohne ihr Zutun ereignet und weit über ihren eigenen Sympathisantenkreis hinaus das Bewusstsein der Menschen formt.
Eine Religion kann sogar Menschen prägen, die diese eigentlich ablehnen! Auch unter den frühen Kritikern des Christentums zeigt sich immer wieder ein deutlicher Einfluss eben der Religion, die sie ablehnen.
Im Zusammenhang mit der Naturmystik habe ich es oft erlebt, dass Menschen den einzelnen Teilen zustimmen, aber auf Abstand gehen, wenn sie die ganze Religion am Stück vor sich sehen.
Klingt selbstverständlich
Dieses Argument ist mir natürlich ein willkommener Beweis für die große Akzeptanz der Naturmystik in unserem Kulturkreis. Dass es dennoch falsch ist, könnte durch die müßige Aufzählung anderer Religionen gezeigt werden.
Keine Bezeichnung
Dieses Kennzeichen einer Religion ist sicher am schwächsten. In der Regel wird der Name ohnedies von den Gegnern vergeben. Bis dahin nenne ich sie eben „Naturmystik“.
Keine Kirche
Jede Religion braucht einen Ort, an dem der Glaube synchronisiert wird. Strittige Fragen müssen geklärt und neue Entwicklungen beurteilt werden. Z.B. gab es nach dem 11. September einen großen Synchronisationsbedarf, damit nicht manche anfangen, sich einseitig gegen den Islam zu stellen. Dies hätte leicht zu einer differenzierten Wahrnehmung des Phänomens „Monotheismus“ führen können, die natürlich nicht erwünscht war. Mittlerweile haben die Medien es geschafft, den „Fundamentalismus“ als Feind zu entwerfen und damit ist die religiöse Ruhe wieder hergestellt.
Damit bin ich schon bei der Organisation: es ist natürlich kein Kirchengebäude des Mittelalters mehr, sondern es sind die Medien. Durch sie wurde der 11. September zu einem Akt des religiösen Fanatismus und nicht zu einem Akt des islamischen Dschihad! Durch die Medien wird der Deutsche jeden Abend mit den Informationen versorgt, die er braucht, um in seinem Glauben gestärkt zu werden. Er erfährt also von der miserablen Umweltpolitik des Christen George W. Bush. Er erfährt aber wenig über die Vernichtung der Fauna durch vermeintliche Naturvölker (die im Übrigen nichts miteinander gemein haben, als die Tatsache, dass sie vom Westen als „Naturvölker“ betrachtet und verklärt werden).
Über die Partei der „Grünen“ hat diese Religion sogar eine respektable Organisation, deren Einfluss weit über ihre tatsächliche politische Kraft hinausgeht .
„Naturmystik“ ist eigentlich das Interesse an Umweltschutz
Umweltschutz und Naturmystik haben nicht nur nichts miteinander zu tun, sie schließen sich oft sogar gegenseitig aus. Wie könnte man auch seinen Gott schützen?
- So kann man m.W. den Klimawandel wenn überhaupt nur noch durch vermehrten Einsatz von Atomkraftwerken stoppen und nicht durch Windräder. Atomkraftwerke sind aber geradezu das Sinnbild einer nicht-ökologischen Energiequelle, weil sie mit Prozessen arbeiten, die in keinen Kreislauf eingebettet sind.
- Menschen, die von Kindesbeinen an mit dem Wissen aufgewachsen sind, sich niemandem unterordnen zu müssen, sehen es nicht ein, sich auf einmal dem Umweltschutz unterzuordnen. Einschränkungen fallen den Menschen offenbar immer noch schwer, vielleicht sogar schwerer als früher, obwohl Umweltschutz schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema in der Schule ist.
- Viele Menschen haben gerade durch die Naturmystik das Bedürfnis, naturnah zu wohnen. Dadurch kommt es erst recht zur Zersiedlung der Landschaft und der Abholzung von Gelände und zu langen Anfahrtswegen.
- Es sind gerade die eigenen Begierden, die ständig neue Erfindungen und Unterhaltungen nötig machen. Nicht ein natürliches Ausleben dieser Gier bringt den Menschen dazu, die Umwelt zu schonen, sondern gerade das Gegenteil: seine Selbstbeherrschung und Selbstbescheidung! Gerade die sog. „Naturreligionen“ sind ein gutes Beispiel dafür, dass der Mensch durch religiöse Scheu von der Gier abgehalten wird. Bei ihnen ist es keine Ehrfurcht vor der Natur, sondern Scheu vor Geistern und Götzen, wenn sie einen Baum nicht fällen oder einen Berg nicht betreten. Sie haben oft keine Angst vor dem Klimakollaps, sondern vor dem Zorn der Geister oder vor schädlichen Wirkungen irgendwelcher Gegenstände oder Handlungen!
Die Naturmystik kennt keinen Gott
Das stimmt. Bekanntlich gilt das aber auch für den Buddhismus und jede Form des Pantheismus. Trotzdem können wir in allen Beispielen von „Religionen“ sprechen. Vermutlich liegt das daran, dass der jeweilige Glaube das Gefühl der Hingabe kennt: Der Geist steht also nicht über den Dingen, sondern soll in ihnen aufgehen und in dem Bewusstsein der Einheit sich selbst auflösen.
Wollte man diesem Denken die Religion absprechen, würde vermutlich ein großer Teil der christlichen Mystiker religionslos.
Konsequenzen
Wenn die These von der Naturmystik als deutscher Gesellschafts-Religion trifft, ist Deutschland ein religiöser Staat, der alle anderen Religionen an den eigenen Werten misst. Es gäbe folglich keine Religionsfreiheit unter der Herrschaft der Vernunft, sondern nur die schwindende Duldsamkeit einer herrschenden Staatsreligion.
Die Grünen wären eine religiöse Partei, und viele Zeitungen bekämen ein greifbares Profil, weil sie nun einer Weltanschauung zugeordnet werden können, und nicht nur einer politischen Richtung.
Die Grenzen zwischen Entwicklungspolitik und Mission wären obsolet.
Ein Großteil der in Deutschland verkauften Bücher wäre „Erbauungsliteratur“ der Naturmystik (z.B.: Person XY ist in unterdrückenden Verhältnissen aufgewachsen und hat dann zu sich selbst gefunden).
Gruß
Nathan