von Nanna » Di 10. Mai 2011, 18:00
Eine totale Sicherheit vor Amokläufen wird es nur unter den Bedingungen totaler Überwachung geben. Die Hoffnung, durch eine philosophisch-moralische Weiterentwicklung der Gesellschaft eine Erlösung von "amoralischen Zuständen", wie du sie nennst, herbeizuführen und dadurch Amokläufe zu verhindern, ist halt doch sehr utopisch.
Wir müssen uns bewusst sein, dass Charaktereigenschaften durchaus auch einiges mit den Genen zu tun haben und die Entwicklung von unerwünschten Charaktereigenschaften unter bestimmten Bedinungen nunmal stattfindet. Es ist nicht unbedingt eine kranke Gesellschaft, die solche Täter hervorbringt, es ist die gegenüber jeglichen sozialen und emotionalen Regungen unempfindliche Statistik, die uns sagt, dass das Zusammenkommen bestimmter Faktoren irgendwann irgendwo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geschehen und zu einem Gewaltausbruch führen wird. Natürlich haben Gesellschaft und zeitgenössische Kultur viel damit zu tun, wie wahrscheinlich solche Ereignisse sind, trotzdem ist der Umkehrschluss im Einzelfall nicht automatisch zulässig.
Wie ich schon weiter oben geschrieben habe, macht sich gerade im Zusammenhang mit Amokläufen und extremem ideologischen Fanatismus immer wieder die narzisstische Persönlichkeitsstörung bemerkbar. Es lässt sich nicht immer so einfach sagen, dass der Täter ein unschuldiges Mobbingopfer war, der von der Gesellschaft in eine tragische Situation getrieben wurde, wo er mehr oder weniger zum ultimativen Befreiungsschlag gezwungen war. Mindestens ebensosehr steigern sich spätere Attentäter und Fanatiker auch in ihr Rollenverständnis hinein, missinterpretieren soziale Signale und sind am Ende von einer gewaltigen Realitätsverschiebung betroffen, in der die gesamte Umwelt feindselig erscheint und Kompromisse und distanzierte Selbstreflexion kaum mehr möglich sind.
Dein "Lösungsansatz", den ich hier bewusst in Anführungszeichen setze, ist übrigens offenbar auch ein wenig im Lichte der Abschottung vor unangenehmen Tatsachen verfasst worden. Es ist sehr angenehm, weil komplexitätsreduzierend, sich ein dichotomisches Bild aus mutwillig egoistischer und böswilliger Mehrheitsgesellschaft und armem ausgeschlossenen Individuum auszumalen. Mit den realen sozialen und psychischen Gegebenheiten hat das nur wenig zu tun. Wenn die Medien schreiben, dass keiner so recht weiß, warum ein Amokläufer Amok läuft, dann ist nicht gelogen und drückt die Ratlosigkeit des Otto-Normalmenschen aus, der derartige ideologische und gewalttätige Exzesse mithilfe seiner eigenen Prämissen über Leben und Moral nicht nachvollziehen kann und auch keine akademische Distanz dazu einnehmen kann, um sich so etwas zu erklären oder es zumindest als statistisches Freakereignis des Lebens zu akzeptieren. Dass solche Dinge nämlich einfach passieren, dass sie statistische Anomalien sind, die irgendwann irgendwo mit geringer Vorwarnzeit auftreten, dass Narzissmus und Unfähigkeit sich Hilfe zu holen und/oder sie anzunehmen nunmal normale menschliche Eigenschaften sind, dass irgendwo irgendwer eine Waffe herumliegen lässt und irgendwo irgendwer kruden Theorien Glauben schenkt passiert einfach. Ein solches Faktum ist für die meisten Menschen aber eben schwer zu akzeptieren, weshalb man nach jedem Amoklauf dieselben Bilder mit den Leuten sieht, die große "Warum?"-Schilder tragen und nicht fassen können, dass Menschen irrational agieren, obwohl sie das mindestens 200mal am Tag bei weniger folgenreichen Aktivitäten beobachten können.