Danke für die sachlichen Ausführungen, ich denke hier haben wir jetzt wirklich einen interessanten Diskussionsansatz.
Vollbreit hat geschrieben:Also, was genau ist denn falsch dargestellt? Was Du da kritisieren willst, das musst Du schon selbst wissen.
Er hat Foucault und Derrida einen sehr radikalen Relativismus unterstellt, was meiner Ansicht nach ungerechtfertigt ist. Ich jedenfalls lese bei beiden raus (wobei ich weiß, dass Foucault in früheren Werken wesentlich relativistischer war als später), dass sie jedoch weitaus differenzierter in der Hinsicht sind. Natürlich ist eine Aussage wie „Es gibt nichts außerhalb des Kontexts“ relativistisch, aber Derrida hat ja darauf eine Methode aufgebaut, eben den Kontext selbst zu erforschen (was sehr nah an der Quantenphysik). Gut, Wilber schrieb ja nicht, dass dies grundsätzlich schlecht wäre, aber ich wurde beim Lesen das Gefühl nicht los, als würde Wilber meinen, man müsse sich nur so weit damit befassen, wie er es selbst in seine Theorie integriert hat und das wirkt etwas überheblich. Dieses Gefühl hatte ich jedenfalls beim Lesen.
Vollbreit hat geschrieben:In der Tat liegt in der postmodernen Betrachtung jede Menge Zündstoff, der Naturalisten gar nicht ohne weiteres in den Kram passen muss. Denn auch vermeintliche Fakten, auf die Naturalisten gerne rekurrieren, sind kontextabhängig, sind Interpretationen.
Richtig, wobei ich mich dennoch als Naturalisten betrachte, obwohl ich ein großer Freund der postmodernen Skepsis, aber auch des kritischen Rationalismus bin. Ich denke schon, dass sich das nicht unbedingt ausschließen muss und ich habe auch den Eindruck, dass es einige – gerade renommierte – Wissenschaftler gibt, die einen gewissen Erkenntnisskeptizismus beibehalten.
Vollbreit hat geschrieben:Und ja, jede Interpretation ist möglich, aber nicht gleichwertig, sondern kann zu wirrem Mist mutieren. Sokal und Eco würden dem zustimmen.
Wobei Eco doch ganz anders differenzieren würde als Sokal, jedenfalls nach dem, was ich gelesen habe. Sokal jedenfalls hat einiges in der „Postmoderne“ sehr offensichtlich nicht verstanden, wobei ich annehme, dass viele amerikanische Studenten, die darauf abfahren, es ebenso wenig verstanden haben und ich auch verstehen kann, dass Sokal davon genervt war. Dennoch finde ich, dass sein Schuss nach hinten losging.
Vollbreit hat geschrieben:Dennoch bleibt, dass auch Fakten, Tatsachen, whatever, erstens, schon durch Kontexte vorselektiert sind und neben dem, was sie einblenden, anderes ausblenden und zweitens, als Fakten an sich vollkommen bedeutungslos sind, wenn nicht auf der anderen Seite ein Interpret steht, der die Fakten zu interpretieren versteht. Sie gewinnen erst dann Relevanz, als behauptende Aussagen, die einen Wahrheitsanspruch postulieren.
Meine Theorie ist ja, dass das, was dazwischen ist (also die Beziehung), das eigentlich Reale ist, wie in der Quantenphysik. Das macht eben beide Seiten „unscharf“, sowohl die „Fakten“ als auch den Interpreten.
Louis Althusser hat in „Für Marx“ erwähnt, dass für ihn die Praxis der Erkenntnisweg ist (die genaue Formulierung weiß ich jetzt nicht, hab mir da leider keine Notiz gemacht). Das war quasi auch eine Kritik an die gängige Wissenschaftliche Methode, die nur Dinge betrachtet und beschreibt, aber die Sachen nicht über die Praxis verstehen will. Ist nicht dieses dazwischen genau das, eine Praxis?
Vollbreit hat geschrieben:Wilber kritisiert genau jenen Aspekt der Überinterpretation und der Beliebigkeit, vielleicht ist er nicht der glänzendste Interpret der Poststrukturalisten, doch dass sie gerne in einen performativen Widerspruch schlittern, nun mit der Analyse steht er wahrlich nicht allein.
Wohl wahr, allerdings finde ich es immer schwierig kollektiv von „den Poststrukturalisten“ in solch einem Zusammenhang zu sprechen, da es ja recht viele verschiedene Ausprägungen gibt. Neulich las ich ein Interview mit Jean Beaudrillard, wo er behauptete rechte Gewalt wäre Gewalt, die jeden Sinn verloren hat:
Jean Beaudrillard hat geschrieben:Ja, das ist die pure, die reine Gewalt, sinnlose Gewalt, also die reine Form der Gewalt, gar nicht mehr determiniert, bzw. keine historische Gewalt mehr. Eine Gewalt, die gewalttätiger ist als die Gewalt, also eine Hypergewalt, und hier auch ohne Finalität, eine tautologische Gewalt, die an sich selbst sich erschöpft, und aus sich selbst ihre eigene Substanz schöpft. Dies ist also keine historische, keine perspektivistische Gewalt, mit einem Ursprung, einer Perspektive usw., sondern eine Virulenz, eine Gewalt durch reine Kontiguität.
Das ist natürlich reiner Quatsch. Es gibt durchaus einen Sinn, der dahintersteckt und das zu leugnen finde ich sehr gefährlich. War ja zuletzt bei Breivik auch so, dass es von allen Seiten hieß, es wäre nicht zu verstehen und so weiter. Dabei war das eine – seiner Sichtweise nach – völlig folgerichtige Handlung. Und es ist absolut wichtig, das nachzuvollziehen, wenn man solche Gewalt verhindern möchte (aber vielleicht möchte Beaudrillard das nicht, vielleicht will er nur zeigen, wie toll er schwadronieren kann, von einem ’Pataphysiker hätte ich aber mehr erwartet).
Aber im Gegensatz dazu finde ich, dass gerade Foucault und Derrida sich meistens sehr differenziert geäußert haben.
Vollbreit hat geschrieben:Wenn ich Wilber richtig gelesen habe, gibt er sich keineswegs mit den Antworten der Religionen zufrieden, sondern verwirft sie alle als defizitär. Nicht gänzlich falsch, angemessen, für die Zeit, in der man bestimmte Mittel zur Verfügung hatte, nicht nur technisch, auch semantisch, weltanschaulich, aber unterm Strich ist Wilber alles andere als ein Fürsprecher von Religion. Und dort wo religiöse Texte interpretiert werden, schreibt er den Mehrgehalt der rationalen Interpretation zu. Rationalität kann alles, was der Mythos kann und ein bisschen mehr, schreibt er, auch ziemlich wörtlich, in „Eros, Kosmos, Logos“.
Ich wollte ihm auch nicht unterstellen, Befürworter von Religionen zu sein, aber in diesem Vorwort liest es sich durchaus so, als würde er alles Naturwissenschaftliche grundsätzlich in die erste Kategorie einordnen und alles Religiöse/Spirituelle/Esoterische in die zweite. Ich nehme an, dass Dir in dem Fall klar ist, warum ich das für sehr undifferenziert halte.
Ich sehe da durchaus eine Tendenz drin, nämlich, dass er damit zumindest vorhat, sich Leuten schmackhaft zu machen, die sich für „Übernatürliches“ interessieren – es hat schon was von einem Verkaufstext.
Ich habe damit schon ein kleines Problem, da ich finde, dass man erst eine gewisse Stabilität in sich selbst erreicht haben sollte, um sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen, sonst fällt man wirklich schnell auf Gurus herein (wobei letztere aus gleichen Gründen auch auf sich selbst hereinfallen – Alice Miller hat das in dem Buch „Wege des Lebens“ sehr eindrucksvoll beschrieben, wie es immer wieder auch ungewollt zur Bildung sektenartiger Strukturen kommt). Man kommt leicht in eine Abhängigkeitsstruktur, wenn man sich bestimmte Verhältnisse aus der Kindheit nicht erstmal bewusst gemacht hat. Aber das wäre wieder ein neues Thema.
Vollbreit hat geschrieben:Es ist nur nicht sonderlich befriedigend einerseits eine Schöpfung aus dem Nichts anzunehmen, oder andererseits Materie als immer schon existent seiend zu postulieren. Die Frage wo diese oder jene Materie denn nun herkommt in einem Kausalitätsgefüge, bei dem man davon ausgeht, dass nichts ohne Ursache geschieht, ist ja nicht irre.
Natürlich nicht. Mir gefällt allerdings die Idee, dass es „ursprünglich“ (kein guter Begriff, da ich damit etwas beschreiben will, wo Raum und Zeit nicht existieren) eine totale Harmonie gab, die das totale Nichts bedeutete und die Existenz von Allem eine Störung in dieser Harmonie ist, das ganze Universum, Raum und Zeit etc. nichts weiter als ein Fehler sind.
Vollbreit hat geschrieben:Die Antworten die Wilber favorisiert kommen nicht aus der Religion, sondern aus der Mystik.
Im Sinne Wilbers gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen Religion und Mystik, der kurz gesagt darin besteht, dass Religion der mehr oder weniger buchstäbliche Glaube an einen Schöpfungsmythos ist. Von der Mystik nimmt Wilber an, dass sie auf Erfahrenem beruht, auf Experimenten, die wie jedes andere Experiment auch in einen Pool einfließt und diskutiert werden kann, sinnigerweise von denen, die das Experiment vorher durchgeführt haben.
Das Experiment was er meint, ist die Meditation oder eine vergleichbare spirituelle Praxis.
Das erinnert mich immer sehr an den Buddhismus, wo dann auch letztendlich die Meditation für alles herhalten muss. Ich finde das immer etwas schwierig, da ich einerseits auch bedenke, dass eine Sprache zu begrenzt ist, um alles damit auszudrücken, andererseits aber ohne Sprache die Kommunizierbarkeit verloren geht, was den Austausch erschwert. Nach dem, was ich so festgestellt habe, sind die Schranken, die uns im Bewusstsein gegeben wurden zum Großteil Schranken, die durch Sprache (auch im weiteren Sinne) kommuniziert wurden. Das was Alice Miller meint, wenn sie von dem Gebot „Du sollst nicht merken“ spricht. Fast jedem Menschen wird in der Kindheit verboten, zu erkennen, da ist es kein Wunder, dass die Erkenntnisschranke bleibt, aber viel Schlimmer noch, dieses Verbot muss als Kind auch noch als gut befunden werden und diese Idealisierung bleibt später auch. Für mich sieht es so aus, als wäre die meiste spirituelle Praxis vor allem eine Alibipraxis um sich nicht mit der Wahrheit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und viel zu oft wird dabei immer gleich der religiöse Akt der Verzeihung verlangt. Ich weiß, dass das gerade etwas ausschweift, aber ich komme da wohl nicht drum rum, um meine Skepsis angemessen zu begründen.
Wenn jemand es allerdings schaffen würde, das was Alice Miller erkannt hat, in solch eine Theorie oder auch Praxis zu integrieren, dann wäre ich sehr gespannt, was dabei rauskäme.
Vollbreit hat geschrieben:Die mehr oder weniger entscheidende Frage in diesem Kontext ist nun, welcher Status diesen Experimenten zukommt. Ist das nur privater Kram? Erfährt jeder was anderes? Oder gibt es Konstanten? Falls ja, und Wilber meint, dass es so ist, was bedeutet dann das? Sind das biologische Programme, auf die man stößt? Haben sie irgendeinen erkenntnistheoretischen Wert?
Die Frage ist natürlich dabei auch immer, inwieweit es bei solchen Experimenten auch zu kollektiver Selbsttäuschung kommt … das erlebt man ja im Esoterik-Bereich öfter (womit ich jetzt nicht Wilber damit da einordnen will), deswegen ist es für mich fraglich, in wie weit da ein erkenntnistheoretischer Wert bei herauskommen kann. Ich denke jetzt zumindest an die Experimente von Andrew Cohen, über die sich die beiden öfter austauschen (habe da eine Ausgabe von seinem Magazin hier rumliegen und auch das Zwiegespräch zwischen den beiden darin gelesen).
Vollbreit hat geschrieben:Dass der Szientismus oft religiös ist, ist eine Auffassung die ich teile.
Da differenziere ich auch klar zwischen wissenschaftlich-erkenntnistheoretischen Positivismus und wissenschaftlicher Methode an sich, letztere ist für mich sehr wertvoll, aber damit einen Letztbegründungsanspruch stellen würde ich nicht.
Vollbreit hat geschrieben:Nun, er zählt Habermas dazu, zu dem Sammelsurium das er Postmoderne nennt.
Ah, okay, dann aber nicht bei dem, was ich gelesen habe (da hat er ihn auch nicht ausgeschlossen, sondern in dem Zusammenhang nicht erwähnt).
Vollbreit hat geschrieben:Und Du meinst, das täte er, weil er Habermas Fan ist?
Eigentlich grenzt er sich von Habermas auch ab, da er ihn für einen Rationalisten reinsten Wasser hält, auch das ein ziemlich wörtliches Zitat.
Ich meinte eher, dass es eine Möglichkeit ist, die mir wahrscheinlich scheint. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass er sehr positiv von Habermas angetan ist. Aber das war vielleicht doch etwas weit hergeholt.