Känguru predigt Keuschheit.

Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Mi 24. Jul 2013, 22:10

Lumen hat geschrieben:Ich fasse das kurz zusammen. Du bist der Meinung, dass meine Ansicht „zutiefst ideologisch“ sei, und greifst (recht aggressiv) vor, dass ich unfähig wäre, dies auch so anzuerkennen.
In dem Fall würde ich sogar noch vorher zweifeln, ich glaube, nicht, dass Du den Punkt, wo es ideologisch wird nicht nur nicht anerkennst, ich glaube, das Du ihn nicht erkennst.

Du kannst mich aber widerlegen und ich werde das postwendend anerkennen, schreib einfach hin, was Du meinst, warum ich denke, dass es sich um eine ideologische Äußerung handelt. Wenn klar ist, dass wir über dasselbe reden, können wir das sofort abhaken und weitergehen.

Lumen hat geschrieben:Dabei entspricht die Aussage von dir „Tatsächlich ist es für den einen“ genau dem Gebiet, dass ich zwischen „Turnübung“ und „größtmöglicher Nähe“ abgesteckt habe. Weitere Gegenpaare sind, zum einen Horomone und Chemie (die „sterile Seite“), und zum anderen, dass Sexualität die für Paare offenbar wichtig ist (die „nicht sterile Seite“).
Dass Du diesen banalen Gegensatz siehst ist mir klar und das war auch nicht meine Kritik.
Mein Punkt war die fehlenden Positionierung. Offenbar ist Sexualität für Paare wichtig.
Was erlebt man denn, die Hirnchemie?

Lumen hat geschrieben:Ich könnte schreiben, dass „ich gerne schwimmen gehe, vor allem im Sommer“ (was stimmt), oder schreiben, dass „offenbar viele Menschen schwimmen gehen, vor allem Sommer“ (was wohl offenbar auch stimmt, und mich mit einschließt). Ist es deswegen steril oder eine „vermeintliche Objektivierung“.
Nein, warum, jetzt schreibst Du ja klar von Dir. Du schwimmst gerne, damit ist doch alles gesagt. Ich ess gerne Nudeln. Das ist auch klar.
„Offenbar ist Paaren die Sexualität wichtig“, das klingt für mich wie ein Polarforscher, der unter die Pinguine geraten ist und sagt, die tun komischen Dinge, aber es scheint ihnen irgendwas zu bedeuten. So kam es bei mir an, vielleicht meintest Du es aber anders.
Weil, so ganz nüchtern betrachtet ist Sex ne geile Sache, was auch jedem, außer er/sie hat Probleme damit, klipp und klar ist.

Vergleich es mal mit dem Schwimmen. Tust Du gerne, besonders im Sommer. Wenn Dir nun jemand erzählt, alles Hirnchemie und eigentlich tust Du das ja nur um Deine Muskulatur und Lungen fit zu halten, nur weißt Du das eigentlich gar nicht … irgendwann kommt der Punkt, wo man sich fragen könnte, ob bei der Beschreibung nicht etwas wesentlichen fehlt, z.B. dass es Dir Spaß macht, Deine Motive (also die, die Du erzählst), Dein Erleben. Natürlich kann man auch das erklären und das sind solche Belonungshormone, Dopamin und Serotonin und so weiter. Es zieht Dich zum Wasser weil Du die Dopamindusche ersehnst. Man kann alles in Hormonsprech übersetzen, außer vielleicht Dein Empfinden.
Was meinst Du, kann man?

Lumen hat geschrieben:Weder noch, es ist eine Einschätzung eines Zustandes oder einer Beobachtung, die ich danach ja sogar noch erkläre, wie sie (gemeinhin) durch Induktion zustande kommt.
Tut mir leid, den allgemeinen Abriss über Induktion habe ich nur grob überflogen, weil ich weiß, was Induktion ist.

Lumen hat geschrieben:Dazu kommt, dass ich meinen Text eigentlich recht locker geschrieben habe. Es ist augenscheinlich keine bierernste Abhandlung. Da sind immerhin Sätze wie „Es würde mich eher erstaunen, wenn Sexualität ‚nur‘ eine Turnübung wäre“ oder „unangenehme Eigenschaften mancher Erreger, sich diese spezielle Körpernähe zunutze zu machen“. Das nennt sich Understatement.
Danke, ich hätte auch das ohne Erläuterung so verstanden.

Lumen hat geschrieben:Um mal wieder zum Thema zurückzukehren. Ich kann ja der Meinung sein, dass „Ampeln immer dann Rot sind, wenn ich es eilig habe“.

Ich kann entscheiden, wie wichtig „Wahrheit“ in dem Fall für mich ist. Wobei ich hier bitte im alltäglichen Sinne bleiben möchte und kein Bock habe auf arkane oder wissenschaftlich exakte Abhandlungen. Das bedeutet im konkreten Fall. Ist es mir daran gelegen, etwas zu verstehen, und meine Ansichten mit den Beobachtungen in Einklang zu bringen, könnte ich genauer aufpassen, und auch beginnen, „Grün“ zu zählen.

Ich kann aber genausogut eingestehen, dass ich mich einfach ärgern möchte, weil ich mal wieder rumgetrödelt habe, und rote Ampeln einfach dankbar sind, ihnen die Schuld zu geben.
Ja.
Wenn man es sieht, in dem Fall ist es mit einem Minimum an Reflexionsvermögen möglich das zu erkennen.

Lumen hat geschrieben:Wenn ich aber in ein Forum gehe, und die Behauptung vortrage, dass sich das Universum gegen mich verschwört, und Ampeln verstellt, um mich zu ärgern, werde ich gute Gründe für die Behauptung brauchen.
Rischtisch. (Ich finde die ewigen Rückgriffe aufs Banale quälend, geht es auch anders?)

Lumen hat geschrieben:Auf den vorliegenden, oder die vielen vergleichebare Fälle einzugehen: Angenommen jemand behauptet, ein „Herrscher sei sehr gut gewesen“. Dann kann man das ja so finden, aber irgendwo hängt das an Einzelbeobachten, Daten, Fakten und dann deren Einschätung und Gewichtung fest. Wenn also dann ein Lumen vorbei kommt und darauf hinweist, dass dieser Herrscher ja doch viele Kriege führte und in seinem Kerker mehr als eine Person auf Nimmerwiedersehen verschwand, dann kann darauf die Antwort ja nicht sein „Du immer mit deinen Leichen! Das zählt nicht“. Die vernünftige Antwort wäre A) „das stimmt nicht (die Daten/Fakten/Behauptung ist unwahr, geschichtsgefälscht, von seinen Feinden behauptet worden)“ oder B) „Ok, das stimmt, aber macht in der Gewichtung nichts aus, weil X Kriege und Y Tote im Vergleich zu Z trotzdem noch positiv bleibt“.

Da ich oft das gefühl habe, dass dieses Grundverständnis irgendwie fehlt, und dann belustige Antworten kommen, habe ich das bereits antizipiert.

Warum hast Du das Gefühl, dass dieses Grundverständnis irgendwie fehlt?
Mir ist bewusst, dass Du meinst, jeder der da irgendwann nicht mehr auf Deine... hm, Aufzählungen eingeht, müsse krampfhaft etwas verleugnen wollen. Jeder, den ich hier lese, hat das eigentlich kurz eingestanden, abgenickt und wollte dann zum Thema zurück, hat aber die Rechnung ohne den Lumen gemacht, denn das kurze Abnicken bringt den erst mal richtig in Wallung. Sooo billig kriegt man das nicht. Da kommt dann noch mal Deschner kompakt (ich weiß, hast Du nie gelesen) Folter, Blut und Leichenberge und schon fühlt man in eine Boulevard-Magazin versetzt, die großen Gefühle der kleine Leute.

Lumen hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Und ich bin mir sicher, dass nicht nur ich dieses Problem mit Dir habe. Betrübt macht es mich deshalb, weil Du zweifelsfrei ein überdurchschnittlich intelligenter Mensch bist und weil es nicht immer leicht ist, die Aggressionen die dahinter stecken, zu tolerieren. Betrübt bin ich, weil es nicht möglich ist, über mehr als ein paar Beiträge mit Dir in Kontakt zu kommen, Du flüchtest sofort wieder in Deine Phantasiewelt, präsentiert als betont unverwickelte Sicht von außen. Schade.
Ich weiß wohl selbst sehr gut, wenn ich mal etwas angriffslustig in ein Thema reinstürze.
Klar, wer weiß das nicht, Darth hat auch immer die Kontrolle.

Lumen hat geschrieben:Ich nehme weder meine eigenen Behauptungen sonderlich ernst, noch die anderer Leute.
Guck, da unterscheinden wir uns. Ich versuche andere ernst zu nehmen und mich auch.

Lumen hat geschrieben:Kaum jemand ändert seine Meinung auf der Stelle, sondern lernt im besten Fall nur neue Fakten (und Einschätzungen) dazu die im besten Fall nach und nach verarbeitet und integriert werden.
Das ist zweifelsfrei richtig.

Lumen hat geschrieben:Was du mit Phatasiewelt meinst, verstehe ich nicht.
Mit Phantasiewelt meine ich, dass Du auf bestimmte Fragmente anspringst, diese im Detail mitunter sehr gut zuordnen kannst, ich erinnere mich an diesen Typen-Buchstaben Test, den Du nicht nur spannend eingeführt hast, sondern bei dem Du aller vier Punkte, oder mindestens drei richtig antizipiert hast / ich erinnere mich jetzt gerade auch an eine Interpretation von Dir, zu meiner Auffassung über Mystik, die den Nagel auf den Kopf traf und dann machst Du einen Bogen in die psychologische Motivforschung und versemmelst es völlig, die Diskrepanz ist halt spürbar.

Lumen hat geschrieben:Ebenso nicht, was eine „betont unverwickelte Sicht von außen“ sein soll.
Du wirkst dann so angestrengt sachlich.

Lumen hat geschrieben:Kann ja stimmen, oder auch nicht. Allerdings ist das alles nicht mehr das Thema hier. Insofern du es nicht kurz und knapp erläutern kannst, schlage ich PM (oder bei öffentlichem Interesse) entweder eigenes Thema vor, oder vielleicht passt es auch hier rein.
Ich bin schon mit Darth im öffentlichen Séparée, irgendwann bin ich auch überfordert.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Lumen » Do 25. Jul 2013, 01:13

laie hat geschrieben:Ganz einfach: Keuschheit gehört zusammen mit Armut und Gehorsam zu den drei evangelischen Räten. Alle drei handeln letztlich von unserer Weltzugewandtheit, die sich entweder im Haben vollziehen kann oder im Sein. Wir reden bei Keuschheit also nicht primär darüber, ob eine bestimmte Sexstellung oder Praktik sündiger ist als eine andere, oder wie oft man darf und ab wann, auch nicht über die statistische Signifikanz der Folgen eines quasi-religiösen Gebots, sondern wie wir grundsätzlich in Beziehung treten.

Keuschheit ist also nur eine Facette im Spannungsfeld zwischen Haben oder Sein.


Die drei evangelischen Stichworte lehne ich ab, insbesondere in ihrem Kontext (lasse das aber mal beiseite). Ich habe aber den Gedanken so verstanden, dass es darum geht sich vielleicht auf das Wesentliche zu konzentrieren. In unserer Welt wird uns fortwährend erzählt, wir müssten Dieses und Jenes tun, um beispielsweise Glück und Erfüllung zu finden (bei Gläubigen mag die Zielsetzung im Leben eine andere sein). Um das dann zu erreichen, müssen wir dann noch zehn andere Sachen machen. Zum Glück fehlt stetiges Einkommen, wird gesagt. Um Geld zu verdienen, muss eine gute Arbeit her. Um eine gute Arbeit zu bekommen, müssen wir gut in der Schule sein. Um gut in der Schule zu sein …

Da ist es ist keine verkehrte Idee, diese Rezepte zu hinterfragen und zu überlegen, was wirklich der Sinn sein soll. Auch das ist ein Gebiet, wo kritisches Denken hilfreich ist (und keineswegs zu zu Materialismus oder Hedonismus führt). Wir könnten dann sehen, dass diese Mittel, mit denen wir fortwährend beschäftigt sind, vielleicht den ursprünglichen Zweck verfehlen.

Vergleichbare „Vorschläge“ gibt es in den fernöstlichen Lehren, die eine gewisse Gleichgültigkeit, Loslösung und Entsagung von weltlichem befürworten. Die griechischen Stoiker, deren stoische Haltung sprichwörtlich ist, schlugen etwas Ähnliches vor. Auch hier geht es um das Hinnehmen der Dinge, die sich nicht ändern lassen. All das soll offenbar zu einer Gelassenheit führen.

Das Problem bei diesen ganzen Sachen ist die Vorschreibung. Es stimmt, dass manche Leute glücklicher wären, würden sie einfach ausziehen um die Welt zu bereisen. Der eine oder andere wird danach gefragter Buchautor, oder kann dann auch noch anderweitig anknüpften. Jemand anders braucht Schule und Ausbildung (Geld und Karriere usw.) gar nicht. Für manche ist Keuschheit vielleicht wirklich ein Lebensweg. Oder so. Leider sind solche Rezepte nie massenkompatibel.

Der „normale“ formalisierte Weg gibt eine brauchbare Struktur vor, in der sich manche Leute — keine Frage — verlieren. Aber so pauschal stimmt auch das wieder nicht. Es ist sehr leicht, Stereotypen zu sehen, den Karrieremenschen, oder die frustrierte Hausfrau oder die Singles die zwar Sex haben (zur Not auch alleine), aber keine Liebe.

Manchem wäre schon geholfen, einmal die Möglichkeiten, die so ein Leben bietet, aufzuzählen und ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Mir kam es als Kind nie in den Sinn, dass ich in einem anderen Land leben (oder zur Schule gehen) könnte. Ich habe auch nie über meinen Beruf ernsthaft nachgedacht, und hatte da Glück dass ich „instinktiv“ wusste, was ich machen will. Ich habe mit erstaunen gelernt, dass eine jüngere Bekannte nicht nur keine Ahnung hatte, was sie machen möchte, auch keine nennenswerten Interessen hatte, und sich dann buchstäblich auch nie überlegt hat was „Sinn“ ergeben würden. Also, wenn ich nicht weiß, was ich wollte, könnte ich doch überlegen, was mir wichtig ist: Geld verdienen? Sicherer Arbeitsplatz? Aufstiegsmöglichkeiten? Persönliche Entfaltung? Viel oder wenig Verantwortung haben? Arbeit um die Ecke, im Freien, im Wald, möglichst in Stadt Z? Die Welt sehen?

Viele alltägliche Probleme haben ähnliche Ursachen. Es gibt nicht selten den kuriosen Vorgang, dass Leute Erwartungen haben, die sie selbst nicht richtig formulieren, geschweige denn aussprechen, dann aber sauer oder enttäuscht sind, wenn sie nicht eintreffen. Ob das die großen Themen sind, oder die kleinen. Beruf oder Privat. Es wird viel zu wenig miteinander kommuniziert und explizit gemacht. Es gab auch bei mir mal eine Zeit, wo Sex gemacht wurde, aber nie drüber geredet wurde — nicht etwa aus Scham. Es gab nichts zu meckern und es kam uns einfach nicht in den Sinn. Mittlerweile weiß ich natürlich dass es auch anders geht, was sich sehr positiv auswirkt selbst selbst wenn es nicht spektakuläres zu sagen gibt. Die Tatsache dass man darüber reden kann, im helllichten Tageslicht, zeigt irgendwie eine andere emotionale Ebene an.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Lumen » Do 25. Jul 2013, 01:17

Vollbreit hat geschrieben: [...] In dem Fall würde ich sogar noch vorher zweifeln, ich glaube, nicht, dass Du den Punkt, wo es ideologisch wird nicht nur nicht anerkennst, ich glaube, das Du ihn nicht erkennst. [...] Ich bin schon mit Darth im öffentlichen Séparée, irgendwann bin ich auch überfordert.


Du hälst eine „verwissenschaftliche“ Beschreibung eines Sachverhaltes für szientistisch. Also für ideologisch. Nur schreiben wir dann aneinander vorbei und mir deucht, dass du es grundlegend nicht verstehst. Was dann auch bei deinem Kritikpunkt sehr deutlich wird:

Vollbreit hat geschrieben:Mein Punkt war die fehlenden Positionierung. Offenbar ist Sexualität für Paare wichtig. Was erlebt man denn, die Hirnchemie?


Das ist doch Mist. Das Thema handelte, die Zeitungsente weg gelassen, vom Sinn und Nutzen der Keuschheit. Die Antwort kann ja dann nicht sein: „weil ich gern Sex habe, ist Keuschheit doof. So, nächstes Thema“. Daher habe verschiedene Gründe gesammelt, was dafür und dagegen sprechen könnte und diese etwas diskutiert. Wenn dir das grundsätzlich nicht in den Kram passt, dann lies es halt nicht. Einer der Gründe war, dass Sex Paaren offenbar gut tut. Was ist dein Problem? Eine andere Betrachtung war, dass im Körper eine ganze Menge verrückte Sachen abgehen, wo Sexualität auch „mehr“ sein kann. Es ist subjektiv meistens „mehr“, und es könnte objektiv auch „mehr“ sein. Zu Essen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme, weil es auch schmeckt. Aber darüber hinaus ist es objektiv eben auch wichtig für den Körper. Der Vorschlag, sich asketisch nur von Licht zu „ernähren“ ist damit gleich mehrfach eine doofe Idee, nicht nur von dem Aspekt aus, dass Essen halt schmeckt. Der ganze Rest (@Phantasiewelt usw.) ist für mich nicht nachvollziehbar.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 06:52

Lumen hat geschrieben:Das Problem bei diesen ganzen Sachen ist die Vorschreibung.


Ja, da hast du Recht. Deshalb ziehe ich es vor, von "Rat" zu sprechen. Man kann nur immer wieder darauf hinweisen und sich klar machen, dass eben keine Vorschrift1 ist; verhindern, daß Menschen es als Vorschrift sehen möchten, kann man es nicht.

Lumen hat geschrieben:Vergleichbare „Vorschläge“ gibt es in den fernöstlichen Lehren, die eine gewisse Gleichgültigkeit, Loslösung und Entsagung von weltlichem befürworten. Die griechischen Stoiker, deren stoische Haltung sprichwörtlich ist, schlugen etwas Ähnliches vor. Auch hier geht es um das Hinnehmen der Dinge, die sich nicht ändern lassen. All das soll offenbar zu einer Gelassenheit führen


Ja. Die sind auch nicht schlecht, wenn sie auch das Schwergewicht auf anderes legen. In der Stoa geht es in erster Linie um die Beherrschung von Affekten. Der stoische Weise wird nicht berührt vom Unglück oder Glück der anderen noch von seinem eigenen. Fernöstliche Lehren zielen vor allem darauf ab, durch bestimmte körperliche Übungen und Techniken (Meditation, Atemübungen, Kung-Fu, stundenlanges Sitzen vor einer weissen Wand) körperliche und mentale Kräfte zu steigern.

Ich persönlich kann dem nicht soviel abgewinnen. Es geht nicht nur um das Hinnehmen von Dingen, die sich nicht ändern lassen. Ich will kein Stoiker sein, der von nichts erschüttert wird. Und fernöstliche Weisheitslehren könnten für mich nur eine Ergänzung sein.

Mir scheint (aber bitte, vielleicht habe ich auch gar keine Ahnung), dass sowohl Stoa als auch fernöstliche Lehren ziemlich bequeme Angelegenheiten sind, weil sie immer nur mit mir zu tun haben: was war ich begeistert, als ich mit 14 Jahren die Selbstbetrachtungen des Marcus Aurelius gelesen hatte. Da waren genau die Rezepte abgesegnet, um als Teenager mit dem Unbill der Wellt zurechtzukommen. Ich konnte das also still und heimlich lesen und musste niemand etwas davon erzählen. Wenn ich mit jemand oder mit etwas Probleme hatte, dachte ich mir nur: sieh an, sieh an, die Allnatur, nur Staub im Weltall, völlig unbedeutend, die ganze stoische Klaviatur halt. Dazu brauchte ich niemand. Weder in der Aneignnung noch in ihrer Anwendung. Und ist es nicht so, daß die grossen Meister allein meditieren und ihre Übungen allein machen . Der andere Mensch kommt in Stoa und im "Fernen Osten" nur am Rand vor, wie mir scheint. Er ist eigentlich nur Kulisse.

1 nicht einmal für Mönche oder Nonnen sind die Gebote eine Vorschrift, den diese entscheiden sich erst mit ihrem freiwilligen Eintritt ins Kloster dafür; naja, früher war das wohl nicht unbedingt so, da wurde oft mal ein Konkurrent ins Kloster gesteckt, gegen seinen Willen.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 08:21

Lumen hat geschrieben:Manchem wäre schon geholfen, einmal die Möglichkeiten, die so ein Leben bietet, aufzuzählen und ernsthaft in Erwägung zu ziehen. ... Also, wenn ich nicht weiß, was ich wollte, könnte ich doch überlegen, was mir wichtig ist: Geld verdienen? Sicherer Arbeitsplatz? Aufstiegsmöglichkeiten? Persönliche Entfaltung? Viel oder wenig Verantwortung haben? Arbeit um die Ecke, im Freien, im Wald, möglichst in Stadt Z? Die Welt sehen?


Das ist ein sehr interessanter Gedanke! Ob man tatsächlich zwischen verschiedenen Zielen wählen kann, war eine Frage, die auch Thomas von Aquin beschäftigt hat (Forschner, 2006: 80ff.). Thomas kommt zu folgendem Ergebnis: wählen können wir nur die einzelnen Schritte, die zu einem Ziel hinführen. Das Ziel selbst können wir nicht wählen. Warum? Weil das Ziel den Charakter einer Prämisse hat, die einzelnen Schritte den Charakter einer Konklusion: "Wenn A dein Ziel ist, dann musst du a, b, c tun, um A zu erreichen". Da, wo wir den Eindruck haben, uns zwischen mehreren Zielen zu entscheiden, entscheiden wir uns nach Thomas eigentlich nicht für ein Ziel, sondern für einen Weg, für bestimmte Schritte auf ein drittes, uns vielleicht noch unbewusstes, unbekanntes, nicht formuliertes Ziel.

Kein Ziel in dieser Welt, sagt Thomas, ist jedoch so geartet, daß es uns unbedingt verpflichtet oder fesselt. Jedem Ziel haftet immer auch - wie einer Medaille - das Unperfekte, das Mangelhafte an. Wer sich beispielsweise dafür entscheidet, viel Geld zu verdienen, der wählt, dass er nicht um 5 zuhause ist. Aus diesem Grund kann kein irdisches Ziel unser Handeln und Streben determininieren.

Forschner, M., 2006: Thomas von Aquin. Beck. München
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 10:20

Lumen hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben: [...] In dem Fall würde ich sogar noch vorher zweifeln, ich glaube, nicht, dass Du den Punkt, wo es ideologisch wird nicht nur nicht anerkennst, ich glaube, das Du ihn nicht erkennst. [...] Ich bin schon mit Darth im öffentlichen Séparée, irgendwann bin ich auch überfordert.


Du hälst eine „verwissenschaftliche“ Beschreibung eines Sachverhaltes für szientistisch. Also für ideologisch. Nur schreiben wir dann aneinander vorbei und mir deucht, dass du es grundlegend nicht verstehst.
Wir schreiben bei dem, was ich als Reizthema für Dich bewerten würde, im Grunde immer aneinander vorbei, immerhin erkennst Du das jetzt auch.

Aber Die Begründung fehlt. Eine verwissenschaftliche Beschreibung halte ich natürlich für szientistisch, aber das ist einfach eine Tautologie. Warum denn?
Du musst ja denken, ich hätte mich aus Laune oder Vorurteil irgendwann mal entschieden, die Wissenschaft schlecht zu finden und seit dem beharre ich auf diesem Standpunkt.

Lumen hat geschrieben:Was dann auch bei deinem Kritikpunkt sehr deutlich wird:

Vollbreit hat geschrieben:Mein Punkt war die fehlenden Positionierung. Offenbar ist Sexualität für Paare wichtig. Was erlebt man denn, die Hirnchemie?


Das ist doch Mist. Das Thema handelte, die Zeitungsente weg gelassen, vom Sinn und Nutzen der Keuschheit. Die Antwort kann ja dann nicht sein: „weil ich gern Sex habe, ist Keuschheit doof. So, nächstes Thema“.
Ja, die Überschrift handelte davon, der Kontext in dem wir über Sexualität sprachen, handelte nicht davon.

Am prägnantesten fand ich Deinen Satz „Es würde mich eher erstaunen, wenn Sexualität „nur“ eine Turnübung wäre.“ Natürlich sagt er aus, was er aussagt, es würde Dich erstaunen, eine bestimmte Positionierung ist darin enthalten, aber mich erstaunt die Möglichkeit, dass Du erstaunt sein könntest.
Denn, so phantasiere ich jetzt mal weiter, es könnte sich ja erweisen, dass Sexualität doch nur eine Turnübung wäre. Diese Möglichkeit steckt in dem Satz drin.
Warum gibt es diese Möglichkeit? 1) Die Mehrheit der Menschen erklärt auf einmal, dass ihnen Sex eigentlich gar nichts bedeutet und für sie eher den Charakter einer Turnübung hat. Aber ich glaube, das würde Dich nicht sonderlich jucken, Du hältst es aus eine eigene Meinung gegenüber der Mehrheit der Menschen zu entwickeln.
2) Die Wissenschaft findet auf einmal heraus, dass Sex nur eine Turnübung ist. Nun wird die Sache etwas ernster, denn deren Wort hat für Dich, auch wenn, oder gerade weil Du kein Wissenschaftler bist, deutlich mehr Gewicht.

Aber jetzt kommt die Preisfrage, die uns trennt: Wie kann die Wissenschaft das denn herausfinden? Bitte keine Exkurse über das Wesen der Wissenschaft, es ist mir bekannt.
Nehmen wir an, die Wissenschaft arbeitet korrekt: Hypothesenbildung, experimentelles Design, Verifikation/Falsifikation und das Ergebnis lautet: Sex ist nur eine Turnübung.
Wie man so eine Nachricht präsentieren könnte, ob Evolutionsbiologen das herausgefunden haben, oder Genetiker, denk Dir was aus, es ist nachrangig.
Nehmen wir an, morgen kommt die Meldung raus. Würdest Du dann ab übermorgen annehmen, dass Du Dich bezüglich all Deiner Empfindungen beim Sex ganz einfach geirrt hast? Du dachtest immer da sei auch Lust mit im Spiel, aber irgendwie spielt das wohl nicht so eine Rolle, ist ja objektiv bewiesen worden. Vielleicht, nur mal angenommen, ist aber Dein subjektives Empfinden immer noch lustvoll. Und nun? Wer hat Recht? Du, nur einer von Vielen oder die Wissenschaft, das beste, edelste und präziseste Werkzeug, was die Menschheit aufzubieten hat? Das Subjekt (hinter) Lumen oder die regelgerecht objektivierte Darstellung?

Die Wissenschaftsgläubigen benutzen, um diesem Dilemma zu entkommen, in der Regel einen Kniff, der zwar selbstwidersprüchlich ist, aber da Wissenschaftsgläubige wie andere Gläubige eben kein großes Vertrauen ins Selberdenken außerhalb der erlaubten Vorgaben haben, erkennen sie Selbstwidersprüche in 90% der Fälle nicht. Damit lebt es sich unbeschwert, die Spannung ist raus.
Die Lösung der Wissenschaftsgläubigen sieht ungefähr so aus: Ich empfinde zwar A, die Wissenschaft sagt aber B sei richtig, also muss da irgendwas mit meiner Wahrnehmung nicht stimmen. Irritierend, normalerweise, aber nichts, was man nicht dialektisch wenden könnte. Und nun wird daraus jene unschlagbare Wendung, die die Irritation in ein Überlegenheitsgefühl verwandelt: Zwar empfinde auch ich nicht das, was die Wissenschaft sagt, aber ich kann das annehmen, ich traue mich, mich zu irren, während die anderen sich nicht trauen und ängstlich an ihrem illusionären Weltbild festhalten.
So lässt es sich unbeschwert weiterleben und nun sogar mit stolzgeschwellter Brust. Die Zweifler (an der wissenschaftlichen Erkenntnis) sind nun einfach Blödies, denen obendrein auch noch der Mut fehlt.
Eine genialische Eulenspiegelei, wäre es nicht so sehr auf die Spitze getrieben worden, in der Neurowissenschaftsdiskussion, vor 10 Jahren. Man kann es bei Wissenschaftsgläubigen aller Couleur immer wieder nachlesen, Wendungen wie diese: „Ich weiß, dass es keinen freien Willen gibt, aber die anderen bekommen bei dieser Erkenntnis kalte Füße, das unterscheidet mich von ihnen, ich bin wissend und mutig.“ Eklatant offensichtlich wird der Selbstwiderspruch in der Ansicht: „Ich weiß, dass es ein Ich nicht gibt, aber ich habe es im Unterschied zu anderen auch nicht nötig, mir eins einzureden.“
Auf derselben Ebene liegt Dein Turnübungsbeispiel, ich weiß ja nicht inwieweit Du bereit wärst Dir da die Butter vom Brot nehmen zu lassen und zu sagen: „Also ich empfinde zwar was beim Sex, aber ich weiß, dass das nur ein Illusion, eine Täuschung ist, ein Trick.“

Denn ich glaube, dass es stimmt, was Du sagst, Du nimmst nichts und niemanden so richtig für voll, auch eine Strategie mit Irritationen umzugehen. Klar ist Dir nur, dass Religion der Megatrick ist, da lässt Du auch nicht mir Dir spaßen, da soll Dir keiner kommen, aber Du bist sicher kein glühender Szientist und inwieweit Du Wissenschaft überhaupt für voll nimmst, weiß ich nicht, vermutlich deutlich ernster als als alles andere, aber noch identifizierter bist Du mit einer Mischung aus Psychologen und Kriminalisten, Du willst den Trick durchschauen.

Der Irrtum liegt in zwei Punkten: Zum einen und wohl für Dich weniger brisant, in der dogmatischen Ansicht, es sei gegeben, dass die objektiverende Darstellungsweise der Wissenschaft in allen Bereichen des Lebens das erste und das letzte Wort hat, jedenfalls, wenn es um sinnvolle Erkenntnisse geht. Das ist der ideologischen Aspekt, den ich meinte! Kunst und Kreativität, alles nett und schön, aber wo es um Wissen und Erkenntnis geht, müssen wir uns an die objektivierenden Aussagen der (Natur-)Wissenschaft halten. Und beides soll man nicht vermischen.
Aber Du als Subjekt bist es, der diese Entscheidung, für Dich die derzeit rationalste, getroffen hat. Du legitimierst die Geschichte und bist dann (weniger als die wirklich Wissenschaftsgläubigen) gezwungen, auf den Pfaden dieser erteilten Legitimation zu wandeln und einige tun das auch dann noch, wenn die Folge der Legitimierung absurd wird und dem der sich zuerst für eine bestimmten Betrachtungsweise entscheiden hat, danach erklärt wird, aufgrund dieser Betrachtung könne es ihn eigentlich gar nicht geben.

Das andere und brisanter, ist im Grunde wie bei Darth, nur ist Dein Thema nicht der Egoismus, sondern die Trickserei. Man braucht Dir doch nichts vorzumachen, Du weißt bereits, dass alles in der Welt ein Trick ist und so geht es Dir nur noch darum, die Trickserei offenzulegen. In diesem Sinne ist Dein Weltbild das des Paranoikers, das Ergebnis steht fest – heißt in Deinem Fall, die Prämisse: alles nur mehr oder minder gute Trickserei –, die Beweise werden noch gesucht.
Und jedem der sagt, dass die Welt nicht nur Trickserei ist, begegnest Du mit Argwohn: Cui bono? Nur der, der was im Schilde führt, kann ein Interesse daran haben, den anderen zu erzählen, dass die Welt keineswegs nur Trickserei ist und wehe, wenn das einer ernsthaft mit Dir vor hat und Dich für dumm verkaufen will.
Ist das eigentlich noch falsifizierbar, das kannst Du Dich ja selbst mal fragen?
Keine Ahnung wie der private Mensch hinter Lumen ist, will ich auch nicht wissen, soll privat bleiben, aber die öffentliche Rolle des Lumen ist schon ziemlich paranoid geraten: Geschlossenes Weltbild, alles nur Betrug und Trickserei, die einzigen Aufrichtigen sind diejenigen Trickser, die sich zu ihrer Trickserei bekennen und der Öffentlichkeit demonstrieren, wie die Tricks funktionieren, das sind die Guten, in dem ansonsten schlechten Spiel.

Die Bereitschaft sich auch nur im Konditional darauf einzulassen, dass ein objektivierender Ansatz Dir erklären könnte, was Du selbst als Subjekt erfahren haben musst und worin Du eine unerschütterliche Kompetenz besitzt, zu der Du prima facie legitimiert bist zeugt m.E. von einer tiefen Verunsicherung. Du müsstest es wissen und wenn Dir jemand sagen will, dass das was Du empfindest nicht richtig empfunden ist, sollte Dich das zu einem herzhaften Lachen anregen, es sei denn Du bist unter 30, was Du aber vermutlich nicht bist oder eben aus irgendwelchen Gründen tatsächlich verunsichert.
Es kann niemand entscheiden, dass Sex nur eine Turnübung ist, wenn Sex für Dich keine Turnübung ist. Es juckt die deutsche Eiche nicht, wenn sich die Sau an ihr reibt. Das ist keine Frage von religiös aufgeladenen Letztbegründungen, sondern eine Frage der Lebenserfahrung, so wie Du eben ganz zweifelsfrei weißt, dass Du gerne schwimmst und ich, dass ich gerne Nudeln esse. Das schließt nicht aus, dass das in 20 Jahren anders ist, aber dann hat man sich nicht geirrt, sondern es hat sich vielleicht einfach der Geschmack geändert, die Prioritäten haben sich verschoben.

Dies kann man ganz unpersönlich und grundsätzlich weiter verfolgen, es ist de Frage der Reduzierbarkeit der 1. 2. und 3. Person-Perspektive, auf die Perspektive allein der 3. Person, ein recht gehaltvoller philosophischer Streit, der allerlei hergibt. Kann sein, dass Dir das zu anstrengend ist, vermutlich hättest Du das Zeug dazu, aber die boulevardesken Ausrutscher halten Dich da eher im Basislager gefangen.

Lumen hat geschrieben:Daher habe verschiedene Gründe gesammelt, was dafür und dagegen sprechen könnte und diese etwas diskutiert. Wenn dir das grundsätzlich nicht in den Kram passt, dann lies es halt nicht. Einer der Gründe war, dass Sex Paaren offenbar gut tut. Was ist dein Problem? Eine andere Betrachtung war, dass im Körper eine ganze Menge verrückte Sachen abgehen, wo Sexualität auch „mehr“ sein kann.
Was im Körper abgeht, nehmen wir nicht wahr, wir haben als Welterlebende nur unsere Subjektperspektive zur Verfügung. Das ist eine phänomenologischen Tatsache und Wahrheit, auch wenn die erkenntnistheoretische Wahrheit eine andere ist und es selbstverständlich ist, dass das Subjekt etwas Entstandenes ist und zwar sowohl aus biologischer, als auch psychologischer und philosophischer Sicht.
Ist die Grenze zur Ichbildung (und man muss klären, über welches Ich man redet) aber erst mal überschritten, dann ist diese Ich ein konstantes Phänomen und es ist diese Ich, was dann die Möglichkeit hat verschiedene Sichtweisen auf die und das meint Interpretationsweisen von Welt zu entwickeln. Eine davon ist die naturwissenschaftlich objektivierende und Ideologie ist die Engführung auf eine Sichtweise für alle Probleme.

Lumen hat geschrieben:Es ist subjektiv meistens „mehr“, und es könnte objektiv auch „mehr“ sein.
Das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob man trennen kann, wo objektivierende Ansätze uns die Welt besser erklären und wo nicht. Es ist ja wahr, dass der ins Wasser gesteckte Stock uns auf einmal abgeknickt erscheint, aber wahr ist auch, dass er es nicht ist. Aus dieser Wahrheit, dass wir uns täuschen können, dürfen wir aber keine Gewissheit ableiten, die sagt, dass wir immer getäuscht sind/werden, der Grund ist schlicht, dass das in einen Selbstwiderspruch mündet: Ist die Gewissheit, dass wir immer getäuscht werden, eigentlich auch eine Täuschung?
Und wir müssen noch nicht mal eine große Skepsis ausbilden, auch das Thema ist philosophisch durch, es gilt, dass auch der Zweifel begründet werden muss, ein paper doubt (Zweifel, um des Zweifels willen) gilt nicht.

Das führt nun zu der wirklich kniffligen Frage, die am Anfang stehen müsste, die man aber natürlich erst retrospektiv und reflexiv zu fassen bekommt: Was ist überhaupt eine Gewissheit? Wann und über was, darf und kann ich mir sicher sein? Dazu jederzeit gerne ein neuer Thread, ich würde mitmachen.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 12:11

Hier finde ich es sehr interessant, die auch mir fremden, aber wie ich finde gewinnbringenden Aspekte von laies Darstellungen zu betrachten.
Es ist einfach langweilig und dumm, immer auf der impliziten Ansicht zu beharren, laie (oder andere) sei ein heimlicher Wanderprediger, der, wenn man ihm auch nur denn kleinen Finger reicht einen nach drei Beiträgen in den theologischen Sumpf reißt. Bei solchen Panikreaktionen wie bei NeoTron kann es mit der Selbstsicherheit des atheistischen Ansatzes ja nicht weit her sein.


@ laie:

Bei der Ausführung über Augustinus kam mir die Fragestellung der Neurowissenschaften und Philosophie um den freien Willen in den Sinn.
Was mich oft bewegt bei Deinen Ausführungen ist, wie Du von den theologischen Interpretationen die Kurve zum Alltag bekommst. Aber vielleicht muss man wirklich eine Zeit lang konsequnent in dieser Weltsicht bleiben und dann erschließt sich vieles, keine Ahnung.


@ Lumen (und andere):

Nahezu alles, was Du zuletzt laie antwortest kann ich sofort unterschrieben, inklusive der Einstellung, dass Lebensansätze, die für einige richtig sein mögen, oft nicht (vielleicht nie) für alle richtig sind.

Die Frage ist nun, wenn man weitergeht und anerkennt, dass es, je näher man dem einzelnen Menschen kommt, es keine zwei gleichen Leben geben kann, ob es nun legitim ist, dass es dennoch Einstellungen gibt, die prinzipiell für alle gelten, aber eine individuell unterschiedliche Ausbuchstabierung zulassen. Simples Beispiel, jeder Mensch braucht Proteine, Kohlenhydrate, Fette, in welcher Form er die zu sich nimmt, ist hochindividuell und zum Teil kulturell bedingt.

Mich interessiert dieselbe Frage auf der psychischen Ebene.
Gibt es eigentlich einen typischen Weg der Psyche, dessen Ausgestaltung individuell sein kann, dessen Struktur jedoch einer Regelhaftigkeit folgt?
Ich glaube, dass das so ist und meine, dass es dafür auch hinreichende Belege gibt.
Vor diesem Hintergrund komme ich auch zu einer liberalen Auffassung gegenüber Religion. Ich sehe Religion hier als einen Spezialfall dessen, was ich mythisches (nicht mystisches!) Bewusstsein nennen würde. Spezialfall bedeutet, dass Religion oder besser religiöse Gläubigkeit eine Ausdrucksform des mythischen Bewusstseins ist, Starkult oder politische Ideologie wären andere Möglichkeiten.

Nach allem was ich über Psychologie zu wissen glaube, ist es so, dass die Psyche hierarchisch organisiert ist, d.h. 1) es gibt frühere und spätere Stufen, deren Abfolge nicht umkehrbar ist und 2) sind diese Stufe von unterschiedlicher Komplexität, wobei die nachfolgende auf ihren Vorgängern aufbaut, sie umschließt in Teilen bewahrt und in Teilen verändert oder negiert. Im normalen Fall sind die nachfolgenden Stufen komplexer (es sei denn, wir haben es mit einer Regression zu tun). 3) Man kann keine Stufen überspringen. Man kann, in einer Analogie nicht sagen, Kindheit ist prima, Pubertät anstrengend, also schenke ich mir das und werde gleich nach der Kindheit erwachsen.

Der Kern des Streits um das Thema Religion scheint mehr oder weniger immer darauf hinauszulaufen, dass man kritisiert, die mythische Entwicklungsebene sei eine im Wesen nichtreflexive, die auf Zusammengehörigkeit, Unterdrückung von Kritik, Gehorsam, Konventionalität, Konformität, Autoritätshörigkeit und soziale Anpassung abzielt. Ich glaube dass diese Kritik zu 100% stimmt und die mythische Stufe – mindestens mal in ihrer soziologischen Struktur – zutreffend beschreibt. Es stimmt für den religiösen Glauben und über Religion hinaus für alles was auf dieser mythischen Ebene liegt.

Die eine Frage könnte die sein, die Du oben anspricht: Ist das nur schlecht, überwiegend schlecht, wiegen die Nachteile die Vorteile auf, oder die Vorteile die Nachteile, ist es überwiegend gut oder nur gut mythisch zu denken? Hier diskutiert man bereits auf einer Metaebene. Die andere Frage ist, ob diese Stufe überhaupt vermeidbar ist. Kann es ein Leben ohne mythische Stufe überhaupt geben? Nach allem was ich weiß, nein, bzw. es wäre ein Leben unterhalb dieser mythischen Stufe, oft wird diese die magischen Stufe genannt, in der der Egozentrismus über den Soziozentrismus dominiert, das Präkonventionelle (was man nicht mit dem Postkonventionellen verwechseln darf) über das Konventionelle.

Meine Antwort ist, dass ich glaube, dass diese Stufe unvermeidbar ist und man sich daher alle Energien, diese Stufe in Gänze auszumerzen schenken kann. Wenn man das akzeptieren kann, lautet die nächste Frage, ob man auf dieser Stufe verharren sollte und da lautet meine Antwort, überwiegend nein. Aber hier kommt wieder der von Dir angeführte Einzelfall ins Spiel. Überwiegend nein bedeutet nicht, dass ich mich nicht festlegen kann oder will, sondern dass ich den Ist-Zustand ins Ideal mit reinnehme.

Idealerweise würde ich sagen, wo immer Entwicklung möglich ist, sollte man Entwicklung forcieren, das kann im Einzelfall bedeuten Schulen und Brunnen, aber auch wissenschaftliches oder philosophisches Seminar, Psychotherapie, Meditation und so weiter, ungefähr entlang der Bedürfnispyramide, die ihrerseits die Hierarchie abbildet, auf die ich anspiele.
Empirischerweise muss man akzeptieren, dass es für jeden, früher oder später ein Ende der Fahnenstange gibt, d.h. man entwickelt sich recht leicht, organisch und oftmals so intuitiv wie Du es beschrieben hast, bis zu einem gewissen Punkt und ein weiteres Bemühen bedeutet Stress und Verunsicherung. Nun gibt es vielfach die Situation, dass sich jemand recht gut in einem Weltbild eingerichtet hat und dieses ihn auch über Jahre kognitiv und emotional ernährt, doch auf einmal treten Risse auf, so starke, dass das Weltbild ernsthaft erschüttert ist. Dies ist m.E. ein lohnender und legitimer Punkt Entwicklung systematisch weiter zu forcieren, weil der Mensch das empfindet, was Freud Leidensdruck nennt. Erst war alles so schön und einfach, nun passt scheinbar nichts mehr zusammen. Menschen die sich gerade erst in einem neuen Weltbild eingerichtet haben, bekehren zu wollen, ist m.E. moralisch ein schwer begründbarer Übergriff, aber vor allem entwicklungspsychologisch eine Torheit. Das simple Wissen um den Verlauf von psychischer Entwicklung, kann hier helfen.
Jenseits eines nochmaligen hievens auf eine neue Komplexitätsstufe der Weltausdeutung kommt irgendwann der Punkt wo das Individuum nicht mehr mitkommt und der Stress und die Verwirrung zu groß werden. Hier ist es glaube ich gut, richtig und angemessen, dies zu respektieren und an dieser Stelle kann ich stines unermüdliches Eintreten für die Legitimation der Existenz auch der konventionellen Stufe nur ausdrücklich unterschreiben. Ich finde, dass versuchte Zwangsbeglückungen ein nicht zu legitimierender Übergriff sind, die unterm Strich mehr Leid anrichten, als sie nutzen.

Insofern gruppieren sich Individuen um unterschiedliche hierarchische Ebenen psychischer Entwicklung und Weltinterpretation. Und so gibt es Menschen, die in einer magischen Welt zuhause sind, in einer mythischen, in einer rationalen und vermutlich gibt es auch Welten, die das Rationale überragen. Und die leben buchstäblich in anderen Welten, auch dann, wenn sie einige Lebenspraktiken teilen, das Kilo Tomaten kostet für jedes Weltbild gleich viel.

Es ist für viele ein offenes Geheimnis, dass Mitglieder dieser Ebenen buchstäblich aneinander vorbei reden, sich können sich nicht mal streiten, weil sie völlig unterschiedliche Perspektiven auf die Welt besitzen. Die Frage, ob und wie man das überwinden kann, würde jetzt hier zu weit führen, mich würde mal interessieren ob Du, oder wer hier sonst noch irgendwas mit den Ausführungen anfangen kann und wer an welcher Stelle, mit welcher Begründung aussteigt.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 12:29

Vollbreit hat geschrieben:laie ... ein heimlicher Wanderprediger, der, wenn man ihm auch nur denn kleinen Finger reicht einen nach drei Beiträgen in den theologischen Sumpf reißt.


Hahaha! Nein, ich mag es nur manchmal auf der theologischen Klaviatur zu spielen. So fremd dürfte das dir nicht sein, wie du schon oft gezeigt hast.

Vollbreit hat geschrieben:Bei der Ausführung über Augustinus kam mir die Fragestellung der Neurowissenschaften und Philosophie um den freien Willen in den Sinn.
Was mich oft bewegt bei Deinen Ausführungen ist, wie Du von den theologischen Interpretationen die Kurve zum Alltag bekommst. Aber vielleicht muss man wirklich eine Zeit lang konsequnent in dieser Weltsicht bleiben und dann erschließt sich vieles, keine Ahnung.


Ich denke in der Tat, dass viele Fragestellungen in der Theologie einen Bezug zum Alltag und zur Existenz des Menschen haben. Diesen Bezug aufdecken kann man aber nur, wenn man sich nicht von vornherein Scheuklappen aufsetzt wie z.B. NeoTron.

Du hast Recht, je mehr man in einer bestimmten Weltsicht bleibt, desto mehr erschliesst sich. Aber das, was sich erschließt, ist keine Alternative zur Welt, sondern eine andere Möglichkeit ihrer Interpretation. Aus dieser anderen, alternativen Interpretation kann man plötzlich zu ganz anderen Einsichten kommen. Ein Beispiel: man kann die Welt substanzontologisch beschreiben, dann zerfällt die Welt in mich als Subjekt, das umgeben ist von Objekten, die ich in Kategorien einteilen kann. Substanzontologisch gesehen wäre Gott also ein Objekt mit bestimmten Eigenschaften (allgut, allmächtig, usw.) neben anderen. Andere wiederum würden sagen, Gott habe keine Eigenschaften, denn Eigenschaften tragen zu einer Substanz nichts bei. Sei es drum, Gott wäre in einer solchen Welt ein Objekt. Es hätte einen Bezug zu mir. Nur welchen? Ständig käme man mit naturwissenschaftlichen Erklärungen und dem "gesunden Menschenverstand" in die Quere, wenn man versuchen wollte, den Einfluss eines solchen Objekts auf die Welt darzustellen.

Anders dagegen, wenn man die Welt relationsontologisch beschreibt. Die Welt zerfällt dann nicht mehr in verschiedene Objekte, sondern Objekte sind ohne die Beziehungen zu anderen nicht aussagbar. Wir Menschen sind relationale Wesen. Zu unserem Menschsein gehört elementar die Bezogenheit auf andere. Wir stehen nicht ausserhalb einer solchen Bezogenheit, um gleichsam uns für oder gegen gesesellschaftliche Diskurse zu entscheiden, wir sind immer mittendrin. Und Gott ist hier kein Objekt mehr, sondern ist selbst relational gedacht, als Bezug. "Gott ist Liebe" drückt das genau aus. Es heisst nicht, dass Gott irgendein Objekt ist, das unter anderem liebt, sondern dass Gott mit der Liebe identisch ist. Liebe umfasst aber immer mehr als einen Akteur, es ist eine Dyade aus Geben und Nehmen. Liebe scheitert, wenn jemand nicht fähig ist, den anderen zu lieben. Sie scheitert aber auch, wenn der Empfänger Liebe nicht annehmen kann. Echte Liebe ist wie ein Oszillieren zwischen zwei Polen. Die christliche Religion hat dafür das Bild der Liebe vom Vater zum Sohn gefunden, an der wir Menschen Anteil haben können im Heiligen Geist. Aus diesem Grund die trinitarisch-kommunikative Gottesvorstellung eine echte Revolution in der Geschichte der Menschheit.

Ich habe weiter oben geschrieben, daß die substanzontologische Spaltung der Welt in "Ich" und "Andere" überwunden oder abgemildert werden kann, wenn man tatsächlich teilen würde, wenn man den anderen nicht zum Lustobjekt macht, sondern auf ihn und seine Bedürfnisse hören würde. Das dürfte für jeden unmöglich sein. Nehmen wir aber einmal an, das gelingt. Kann der, dem es gelingt, dann noch sagen, er lebt substanzontologisch als ein Objekt unter anderen? Ich denke nicht. Er hat sich verändert. Und zwar grundlegend.
Zuletzt geändert von laie am Do 25. Jul 2013, 13:10, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 12:57

Theologie ist mir insofern fremd, als ich da offengestanden kaum etwas oder jemanden kenne oder gelesen habe.
Wenn ich mich dem Thema annähere dann eher aus philosophischer Sicht oder eben in dem Versuch die Perspektive des Mystikers nachzuvollziehen, die aus einer Vielzahl von Gründen für mich die faszinierendste überhaupt ist. Insofern kenne ich Eckhart und ein paar andere aus dem christlichen Kontext, mehr aber auch nicht

Ich mache mir zwar in der Regel eine strikte Trennung zwischen Religion (die man glauben muss) und Mystik (die man erfahren muss) zu eigen, kann aber sehr wohl erkennen, dass ein ausgesprochen reflexiver Interpret wie Du als bloßer Glaubender völlig unzureichend bezeichnet wärst.

Interessant fände ich z.B. eine Erweiterung der Willensfreiheitsdiskussion. Für mich ist die Sache einerseits dahingehend entschieden, dass der Mensch klar begründbar eine freien Willen hat, auch in einer Welt, die 100%ig determiniert wäre. Allerdings spricht nichts dafür, dass die Welt tatsächlich zu 100% determiniert ist.
Die Auflösung des Willensfreiheitsdilemmas was z.B. Eckhart anbietet ist m.E. genial, denn bei ihm fallen Willensfreiheit und Egolosigkeit zusammen, so dass Glück auf dem Boden maximaler Selbstentfaltung oder sogar Selbsttranszendenz und Dienst im Weinberg Gottes zusammenfallen, sogar herzerfrischend zwanglos und auch dann, wenn man gar nicht an Gott glaubt.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 13:09

Ich weiss nicht, ob man Religion glauben muss. Ich tue mich selbst oft schwer damit. Ich denke aber, daß Glaube und die Reflexion des Glaubens einen davor bewahren können, Ideologien nachzulaufen. Augustin drückt das irgendwo in etwa so aus: was du verstehst, ist nicht Gott. Weltliche Heilslehren (Utopien) verstehe ich, darum verstehe ich auch, daß sie immer eine negative Seite in ihrem Erlösungsprogramm haben.

Was die Charakterisierung der Willensfreiheit angeht, so stimme ich mit dir überein. Muß man an Gott (als Dialog) glauben? Ich denke nicht. Jeder Mensch sollte sich den Hintergrund, vor dem er sich sehen möchte, selbst wählen dürfen. Darin liegt seine Freiheit, die man ihm nicht versagen darf. Ich meine nur, dass ein "gottloser" Hintergrund dem Menschen als Menschen nicht gerecht wird. Ein solcher atheistischer Hintergrund kann in meinen Augen immer nur eingeschränkt sein und damit auch das Bild, das der Mensch von sich hat. Dieser Gedanke wird ausgedrückt durch das Bild, dass Gott die verwirft, die nicht an ihn glauben. Es heisst nicht: die ihm nicht glauben, als ob es um den Wahrheitsgehalt von Aussagen Gottes handeln würde, die man entweder annehmen (glauben, fürwahrhalten) kann oder nicht; nein es heisst: die nicht an ihn glauben. Der Glaube an Gott erweitert das persönliche Universum. Die zweite Art des Glaubens: Fürwahrhalten irgendwelcher Sätze in sog. heiligen Büchern halte ich für problematisch.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 13:41

Ja, das ist spannend, weil es Philosophen wie Heidegger aber auch Mystiker mit Augustin verbindet.
Andere, alle im Dunstkreis der Frankfurter Schule, halten das vereinfacht gesagt für Kommunikationsverweigerung und das ist ja im Grunde Thema bis in heutige Qualiadebatten hinein.
Diese Auffassung, dass man es sagen können muss ist im Angesicht der linguistischen Wende natürlich nicht mehr so banal, wie mancher sich das vorstellt, da draußen gibt es eine reale Welt mit realen Gegenständen und dann die haften wir dann mal Zettelchen, die diese Gegenstände benennen.
Ich glaube, das Problem ist auch weniger, dass es keine Begriffe gäbe, denn die gibt es, das Problem scheint zu sein, dass geargwöhnt wird, jeder könne sich diese Begriffe zu eigen machen und großspurig oder salbungsvoll schwallern und es gäbe keine Möglichkeit der Kontrolle, des Einspruchs oder dergleichen.

Ich glaube, dass man sich sehr wohl auf Begriffe einigen kann, nur dass hinter diesen Begriffen eben auch eine Erfahrung stehen muss und ein intersubjektiver Pool von Menschen da sein muss, der sagt, ja, hier ist der Begriff angemessen verwendet, dort aber nicht. Ob sich dann an letzter Stelle etwas der Sprache entzieht, ist eher sekundär, wenn man erkennt, dass der Weg dahin keinesfalls mit Unsinn gepflastert ist, sondern reale Begebenheiten dahinter stehen, so wie man heute eben problemlos definieren kann, was ein Ich ausmacht und was es können sollte.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 13:53

Vollbreit hat geschrieben:... das Problem scheint zu sein, dass geargwöhnt wird, jeder könne sich diese Begriffe zu eigen machen und großspurig oder salbungsvoll schwallern und es gäbe keine Möglichkeit der Kontrolle, des Einspruchs oder dergleichen.


Ist der Relativismus, auf den du hier abzielst, ein Problem für dich oder nicht? Du sagst: "das Problem scheint zu sein, dass geargwöhnt wird ... " Das lässt mich vermuten, dass du das Problem der vielen Wahrheiten als Scheinproblem ansiehst. Weil es eben nicht so ist, dass jeder gscheid daherreden kann.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 14:11

Es ist für mich eher ein Scheinproblem.

PS:
Die Eintrittspforte in die Welt der Sprache ist ja tatsächlich immer hermeneutisch, was aber nicht bedeutet, dass es etwas für immer unklar bleiben muss.
Über Liebe kann man endlos reden und alles unter 1000 verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Dennoch ist eine in der Psychotherapie einfach und bedeutende Frage: Waren sie je verliebt? Wenn dann die Antwort lautet: „Ja, also das kommt drauf an, wie sie Liebe definieren“, spart man sich den Rest, denn wer mal verleibt war, weiß, dass er verliebt war und zwar sicher.

Rein logisch betrachtet schreibt man sich das ja nur selbst zu, aber genau darum geht es. Der Objektivismus ist eine Selbstzuschreibung über Bande und Heideggers Kritik, dass die Wissenschaft nicht denkt meint genau das, dass mit Begriffen gearbeitet wird, die ungeklärt sind. Nun ist die andere Frage ob man diese Begriffe eigentlich immer klären muss, vermutlich nein, man gebraucht sie einfach und hofft, dass der Rest sich im Verlauf gerade rückt, der Weg entsteht gewissermaßen bei Gehen, aber es gibt da keine Unterschied zur Hermeneutik.

Ob die Begriffe nun Gott, Erleuchtung, Rohrzange, politische Willensbildung oder Über-Ich lauten, ist dabei schnuppe.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Do 25. Jul 2013, 15:14

Vollbreit hat geschrieben:Der Objektivismus ist eine Selbstzuschreibung über Bande und Heideggers Kritik, dass die Wissenschaft nicht denkt meint genau das, dass mit Begriffen gearbeitet wird, die ungeklärt sind.


Wie in so vielem bin ich auch bei Heidegger völliger Laie. Aber er (Heidegger) nahm schon für sich in Anspruch, dass er Wissenschaft mit Begriffen kritisiert, die seiner Meinung nach geklärt seien? Ist da nicht ein Widerspruch zwischen Heideggers Kritik und der Wissenschaft, der er vorwirft, dass sie mit Begriffen arbeitet, die ungeklärt sind?

Oder war er der Meinung, daß "der Weg beim Gehen entsteht." (schönes Bild übrigens). Dann kann er nicht behaupten, dass die Begriffe in seiner metatheoretischen Wissenschaftskritik etwas anderes sind als die Begriffe in den Wissenschaft, die er kritisiert. Dann ist alles Pragmatik: seine Wörter und die der Wissenschaft und die des Alltags. Bin ich auf dem Holzweg mit meiner Deutung? Wenn nicht, entscheidet dann letztlich doch die Autorität dessen, der gerade spricht, über die Wahrheit dessen, was er sagt?
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Nanna » Do 25. Jul 2013, 16:57

Vollbreit hat geschrieben:Der Objektivismus ist eine Selbstzuschreibung über Bande und Heideggers Kritik, dass die Wissenschaft nicht denkt meint genau das, dass mit Begriffen gearbeitet wird, die ungeklärt sind. Nun ist die andere Frage ob man diese Begriffe eigentlich immer klären muss, vermutlich nein, man gebraucht sie einfach und hofft, dass der Rest sich im Verlauf gerade rückt, der Weg entsteht gewissermaßen bei Gehen, aber es gibt da keine Unterschied zur Hermeneutik.

Der Poststrukturalist würde sagen, dass Begriffe überhaupt nicht geklärt werden können, weil sie nur durch ihre Abgrenzungen von anderen Begriffen definiert sind, also zu 100% kontextual und zu 0% essentialistisch sind, was jede Positivdefinition unmöglich macht. Man kann dann in ein Diskurssystem zwar immer feinere Grenzen einziehen, aber das kann man in die Unendlichkeit fortführen und kommt nie bei der Essenz dessen raus, was der Begriff denn nun "wirklich" bedeutet.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Lumen » Do 25. Jul 2013, 17:50

Essentialismus ist auch Unsinn. Der Essentialist sucht nach der Essenz dessen was ein Hund zu einem Hund werden läßt, die Hund-Natur sozusagen. Dabei geht dem Hund ein beinahe Hund voraus, und davor ein beinahe-beinahe Hund und so weiter. Nie läutete das Universum die Glocke: „die Nachkommen von diesem Tier sind dann die erste Hunde, da genau jetzt alle essentiellen Hundeeigenschaften erstmals vorhanden sind“. Die anderen Ausführungen sind im Grunde Literatur, die sicher interessant, aber nicht unmittelbar mit der Welt zu tun haben. Eher wie ein Roman. Auch der kann ja in mehrfacher Hinsicht lehrreich sein, man kann von Charakteren und Motiven lernen, oder Umstände (Geschichte, andere Situation, wie es wäre wenn …). Allerdings doch eine andere Schiene, als Philosophen die näher dran sind an dem was wir wissen (Dennett gefällt mir da sehr gut, was für eine gequirlte Soße dagegen z.B. Kierkegaard ist). Theologie ist reine Fiktion, was ja nichts schlimmes ist. Man kann ja aus fiktiven Sachen lernen, es ist aber auch nur so brauchbar.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Nanna » Do 25. Jul 2013, 19:02

Ok, mit der Keuschheitsdebatte hat das jetzt alles nur noch insofern zu tun, als dass es um die Metafrage geht, ob durch Statistiken die moralische Wirksamkeit von Verhaltensweisen erhärtet werden können, aber das zu klären wäre ja auch schon mal ein sinnvolles Zwischenergebnis.

Der Poststrukturalist würde zu deinem Punkt einwenden, dass Theologie und Naturwissenschaft beides "Fiktion" sind und erstmal strukturell unentscheidbar ist, welches von beiden der "Wirklichkeit" näher ist. In poststrukturalistischen Debatten (oder allgemeiner bei allem, was nach der linguistischen Wende angesiedelt ist) ist die Verortung des Menschen in der Wirklichkeit eine rein diskursive Angelegenheit und Weltbilder sind in erster Linie Kontingenzen, wobei der Mensch der "exklusive Autor" seiner eigenen Welt ist. Letztlich obliegt es damit der Diskursgemeinschaft, sich der Verantwortung zu stellen, nicht ein angebliches Sosein der Natur oder Gottes vorzuschieben, um den (häufig ungerechten und Leid erzeugenden) Bestand zu rechtfertigen, sondern dass es unsere Aufgabe ist, die Welt zu dem zu machen, wie wir sie für gut befinden. Das Buch, aus dem ich das in dem Fall habe, heißt nicht grundlos "Emancipation(s)". Ob wir also die Theologie oder Naturwissenschaft oder etwas anderes zur Grundlage unseres diskursorischen Bezugsrahmens machen, ist keine Frage des Grades der Fiktivität einer Weltanschauung (zur Erinnerung: alle Weltanschauungen, auch die "objektivste", sind restlos fiktiv), sondern beruht auf unserer Entscheidung. Letztlich wendet Laclau sich mit dieser Konzeption gegen den Mythos einer alternativlosen Weltanschauung, die die unhinterfrag- und unhintergehbare "Wahrheit" darstellt.

Ich bin dieser Perspektive sehr zugeneigt, wobei ich sie mir nicht restlos zueigen mache, insofern, als dass ich der Meinung bin, dass durch die physische Welt bestimmte Vorstrukturierungen geschehen, die wir weder politisch noch philosophisch ignorieren können. Wenn wir auf das Thema der Sexualentwicklung bei Jugendlichen zurückkommen, sehe ich es als schwer zu vergleugnen an, dass Sexualität bei Kindern sich anders äußert als bei Erwachsenen. Insofern möchte ich den empirischen Zugang zur physis bei allen epistemologischen Unzulänglichkeiten des Empirismus nicht komplett verdammen, aber das hat dann pragmatische, mehr oder weniger wissenschaftspolitische Gründe als saubere philosophische. Aus poststrukturalistischer Sicht wäre ich hier ein politischer Poet, der sich der Überzeugungskraft des naturwissenschaftlichen Narrativs bedient.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Vollbreit » Do 25. Jul 2013, 21:57

@ laie:

Heidegger kann man nicht in wenigen Sätzen darstellen, zumindest traue ich mir das nicht zu. Aber man kann Schlaglichter einfangen und sich dem sehr anderen Denken Heideggers nähern.
Im Allgemeinen will er die Begriffe schon bestimmen, dass man das nur rückwirkend tun kann, ist ihm bewusst, er plädiert bspw. auch für einen Wandel der Sprache, hin zu einer poetischen Sprache. „Sein und Zeit“ hat ja den Inhalt, u.a. klar zu machen, dass wir zwar das Sein in allen Formen, als aller selbstverständlichsten Begriff benutzen, ohne zu wissen, was das Sein überhaupt ist.
Zum dem, was Du fragst, er selbst:



@ Nanna:

Der radikale Kontextualismus treibt natürlich vieles auf die Spitze und ist in dieser Form sicher nicht richtig. Nachher gab es noch einmal eine pragmatischen Wende in der linguistischen Wende. Das ist ein interessanter Punkt, den man klären sollte, weil da viel dran hängt.
Für mich steht fest, dass es sich um zwei Bewegungen handelt, die einander ablösen und nicht widersprechen. Ich will das jetzt nicht zu sehr ausführen, weil Keuschi dann wirklich zu kurz kommt und wer kann das schon wollen, aber es ist eher so, dass Handlungen und Objekte des Alltags in Sprachspiel eingewoben sind, als dass Sprache etwas wäre, bei dem Zettelchen an Gegenstände geheftet werden. Dieses Vorgehen braucht dann Empirie, keinen Empirismus. Aber ohne Weltkontakt ist Sprache nicht möglich, ein reiner Kontextualismus ist im Wesen ebenso metaphysisch, wie das rein Wissen der Wissenschaft, wir können da ja wirklich einen eigenen Thread draus machen.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon Nanna » Do 25. Jul 2013, 23:50

Ich hatte im Psychoanalyse-Thread angedeutet, dass es sich hier um eine dialektische Beziehung des aktiven Ausdeutens der physischen Welt und der Anpassung an äußere Gegebenheiten handelt.

Mir ist schon klar, nur um das gesagt zu haben, dass das ungeheuer radikal und dadurch sicher auch unpragmatisch und verzerrt ist. Mir macht das uneindeutige Spiel mit den Konzepten offenkundig auch mehr Spaß als anderen hier, die das als ganz gefährlichen Einbruch der Scharlatanerie empfinden.
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Re: Känguru predigt Keuschheit.

Beitragvon laie » Fr 26. Jul 2013, 07:15

Nanna hat geschrieben:Ob wir also die Theologie oder Naturwissenschaft oder etwas anderes zur Grundlage unseres diskursorischen Bezugsrahmens machen, ist keine Frage des Grades der Fiktivität einer Weltanschauung (zur Erinnerung: alle Weltanschauungen, auch die "objektivste", sind restlos fiktiv), sondern beruht auf unserer Entscheidung.


Das entspricht dem, was ich ein paar Beiträge weiter oben schrieb, daß nämlich jedem Menschen die Freiheit zugestanden werden sollte, sich den Hintergrund, vor dem er sich sehen möchte, selbst zu wählen.

Hat man aber einen Hintergrund gewählt, dann wird der Hintergrund m.E. so bestimmend, dass es in aller Regel keine Berührungspunkte mehr zu anderen Hintergründen oder Diskursen gibt, ausser vielleicht man weiss um die grundsätzliche Offenheit der Diskurse und der Möglichkeit, zwischen ihnen zu wechseln.

Lumen hat geschrieben:Essentialismus ist auch Unsinn. Der Essentialist sucht nach der Essenz dessen was ein Hund zu einem Hund werden läßt, die Hund-Natur sozusagen. Dabei geht dem Hund ein beinahe Hund voraus, und davor ein beinahe-beinahe Hund und so weiter.


Ich bin mir nicht sicher, ob Essentialisten wie Platon, Plotin, Augustin (?) ein generisches, quasi-naturwissenschaftliches Prinzip gemeint haben, wie du es hier anscheinend vermutest: "was ein Hund zu einem Hund werden lässt". Die ganze antike, frühmittelalterliche und mittelalterliche Philosophie hatte ein ausgefeiltes ontologisches Begriffsinstrumentarium, aber man darf nicht den Fehler begehen, darin gleichsam proto-naturwissenschaftliche Vorläufer zu sehen. So bezeichnet zum Beispiel der Begriff Materie nircht nur die Erde, den handgreifbaren Stoff, sondern findet auch Verwendung bei der Beschreibung von Handlungen: das konkrete, äusserliche sichtbare Tun des Menschen ist die Materie einer Handlung, die durch die Absicht, dem Ziel des Handelnden ihre Form aufgeprägt bekommt. Beides, Form und Materie, ergeben die Substanz. Am Beispiel der Handlung dürfte klar geworden sein, dass Substanz auch nichts mIt Flüssigkeiten im Reagenzglas zu tun hat.

@Vollbreit, Nanna, Lumen: es scheint mir, dass wir grundsätzlich ganz ähnlicher Auffassung sind. Keiner redet zumindest einer einfachen Substanzontologie das Wort. Mein Punkt ist noch, dass die Substanzontologie an sich nicht falsch ist, oder naiv: die grossen Erfolge in den Naturwissenschaften sind ohne die radikale Trennung zwischen Subjekt und Objekt nicht möglich. Und natürlich partizipieren wir alle von den Erfolgen der Naturwissenschaften: in der Medizin, bei unseren Lebensmitteln, usw. Wenn man die Welt substanzontologisch ausdeuten will, dann ist darin kein Fehler. Nur kann man sich dann nicht mehr mit jemanden unterhalten, der die Welt relationalontologisch deutet. Daraus resultieren m.E. die grössten Hindernisse bei dem Dialog zwischen Naturwissenschaft und Glaube, nicht so sehr zwischen hermeneutischer Geisteswissenschaft und Glaube.
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