„Atheistischer Fundamentalismus“

Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon provinzler » Fr 28. Feb 2014, 10:46

Lumen hat geschrieben:Profesionalität bedeutet eben mehr Rigorosität und Routine und erprobte Abläufe, beim Hürdenlauf wie auch bei der Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Angelehnt an ein Beispiel von Dawkins: „Es wurde ihm privat offenbart, wo sich das Gnu (Wildebeest) befand“, ein solches Denken sollte respektiert werden? Man könnte im Hinblick auf Pinkers Intelligenzdefinition auch vom Glauben als intelligenzbehindernde Einstellung sprechen. Ich sehe nicht warum ich das respektieren sollte und finde überhaupt die Forderung überaus kurios.

Du solltest auch solche Menschen respektieren, auch wenn du vielleicht über ihre Methodik lächeln magst.

Lumen hat geschrieben:Nimm dir ein entgegengesetzes politisches Lager, deren Ansichten du überhaupt nicht nachvollziehen kannst. Respektierst du die Ansichten? Forderst du von anderen, dass sie diese Ansichten respektieren?

Ich bin in meinen Jobs in den letzten 15 Monaten ziemlich viel in der Stadt herumgefahren und dabei regelmäßig allerlei Werbeaktionen (Wahlstände,Greenpeace etc.) in die Arme gelaufen. Gerade Greenpeace oder auch die Linkspartei sind schon Gruppierungen mit deren Ansichten ich mal so gar nicht konform gehe. Trotzdem habe ich es hingekriegt mich mit diesen Leuten teilweise eine halbe Stunde oder länger zu unterhalten, und den ein oder andren Zweifel an bisherigen Positionen zu wecken, ohne gegenseitige Vorwürfe. Ich respektiere diese Menschen, auch wenn ich deren Ansichten für falsch halte.
Und da ist noch ein Unterschied. Die Linkspartei greift mich mit ihrer Ideologie persönlich an. Die katholische Kirche kann dir hingegen scheißegal sein...



Lumen hat geschrieben: Auch sehr interessant das wir von Terrorismus und Paranoia (lt. Börgers Artikel/Vollbreit, sekundiert von Nanna) über auf den „Altar kacken“ nun bei „anbrüllen, runtermachen und beleidigen“ und ich schätze im nächsten Kommentar dann bei „widersprechen“ angekommen sind. Ich brülle zum Beispiel keine Gläubigen an.

Dann ist das ja in Ordnung.
Lumen hat geschrieben:Der Witz bei der Sippenhaft ist gerade, dass ein Angehöriger der Sippe nichts dafür kann, in die Familie geboren worden zu sein. Im Unterschied dazu kann jemand die katholische Kirche unterstützen, oder es eben lassen. Wer sie freiwillig unterstützt, also etwa Geld überweist, trägt auch Verantwortung dafür, was die Kirche so treibt. Und ja, wer billige Textilien aus asiatischen Sweatshops kauft, trägt auch Verantwortung dafür. Und wo wir bei Edathy sind, wer sich bestimmtes Material beschafft, stützt ebenfalls bestimmte Strukturen. Willkommen in der Welt ohne Doppelstandards.

Diese Ansicht ist in Ordnung.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon laie » Fr 28. Feb 2014, 17:05

Hallo zusammen,


ich wollte nur noch ein schönes Wochenende wünschen.

Es ist schon komisch: da möchte Lumen auf Teufel-komm-raus die Behauptung bzw. den Schwarzen Peter, ein atheistischer Fundamentalist von sich weisen, während Vollbreit und andere ihm diese Karte zuschieben möchten. Mittlerweile sind wir hier schon soweit, dass ich mich frage, ob Nanna nicht so ein religiöser Fanatiker ist, der, getarnt, schleichend die letzte Bastion aufrechter Atheisten schleifen möchte.

Ich meine, es neigt zunächst einmal jeder zum Fundamentalist, wer seine Meinung scharf vertritt. Denn eine Meinung zu haben schliesst deren Gegenteil kategorisch aus. Wohlgemerkt: es geht um Meinungen haben und Meinungen vertreten. Nur wenn es um Meinungen und Ansichten geht, die ich verbalisieren muss, kann ich nicht gleichzeitig Christ und Atheist sein. Im täglichen Leben geht das schon. Aber vielleicht kann ich in der Diskussion von meinem Standpunkt abrücken. Das mache ich aber nur, wenn ich eine Hand gereicht bekomme, die es mir erlaubt, mein Gesicht zu wahren. Und ich muss meinem Kontrahenten das gleiche bieten. Das wäre dann ein Dialog, wo wir beide hinter unseren Ansichten zurücktreten. Auch wenn es uns hier viel Spass macht, aber Dialoge führen wir hier nicht.

PS vielleicht wäre das ein "Fundamentalisten-Test", wenn man einmal schaut, ob man die Meinung des anderen verteten kann, also quasi tauscht.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Fr 28. Feb 2014, 23:20

laie hat geschrieben:Mittlerweile sind wir hier schon soweit, dass ich mich frage, ob Nanna nicht so ein religiöser Fanatiker ist, der, getarnt, schleichend die letzte Bastion aufrechter Atheisten schleifen möchte.

Und ich dachte wirklich, den Gipfel der Absurditäten hätten wir hinter uns. Ich lerne noch.

Falls es dich beruhigt: Ich gehe nach wie vor davon aus, dass die Welt "nur" aus Materie und Energie besteht und es keine "höheren" Entitäten gibt. Ich gehe nur auch davon aus, dass es dem Universum egal ist, ob ich das denke, und es weiterhin "mit rechten Dingen zugeht" (es außer der physischen Welt nichts gibt, zumindest nichts für uns Zugängliches), unabhängig davon, was wir denken.

laie hat geschrieben:Auch wenn es uns hier viel Spass macht, aber Dialoge führen wir hier nicht.

Was ich übrigens äußerst schade finde.

laie hat geschrieben:PS vielleicht wäre das ein "Fundamentalisten-Test", wenn man einmal schaut, ob man die Meinung des anderen verteten kann, also quasi tauscht.

Wir können es zumindest ausprobieren, ich wäre dabei. ;-)

Da Lumen ein Angebot gemacht hat, nochmal über den eigentlichen Gegenstand zu sprechen, will ich mich dem nicht entziehen.

Ich würde auch gern einen Versuch machen, die Diskussion wieder etwas zu versachlichen. Ausgeteilt haben wir ja alle jetzt genug. Vielleicht können wir uns fürs Erste auf "agree to disagree" einigen und erst mal gegenseitig nochmal in Ruhe darstellen, was wir meinen. Dann ist evtl. der Impuls nicht so stark, das Gegenüber gleich überzeugen zu müssen.

Lumen hat geschrieben:Wo siehst du den „Atheistischen Fundamentalismus“ konkret und welche Definition gilt nun (was ist jetzt mit Paranoia und Terrorismus)?

Ich hatte ja schon gesagt, dass ich persönlich mehr der engeren Sichtweise von Fundamentalismus zuneige, weil ich schärfere Definitionen sinnvoller finde. Und ich folge insgesamt der politikwissenschaftlichen Forschungsliteratur v.a. nach Bruce B. Lawrence, Thomas Meyer und Shmuel Eisenstadt. Ich habe mit deren Definitionen schon gearbeitet und finde die überzeugend.

Ich definiere daher - zumindest jetzt mal für diesen Fall - Fundamentalismus als Unterform (moderner) Ideologie. Das ist jetzt einfach mal eine Setzung, die ich, wie gesagt, in der Fachliteratur überzeugend hergeleitet finde. Wer sich einlesen will, dem seien die folgenden drei Publikationen wärmsten empfohlen:

  • Eisenstadt, Shmuel Noah: Die Antinomien der Moderne – Die jakobinischen Grundzüge der Moderne und des Fundamentalismus, Frankfurt am Main 1998.
  • Lawrence, Bruce B.: Defenders of God – The Fundamentalist Revolt against the Modern Age, London / New York 1989.
  • Meyer, Thomas: Fundamentalismus – Die andere Dialektik der Aufklärung, In: Meyer, Thomas (Hrsg.): Fundamentalismus in der Moderne – Die Internationale der Unvernunft, Frankfurt am Main 1989.

Ideologien sind, B.B. Lawrence folgend, bestrebt, die Ambiguität zwischen Sein und Sollen zu erkennen und zu beheben, also eine als defizitär erlebte Realität in einen Idealzustand zu überführen (hierin unterscheidet sich ideologisches/politisches Handeln vom wissenschaftlichen, das danach strebt, zu erkennen, was ist, also deren Ouptut sich in deskriptiven Sätzen erschöpft). Sie sind, vereinfacht gesagt, säkularisierte Eschatologien, die ihr Ideal (das Heil, die Utopie) nicht mehr, wie die Religion, im Jenseits suchen, sondern es als im Diesseits erreichbar ansehen (Kommunismus: Der Sieg der Arbeiterklasse steht bevor; Nationalsozialismus: Die judenfreie Welt ist machbar; Islamismus: Der islamische Staat kann umgesetzt werden; Jakobinismus: Die Herrschaft der Vernunft bricht an; usw...); Ideologien haben immer etwas endzeitliches an sich. Gleichheit und Harmonie der Menschen stehen im Fokus, außerdem ermöglicht die Ideologie nach Ansicht der Ideologen ein einheitliches moralisches Handeln. Das ist nur folgerichtig, denn die Ideologie will ja die Realität in Richtung eines idealen moralischen Zustands verändern. Häufig zu sehen ist, dass die Ideologie elitär erarbeitet und dann von den Vordenkern auf die Gesamtheit der Gruppe projiziert wird, von der erwartet wird, dass sie den Dogmen der Ideologie mit vollem Willen folgen und sich zu autonomen Werkzeugen ihrer Verwirklichung machen.
Wie Eisenstadt darlegt, neigen Ideologen dazu, "reine Räume" durch Ritualisierungen und Symbolisierungen zu schaffen, die strikt von "unreinen" Räumen getrennt gehalten werden. Wann immer beispielsweise jemand fordert, das Brightsforum von Religiösen frei zu halten, passiert genau das. Die Alternative zur Schaffung abgeschotteter Räume ist die gewaltsame Beseitigung der Ambiguitäten durch die ideologische Gruppe, wozu vor allem Gruppen neigen, die sich bedroht sehen.

Was den Fundamentalismus von sonstigen Formen der Ideologie unterscheidet, ist die religiöse und traditionalistische Bezugnahme. Ich lasse mal meine drei Autoritäten für mich sprechen:
  • Thomas Meyer: „Fundamentalismus ist eine willkürliche Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozess der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll.“
  • Bruce B. Lawrence: Lawrence: „Fundamentalism is a novel ideology congruent with the interests of specific groups responsing to social tensions generated by the contemporary world.“
  • Shmuel Eisenstadt: „Das Hauptkennzeichen ihrer [der Fundamentalisten] 'Reaktion' auf die Moderne ist ihre totalistische Konstruktion einer geschlossenen utopisch-konfessionellen Vision und deren Legitimation in Begriffen einer ideologisierten Tradition;“

Lawrence identifiziert darüber hinaus einige empirische Sondermerkmale:
  • Fundamentalisten sind, auch in der eigenen religiösen Tradition, fast immer eine Minderheitsbewegung.
  • Das Handeln ist konfrontativ ausgerichtet, auch gegenüber Mitreligiösen.
  • Sie berufen sich auf die wörtliche Auslegung heiliger Schriften (im Gegensatz zu Ideologen, die ihre Dogmen selbst erarbeiten und sich häufig gezielt gegen Traditionen stellen; siehe insbesondere den Kommunismus), die fast immer von charismatischen, männlichen Eliten vorgenommen wird.
  • Sie bilden ein eigenes technisches Vokabular heraus, um die Einzigartigkeit des eigenen Standpunkts zu unterstreichen.
  • Antimoderne (antipluralistische, antiintellektuelle) Bestrebungen werden mit modernen Mitteln (Massenmedien, Telekommunikation, pseudowissenschaftliches Vokabular, etc.) verfolgt.

[Bitte nachfragen, falls etwas unklar ist; ich habe hier gerade drei halbe Bücher über Ideologie und Fundamentalismus auf ein paar Zeilen zusammengeschnurrt, da sind Unklarheiten quasi vorprogrammiert.]

Mal abgesehen davon, dass das recht gut die Grundlagen des modernen politikwissenschaftlichen Forschugnsstandes umreißt, sind das meines Erachtens recht schlüssige Merkmale.

Atheistischer Fundamentalismus?
In dieser engen Definition ist es meines Erachtens nicht sinnvoll, von atheistischem Fundamentalismus zu sprechen. Was aber sehr nahe damit verwandt ist und was ich als durchaus sinnvoll ansehe, ist von "ideologischem Atheismus" zu sprechen. Das betrifft alle Formen von Atheismus, die über eine kosmologische Statusbestimmung (Was ist unserer Ansicht nach der Mensch? Was ist unserer Ansicht nach das Universum?) hinausgehen und normative, politische Forderungen erheben, die als Endziel die Ausrottung der Religion zugunsten der "Vernunft" bzw. eines "wissenschaftlichen Weltbildes" implizieren.

Es ist meines Erachtens absoluter Etikettenschwindel, Wissenschaft und gesellschaftliche Freiheit als Begründung für solche politische Agitation anzuführen, die die quantitative Verringerung der Weltbilder, d.h. die Vereinheitlichung der möglichen Weltbilder zum Ziel hat. Wissenschaft ist für sich genommen eine beschreibende Disziplin, die per definitionem überhaupt keine politische Agenda haben kann; und gesellschaftliche Pluralität als Wert an sich erfordert, den Anderen zu respektieren und als vernunftfähiges Wesen anzuerkennen. Das kann implizieren, Weltbilder, die einen nicht überzeugen, so stehen zu lassen, wenn Andere ihnen folgen, und sich davon nicht provoziert zu fühlen.
Wer also fordert, die Welt solle dem Lebensstil und dem Weltbild einer bestimmten akademischen Elitengruppe folgen, erstrebt meines Erachtens genau die Gleichheit und Harmonie der Menschen sowie das einheitliche moralische Handeln, die ich weiter oben als typische Kennzeichen von Ideologien zitiert habe. Die elitäre Interpretation wird durch den permanenten Rekurs auf die Four Horsemen übrigens gleich mitgeliefert. Hat nicht ironischerweise Schmidt-Salomon immer so gern davon geredet, dass auch säkulare Ideologien ihre Hohepriester haben?

Lawrence spricht an, dass Fundamentalismus sich darin äußert, dass die Vielfalt von Lebensformen als Bedrohung wahrgenommen wird. Ich denke, das ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der zentrale Punkt: Gerade die Schwierigkeit, die viele Neue Atheisten damit zu haben scheinen, die Existenz religiöser Lebensentwürfe zu akzeptieren, ist meines Erachtens einer der Punkte, wo der Neue Atheismus am stärksten ideologisiert ist. So, wie die wissenschaftliche Methode als Retter in allen Lebenslagen angepriesen wird, finde ich, trifft auch der Punkt "Verdammung aller Alternativen" so richtig ins Schwarze. Wohlgemerkt: Ich rede hier nicht von einer Einführung religiöser Methodik an Universitäten, sondern von privaten Lebensentwürfen, die ja in allen einschlägigen Schriften des Neuen Atheismus (z.B. dem Gotteswahn oder auch "The End of Faith") scharf angegriffen werden.
Insofern finden sich meines Erachtens schon (zentrale!) Merkmale am Neuen Atheismus, die in eine ideologische bzw. quasi-fundamentalistische Richtung tendieren. Was ich dabei auch als Problem ansehe, ist, dass ich es bislang nicht erlebt habe, dass dem von Leuten, die sich dem Neuen Atheismus zurechnen, widersprochen wurde. Den eigenen Ton anpassen wäre eigentlich nicht schwierig, falls es doch nur PR-Problem wäre und in den Reihen der Neuen Atheisten eigentlich alle voll pluralismusgeil sind und zu Unrecht als intolerant dastehen. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass das Image der Intoleranz gegenüber religiösen Mitmenschen irgendwen bei den Neuen Atheisten stören würde, eher im Gegenteil. Und das ist ja auch meine persönliche Hauptkritik am Neuen Atheismus, nämlich dass die Argumente in Bereiche überdehnt werden, wo sie nicht hingehören, und dass sich viele in der Debatte im Ton vergreifen und auch diejenigen attackieren, die harmlos sind, nur weil sie zufällig einen Lebensentwurf verfolgen, der den Neuen Atheisten nicht passt.

Nochmal auf den Punkt gebracht: Es scheint unter den Neuen Atheisten die Ahnung/Angst zu bestehen, dass die Welt der allumfassenden Vernunft und Wissenschaftlichkeit vielleicht doch nicht oder zumindest nicht in naher Zukunft anbricht; dass der Mensch sich weiterhin höchst irrational verhalten wird und komischen Dogmen und Offenbarungen anhängen wird; dass die Welt unübersichtlich und messy sein und bleiben wird; und um das zu mildern, wird dann die Flucht in eine heile, wissenschaftlich verbrämte Welt angetreten, die alle Widersprüchlichkeiten und Irrationalitäten beseitigen kann, so wie eine gute ideologische Utopie als säkulare Eschatologie das eben tut.

Bevor Missverständnisse entstehen: Jede politische Handlung hat solche Muster und zu ermitteln, wo der gesunde Zustand des scharfen Vertretens einer Meinung, den jede Demokratie braucht, in eine extremistische, verbohrte Form übergeht, ist nicht immer leicht zu treffen. Von daher bleibe ich auch dabei, dass Dawkins in manchem, was er sagt, ungesunden ideologischen ("fundamentalistischen", wie auch ich es weiter vorn genannt habe) Ballast mit sich herumschleppt, aber ich sehe ihn nach wie vor nicht als voll manifestierten Fundamentalisten oder Ideologen. Er hat allerdings eine ideologische Herangehensweise, die ich kontraproduktiv und nicht im Sinne der Aufklärung finde, insofern, als dass er mehr damit beschäftigt ist, Menschen für ihr So-sein zu kritisieren, als sie zu ermutigen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und dann einfach zu schauen, wo sie das hin bringt (sicher nicht immer zu denselben Schlüssen, wie er, und das sollte er respektieren können).
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Sa 1. Mär 2014, 09:43

laie hat geschrieben:PS vielleicht wäre das ein "Fundamentalisten-Test", wenn man einmal schaut, ob man die Meinung des anderen verteten kann, also quasi tauscht.


:up:
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Lumen » Mo 3. Mär 2014, 21:12

Ich hatte das vorher begonnen, dann keine Zeit und Lust gehabt, nun aber fortgesetzt. Es bezieht sich nicht direkt auf Nannas Text, damit auch kein "Du", aber ich gehe hoffentlich schon auf verschiedene Behauptungen ein.

Im vorliegenden Thema wurde versucht, einen bestimmten Typen von Atheismus zu beschreiben, von dem Vollbreit (und danach Nanna) meinen, er träfe auf mich und andere Atheisten zu. Wenn wir jetzt Schritt für Schritt durchgehen, lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf einen speziellen Typus von Atheismus, der hier „atheistischer Fundamentalismus“ genannt wurde. Wir holen uns die Bedingungen ab, die Vollbreit/Nanna (oder der Artikel) vorgeschlagen haben und müssten dann Atheisten mit den Beschreibungen vergleichen.

Ich sehe zwei wesentliche Aspekte, die als Kritik vorgebracht wurden: zum einen sei eine bestimmte Gruppe von Atheisten dogmatisch oder fundamentalistisch, wobei kein Versuch unternommen wurde, darzustellen, was denn die Dogmata oder das angebliche Fundament sein sollen. Das wäre ein inhaltlicher Kritikpunkt, der von Vollbreit bislang nur als „Szientismus“ oder „Biologismus“ bezeichnet wurde. Wir kommen aber kein Schritt näher, wenn wir ein schlampig beschriebenes Wort durch das nächste austauschen. Der zweite Kritikpunkt ist formaler Natur: diese angeblich dogamtischen Ansichten würden laut, schrill, kämpferisch vertreten. Zuerst mal der erste, inhaltliche Aspekt.

Inhaltliche Kritik: Atheistische Dogmen?

Kontext
Da Vollbreit und Nanna aber genau klingen, wie Vertreter des Akkomationismus (wie Pigluicci), sind die Kritikpunkte eventuell übertragbar. Der Szientismus-Vorwurf wird gerne vor allem gegen Sam Harris‘ „the Moral Landscape“ vorgebracht, das versucht die wissenschaftliche Methode auf Fragen der Moral auszudehnen. Sam Harris meint dazu (zitiert von Victor Stenger):

Sam Harris hat geschrieben:The Moral Landscape wasn’t a claim that current science, narrowly defined, can answer all our moral questions. It was an argument against moral relativism—the idea that questions of right and wrong have no answers, or that such answers are merely made up, culturally constructed, etc. More generally, the new atheists are not arguing that science covers all of human knowledge. We are saying that in every domain of knowledge there is an important distinction between having good reasons for what one believes and having bad ones. Religion consistently falls on the wrong side of that divide. In fact, it even has a doctrine that appears to justify staying on the wrong side (faith).
[Hervorhebung von mir]


Da zumindest Nanna einräumt, dass es keine “other ways of knowing” gibt, keine “alternativen Wege zum Wissen” also beispielweise durch göttliche Offenbarung, wäre er gezwungen, Sam Harris Diagnose zu unterstützen. Nanna behauptete außerdem, dass er kein Relativist sei, bezog sich dann aber auf „Blickwinkel“ und „herrschende Meinungen“ (in Bezug zu Evolution). Wie gewohnt: man wird von Vollbreit und Nanna im Dunkeln gelassen, was sie meinen. Ihre Allgemeinplätze sind aber weithin bekannt und werden immer dann immer vorgekramt, wenn sie die Illusion erwecken wollen, sie hätten sich doch klar geäußert (einfach mal drauf achten: „[Allgemeinplatz] habe ich dich schon zum hundersten Mal erklärt“). Vollbreits Kontext sollte vielleicht auch noch kurz angeschnitten werden. Er bekundete mystizistische Ansichten und ist Anhänger von Ken Wilber, welcher schreibt:

Ken Wilber hat geschrieben:Maybe the evolutionary sequence really is from matter to body to mind to soul to spirit, each transcending and including, each with a greater depth and greater consciousness and wider embrace. And in the highest reaches of evolution, maybe, just maybe, an individual's consciousness does indeed touch infinity—a total embrace of the entire Kosmos—a Kosmic consciousness that is Spirit awakened to its own true nature.


Vollbreits Ansichten wurden bisher nicht weiter diskutiert, darum weiß ich nicht, ob Vollbreit dies alles unterschreibt (und sollte auch nicht hier stattfinden). Es ist aber erkennbar ein Problem für ihn, dass manche auf empirische Belege bestehen und unbelegte Wunschvorstellungen als deutlich unwahrscheinlicher ansehen.

Wahrscheinlichkeiten
Ich gehe selten von „wahr“ oder „falsch“ aus, sondern von Wahrscheinlichkeiten und setze diese nach Art eines intuitiven Bayestheorems ein. Ich nehme Universum A mit bestimmten Eigenschaften und vergleiche es mit Universum B mit bestimmten (anderen) Eigenschaften, wobei es einen beliebig kleinen Unterschied zwischen beiden geben muss. A und B setze ich in Bezug zu den Fakten. Auch die Fakten selbst können bei Nahsicht in verschiedene Interpretationen aufgeschlüsselt werden. Gehört beispielsweise ein dunkler Fleck auf einem Stein zu der versteinerten Knochenstruktur?

Nun sind von allen möglichen Interpretationen manche ähnlicher zueinander. Beispielsweise könnte es sein, dass, egal, ob der Fleck ein Knochen ist, oder nicht, es bei den allermeisten Interpretationen keinen Einfluss auf den Befund hat. Nehmen wir an, wir hätten mehrere Hypothesen. Der Fleck könnte ein abgeplatzter Knochen sein. Es könnte eine Wucherung sein. Es könnte ein fremder Knochen von einem anderen Tier sein. Obwohl ich nicht weiß, welche der Interpretationen stimmt, haben alle gemeinsam, dass sich mein übergreifender Befund – die Einordnung des Fossils in ein bestimmtes Taxon – nicht ändert. Die Wahrscheinlichkeiten für jede Möglichkeit addieren sich zumindest auf, wenn es darum geht, das Fossil zu identifizieren, selbst wenn ich gleichzeitig nicht weiß, welche der Möglichkeiten stimmt („wahr“ ist). Die Serie der gegenläufigen Interpretationen wären all jene, wo der Knochen die taxonomische Einteilung verändern würde, z.B. wenn sich herausstellt, dass es ein Horn oder eine Rückenflosse oder ähnliches ist. Da diese Möglichkeiten für gering wahrscheinlich befunden wurden, kann ich mit einer hohen Sicherheit davon ausgehen, dass das Fossil richtig identifiziert wurde.

In der Wissenschaft gibt einige solcher Fälle. Zum Beispiel die Abiogenese – die Entstehung des Lebens. Niemand weiß, wie das Leben entstanden ist. Aber gleichzeitig haben wir verschiedene plausible Möglichkeiten. Obwohl wir derzeit nicht wissen, welche stimmt, können wir die natürlichen Ursprünge des Lebens mit Übernatürlichen vergleichen, für die es garkeine brauchbaren Hypothesen gibt. Wir können uns also sehr sicher sein, dass das Leben natürlichen Ursprungs ist, ohne zu wissen, welche der verschiedenen Möglichkeiten die richtige ist, denn der natürliche Ursprung ist allen wahrscheinlichen Hypothesen gemein. Für die übernatürlichen haben wir hingegen keinerlei Belege und auch keine brauchbaren Ansätze, folglich können wir diese Möglichkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen. Ebenso wissen wir nicht, ob das Universum mehr wie im Big Bang Modell oder im Big Crunch Modell funktioniert. Wir wissen nicht welche der String-Theorien die zutreffenste ist. Auch in diesem Bereich sind Wissenschaftler eher noch zu harmlos und folgen üblicherweise einer präzisen, dem Alltagsverständnis manchmal widersprechende Ausdrucksweise. Sie sagen (korrekt) sie wissen es nicht, und die Gläubigen haben dann Hoffnungen, dass ihre übernatürlichen Ideen vielleicht noch im Rennen sind. In Wirklichkeit wissen wir aber durchaus genug, um die Klasse an Theorien mit übernatürlichen Elementen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. Auch hier nimmt die Öffentlichkeit den Stand der Dinge zugunsten von Religion und Glaube verzerrt wahr.

Manche Leute scheinen sich sehr für jede kleine philosophische Verästelung zu interessieren. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich beobachte es auch bei Dawkins und anderen Atheisten, dass sie darauf nicht sonderlich viel geben. Und genau das scheint das Problem für die Obskurantisten, Theologen und Philosophen zu sein, die auf ein bestimmtes Pferd setzen und dann enttäuscht sind, dass Dawkins und Co. die Pferdewette mit ihnen garnicht erst eingeht. Es wird dann vorgeworfen, sie würden sich nicht hinreichend mit ihrer arkanen Disziplin auseinandersetzen, wobei allen Neuen Atheisten gemein ist, dass sie Übernatürlichem eine geringste Wahrscheinlichkeit beimessen und es deshalb egal ist, auf welches Pferd ein bestimmter Theologe, Philosoph setzt.

Aber auch verschiedene philosophische, oder theologische Modelle lassen sich auf die oben genannte Weise (Fossilienbeispiel) handhaben ohne das ich auf irgendein Pferd setzen muss. Ich kann mir eine Sammlung anschauen und sie mit einer anderen vergleichen. Das ist der angebliche Szientismus – das einzige fundamentalistische daran ist, dass eine wie auch immer geartete Realität angenommen wird, die jenseits unserer Sinne liegt, auf die wir (als Spezies) jedoch evolutionär angepasst sind und die wir studieren können. Und diese Sichtweise ist nicht fundamentalistisch, sondern entspricht dem besten Wissen was wir derzeit haben. Auch wird gerne übersehen, dass die ganzen Fakten und Theorien zusammenpassen, jeweils unabhängig überprüft werden und sich dann auf wundersame Weise einfügen. Deshalb sind solche Behauptungen wie Evolution sei nur eine Frage des Blickwinkels (Nanna) umso bizarrer, da hier Physiologie, Mikrobiologie, Anatomie und Genetik (meistens) dieselbe Geschichte erzählen.

„Blickwinkel“ und andere post-moderne Ideen sind Unsinn. Jenseits der trivalen Einsicht, dass ein Elefant von verschiedenen Seiten betrachtet immer anders aussieht, gibt es keine tiefere Wahrheit in Nannas Ansichten. Es sind Allgemeinplätze. Die Blickwinkel auf den Elefanten lösen sich damit auf, dass der Elefant ein dreidimensionales Objekt ist, das einige Eigenschaften bei der Projektion auf zweidimensonale Flächen (beispielsweise die Netzhaut) verliert. Wir sind allesamt Menschen und haben sehr vergleichbare Gehirne, sehen sowohl die zweidimensionalen Flächen, und haben prinzipiell denselben Zugang zum dreidimensionalen Objekt. Die Wunschvorstellung vom Vorrecht der Kultur ist nachweislich falsch. Möchte Nanna oder Vollbreit auf Fundamentalismus bestehen, müssen sie jetzt nachweisen, inwiefern die Annahme einer wie auch immer gearteten studierbaren Realität gleich „fundamentalistisch“ ist.

Im englischen gibt es noch den Ausdruck des „open minded“ sein, der für nicht-fundamentalistisch steht. Religiöse, Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und so fort haben dieses „Ideal“ mittlerweile gekapert und umgewertet. Neuerdings bedeutet „open minded“ zu sein, nicht etwa bei Auftauchen neuer Belege eine Ansicht zu ändern, sondern es meint nun im Gegenteil, ihre jeweilige Fantastik als „möglich“ anzuerkennen, obgleich es garkeine Belege dafür gibt. Wer nicht an UFOs, Kristallstrahlen, Seelenwanderung oder Gott glaubt, der sei „closed minded“. Es sollte aber erkennbar sein, dass solche Leute eigentlich „closed minded“ sind, denn nichts kann sie von ihrer fantastischen Sichtweise abbringen. Leider ist es so, dass Nanna und Vollbreit das unterstützen. Mitlerweile wurde der Begriff aufgegeben und heißt dazu: „Keep an open mind – but not so open that your brain falls out“. Diese Umwertung von Themen, die positiv besetzt sind, ist typisch für Marketing, PR und Propaganda (was alles gemeinsame Wurzeln hat). Wenn man will, kann man jeden Schund mit ein wenig Biegen an positive Werte heften, zum Beispiel auch — wie eine Zigarettenmarke — wahlweise Freiheit, Mut und Entschlossenheit mit Einatmen von Teer.

Anders als wirkliche Fundamentalisten, haben Neue Atheisten keine Loyalitäten, schwören auf keine Bücher, und uns fällt auch kein Zacken aus der Krone sollte morgen Jesus auftauchen und eine Pressekonferenz geben. Das tatsächliche Auftauchen des Übernatürlichen wäre ein riesen Einschnitt in das Weltgeschehen und fast alle Menschen lägen mit ihrer Privatansicht falsch. Ich kann mir guten Gewissens erlauben, dann auch falsch gelegen zu haben.

Formelle Kritik: zu kämpferisch?

Dann gäbe es noch einen zweiten Aspekt, der vielleicht bei Nanna und Vollbreit überwiegt. Neben der inhaltlichen Kritik (Szientismus etc), dass die Ansichten fundamentalistisch oder dogmatsich seien, wird von Akkommodationisten immer wieder formale Kritik laut. Kurzum, „fundamentalistische Atheisten“ hätten dogmatische Ansichten die sie zu laut, provozierend, schrill, kämpferisch, militant, „stridend“ usw. vortrügen. Zunächst einmal könnte man sagen: „So what?“.
Wenn eine Gruppierung keinerlei Argumente hat, sich auf Wunschdenken und bronzezeitliche Märchengeschichten beruft, andere entmenschlicht, indem ihnen moralische Fähigkeiten abgesprochen werden (die angeblich von der präferierten Gottheit gestiftet wurden), und allgemein Ansichten haben, die man wohlwollend als „sich einen Reinspinnen“ bezeichnen könnte, dann finde ich es durchaus angebracht das mit einer gewissen (längst überfälligen) Deutlichkeit zu sagen. Deutlichkeit hat mit „Anbrüllen“ nichts zu tun. Solche Zuschreibungen basieren auf reiner Meinungsmache derjenigen, die nicht mehr weiter wissen und deshalb auf Förmlichkeiten ausweichen. Victor Stenger schreibt dazu passend:

Victor Stenger hat geschrieben:The new atheists question whether faith, which is belief despite the absence of evidence or even in the presence of contrary evidence, has any moral or intellectual authority. New Atheism recognizes religion for what it is—a set of unfounded superstitions that have been the greatest hindrance to human progress that ever existed on this planet.


Damit fliegt dann einerseits der Vorwurf des anti-modernen aus dem Fenster, der sich im Fundamentalismus Begriff verbirgt und andererseits gibt es gute Gründe deutlich zu sein. Wir können uns eingedenk der technologischen Möglichkeiten keinen Aberglauben mehr erlauben. Ich bin lieber deutlich, als das wegen abergläubischer Ansichten Menschen sterben müssen.

Schließlich wundert mich, dass Nanna und Vollbreit und Religiöse ausgerechnet an (ansonsten harmlosen) Atheisten Anstoß nehmen, nicht aber an dem, was im Namen von Religionen passiert. Das ist die bekannte Mechanik: Jemand zeichnet Cartoons. Die Moderaten aller Lager verurteilen kurz die Gewalt und Todesdrohungen, nicht aber um direkt anzufügen, dass man Glaube nicht provozieren dürfe. Und es geht dann vornehmlich darum, ob man Cartoons malen darf. Die Feindlichkeit gegen andersdenkende in vielen Religionen provoziert niemanden. Cartoons aber schon.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Di 4. Mär 2014, 01:15

Du hast nach wie vor meine Kritik an deiner Position nicht verstanden. Und ich werde mich nicht mehr wiederholen.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Zappa » Di 4. Mär 2014, 22:10

Nanna hat geschrieben: In dieser engen Definition ist es meines Erachtens nicht sinnvoll, von atheistischem Fundamentalismus zu sprechen. Was aber sehr nahe damit verwandt ist und was ich als durchaus sinnvoll ansehe, ist von "ideologischem Atheismus" zu sprechen. Das betrifft alle Formen von Atheismus, die über eine kosmologische Statusbestimmung (Was ist unserer Ansicht nach der Mensch? Was ist unserer Ansicht nach das Universum?) hinausgehen und normative, politische Forderungen erheben, die als Endziel die Ausrottung der Religion zugunsten der "Vernunft" bzw. eines "wissenschaftlichen Weltbildes" implizieren.

Das - finde ich - ist eine sehr sinnvolle, klare und nachvollziehbare Unterscheidung!

Allerdings ist es natürlich auch so, dass man von keiner Person Schizophrenie verlangen kann. Wenn ein naturwissenschaftlich geprägter Atheist Argumente für seine normativen, politischen Forderungen sucht, wird er die logischerweise im naturwissenschaftlich-atheistischen Umfeld suchen. Anders herum gefragt: Wie erhebt man ideologiefrei solche Forderungen? Oder machst Du die Unterscheidung an guten (Friede, Freude und Eierkuchen) oder bösen (Ausrottung der Religion zugunsten der "Vernunft") Ziel fest? Und wenn ja, wie unterscheide ich zwischen guten und bösen Zielen?
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Di 4. Mär 2014, 23:38

Zappa hat geschrieben:Allerdings ist es natürlich auch so, dass man von keiner Person Schizophrenie verlangen kann. Wenn ein naturwissenschaftlich geprägter Atheist Argumente für seine normativen, politischen Forderungen sucht, wird er die logischerweise im naturwissenschaftlich-atheistischen Umfeld suchen.

Das finde ich auch in Ordnung. Ein religiöser Mensch wird ja auch zuvorderst im eigenen Sumpf nach Begründungen für seine politischen Forderungen fischen. Allerdings kann man von unserer hier im Forum recht breit geteilten atheistischen Warte aus vielleicht gerade an diesem Beispiel gut verstehen, dass das weltanschauungsübergreifend meistens Rohrkrepierer sind, wenn es um die Gestaltung des Miteinanders geht. Niemand hier würde beispielsweise Bibelstellen als Begründung für die Lehre der Schöpfungsgeschichte im Biologieunterricht oder gegen die Homo-Ehe akzeptieren, einfach, weil das im atheistischen Diskurs keine anschlussfähigen Argumente sind. Umgekehrt ist ein überzeugter Religiöser vermutlich gegenüber naturalistischen, empiristischen Begründungen relativ unempfindlich.

Genau wegen diesem Problem haben wir ja die Religionsfreiheit und deren etwas jüngeres Derivat, die Meinungsfreiheit, entwickelt; historisch gesehen ist den Menschen nach dem Dreißigjährigen Krieg klar geworden, dass Totalitätsansprüche in weltanschaulichen Fragen gefährlich sind und ein erstes Nachdenken über ein friedliches Miteinander von an und für sich inkompatiblen, universelle Gültigkeit beanspruchenden Weltbildern hat eingesetzt. Es ist irgendwann den meisten Denkern klar geworden, dass man mit Begründungsmustern aus dem eigenen weltanschaulichen Haus keine gesamtgesellschaftliche Ordnung begründen kann, sondern irgendwie auf abstraktere Muster zurückgreifen muss, die im Wesentlichen auf einen Waffenstillstand und eine gegenseitige Nichteinmischung hinauslaufen, solange nicht die Verletzung anderer Rechte dagegen spricht.

Insofern ist meine Meinung, dass die Achtung der universalen Menschenrechte eigentlich der einzige Kern ist, von dem man erwarten kann, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft ihn akzeptiert. Alles, was darüberhinaus geht, sind ideologische Partikularismen, zu deren Übernahme niemand genötigt werden sollte, unabhängig davon, wie vernünftig oder fortschrittlich man selbst seine Sichtweise bewertet - was nicht bedeutet, dass man diese Weltbilder nicht bewerben oder mit ihnen argumentieren dürfte; ich habe Lumens Äußerungen ja auch nie als verbotswürdig bezeichnet, ich finde sein Herangehen nur einfach kontraproduktiv, strategisch unklug und für ein friedliches Miteinander nicht sehr förderlich. Die Freiheitsrechte sind meiner Meinung nach ein wesentlich bedeutsameres Gut als die Durchsetzung eines spezifischen Narrativ davon, wie man gut/richtig lebt, erkennt und entscheidet.

Zappa hat geschrieben:Anders herum gefragt: Wie erhebt man ideologiefrei solche Forderungen? Oder machst Du die Unterscheidung an guten (Friede, Freude und Eierkuchen) oder bösen (Ausrottung der Religion zugunsten der "Vernunft") Ziel fest? Und wenn ja, wie unterscheide ich zwischen guten und bösen Zielen?

Ich hatte schon öfter den Unterschied zwischen positiver und negativer Freiheit nach Isaiah Berlin angesprochen. Ich umreiße es gern nochmal kurz, weil ich diese Unterscheidung unheimlich wichtig finde:
Negative Freiheit ist die Freiheit von etwas, wie der klassische Liberalismus sie definiert (und übrigens kurioserweise auch bestimmte Strömungen des Poststrukturalismus, der eigentlich viel marxistisches Erbe mit sich herumträgt; aber ich war ja schon immer der Meinung dass Liberalismus und Marxismus eigentlich dasselbe Endziel haben ;-) ), d.h. gemeint ist die Freiheit/Abwesenheit von Zwang, von Nötigung, von Bedrohung und damit verbunden stehen im Zentrum die Abwehrrechte gegenüber dem Staat und anderen Privatpersonen. Auf eine Bestimmung, wie man richtig/gut lebt, wird in diesem Rahmen bewusst verzichtet, weil das die Entscheidung darüber nur zwangsfrei von jedem Individuum selbst getroffen werden kann.
Positive Freiheit ist dagegen die Freiheit zu etwas, die eher in ideologischen Kontexten zu finden ist. Den Vertretern geht es meistens darum, die Gesellschaft auf den "richtigen" Weg zu führen, sie etwa "zur Vernunft", "zum Sozialismus", "zur Harmonie der Gesellschaft" etc. befreien wollen. Im Prinzip sind aber auch schon Sachen wie das Wahlrecht Freiheiten zur Gestaltung des Gemeinwesens, also partizipative Freiheiten. Man kann von daher nicht sagen, dass negative Freiheit grundlegend gut und positive Freiheit schlecht ist; jedes Gemeinwesen braucht meines Erachtens ein gerüttelt Maß von beidem.

Das Entscheidende ist jetzt, dass die Neuen Atheisten primär in Kategorien der positiven Freiheit denken, also die Religiösen "zur Vernunft" / "zum Atheismus" / "zur Wissenschaftlichkeit" befreien wollen. Es gibt schon auch Abwehrkämpfe im Sinne der negativen Freiheit, etwa, wenn Religiöse den Biologieunterricht mit mythologischen Inhalten füllen wollen; das sind bemerkenswerterweise auch die Kämpfe, die die Säkularen zu gewinnen scheinen, weil sie da sehr überzeugend gegen eine illegitime Grenzverletzung argumentieren können. Hingegen sieht es schlecht an den Fronten aus, wo die Neuen Atheisten selbst das gleiche in umgedrehter Form tun, nämlich sich in die private Lebensgestaltung von Religiösen einzumischen versuchen und sie zu einem besseren Leben befreien wollen.

Im Sinne des auf liberalen Grundprinzipien fußenden Pluralismus ist das so herum auch genau richtig, weil es eben keinen "festen Grund" der normativen Korrektheit mehr gibt, seit Reformation und Aufklärung den einheitlichen Interpretationsrahmen über Gott und die Welt dekonstruiert haben. Es gibt schlichtweg keine Weltanschauung mehr, die glaubwürdigerweise universale Gültigkeit beanspruchen könnte, auch eine herbeifantasierte reine Wissenschaftlichkeit (die es ja auch nicht gibt, so heterogen, wie die Wissenschaft ist und sein muss) nicht; die Frage nach der "richtigen" Weltanschauung ist seit der Aufklärung prinzipiell unentscheidbar geworden. Das Scheitern der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts, die strukturell allesamt nur Neuaufgüsse der ersten modernen Ideologie, des Jakobinismus, waren, hat das auch empirisch nochmal eindrucksvoll belegt. Das einzige, was jetzt noch berechtigterweise Universalität beanspruchen kann, sind daher die negativen Freiheitsrechte, weil die im Prinzip gehaltlos sind und nur negierend wirken gegen (im Prinzip jede Form der) Bevormundung. Positive, d.h. gestaltende, Freiheitsrechte wie etwa das Wahlrecht, die Verfassung, Petitionsrechte etc. werden zwar aus Praktikabilitätsgründen immer eine Rolle spielen, aber sind immer gesetzt und daher auch je nach kulturellem Kontext etwas verschieden.

Um also nach wortreichen Ausfürhrungen endlich deine Frage zu beantworten: Man erhebt solche Forderungen nach der Übernahme der eigenen Weltanschauung durch andere Gesellschaftsteile idealerweise einfach gar nicht mehr. Das einzige, was man legitimerweise fordern kann, ohne sich dem Ideologieverdacht auszusetzen, ist die Akzeptanz grundlegender Spielregeln des Miteinanders im Sinne der Menschenrechte. Das heißt nicht, dass man darüber hinaus nicht weltanschaulich argumentieren kann oder darf, aber da ausnahmslos allen Weltanschauungen/Ideologien die gültige Letztbegründung fehlt, kann man realistischerweise nie Gefolgschaft erwarten oder sich das Recht nehmen, diese für die eigene Weltanschauung einzufordern.

Bevor jetzt Missverständnisse entstehen: Das schließt die Kritik anderer Weltanschauungen keinesfalls aus. Aber man sollte das meines Erachtens mehr im Sinne der Lessingschen Ringparabel als friedlichen Wettstreit betrachten und dabei auf Respekt achten und auch den Entschluss einer Seite achten, einem Streit fern zu bleiben, und dies nicht mit gesteigerter Aggression beantworten. Fragen des "guten Lebens", der "richtigen Weltanschauung" etc. müssen von jedem Menschen individuell beantwortet werden dürfen, und zwar nicht nur vorgeblich, sondern tatsächlich, also ohne Doppelbindungskommunikation ("Du darfst schon religiös sein, ist echt kein Problem, bist dann halt nur dumm und infantil und provozierst mich."). Man muss den Bereich der direkten weltanschaulichen Konfrontation meines Erachtens verlassen (weil sowohl epistemologisch als auch (macht)politisch letztlich unentscheidbar) und auf der Metaebene darüber verhandeln, welche abstrakten Grundregeln des Miteinanders alle akzeptieren können (Rawls kennst und schätzt du ja ebenfalls, da steckt im Prinzip das gleiche Schema dahinter). Und dabei sollte man es meines Erachtens einfach belassen.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Lumen » Mi 5. Mär 2014, 00:52

Unklar bleibt weiterhin, wo du denn die Ausrottung der Religion siehst? Dabei bemängelst du selbst, andere befürchteten vorschnell den „Untergang des Abendlandes“. Es ist nun leider auch ein Christen-Klischee, dass sie sich noch immer fast von Löwen aufgefressen fühlen, was du mit deiner Darstellung unfreiwillig auch evozierst. Schließlich hallt in der Ausrottung der Religion noch dezent der Holocaust nach und knüpft wunderbar an die christliche Propaganda von Atheisten als Gesinnungsgenossen von Mao-Hitler-Stalin-Pot an.

Dabei frage ich mich: Was macht denn Harris oder Dawkins angeblich so schlimmes? Worin unterscheiden sie sie sich von Politikern, Werbeleuten, Buchautoren, Philosophen, Meinungsmachern, Talkshowgästen oder Foren-Kommentatoren, die eine bestimmte Sicht vertreten und eventuell andere davon überzeugen wollen. Wo findet, genau, jene kategorische Verletzung statt, die Dawkins und Co (oder mich) sofort in eine andere Schublade springen lässt? Nach wie vor kannst diesen Glaubensartikel von dir, wie ich ihn nun seit mehreren Seiten nenne, nirgendwo konkret belegen.

Dein einziges halbwegs brauchbares Beispiel war vom damaligen Papst Ratzinger, den Dawkins gerne festgenommen haben wollte. Nur war Ratzinger in die Vertuschung der Kindesmißbrauchs-Skandale verwickelt, die in ganz Europa bekannt wurden. Da finde ich es jetzt nicht völlig von der Hand zu weisen, dass die weltliche Rechtsprechung eventuell mal tätig wird und das Kritiker das gerne fordern können.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon provinzler » Mi 5. Mär 2014, 02:08

Lumen hat geschrieben:Dein einziges halbwegs brauchbares Beispiel war vom damaligen Papst Ratzinger, den Dawkins gerne festgenommen haben wollte. Nur war Ratzinger in die Vertuschung der Kindesmißbrauchs-Skandale verwickelt, die in ganz Europa bekannt wurden. Da finde ich es jetzt nicht völlig von der Hand zu weisen, dass die weltliche Rechtsprechung eventuell mal tätig wird und das Kritiker das gerne fordern können.

Wenn wir grad bei Staatsoberhäuptern sind:
Hat Dawkins eigentlich auch die Verhaftung von Barack Obama gefordert (Stichworte: Drohneneinsatz gegen Nichtkombattanten und Betrieb eines Konzentrationslagers auf Guantanamo Bay, was für mich klare Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gg. die Menschlichkeit sind) ?
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon provinzler » Mi 5. Mär 2014, 02:16

Nanna hat geschrieben:Positive Freiheit ist dagegen die Freiheit zu etwas, die eher in ideologischen Kontexten zu finden ist. Den Vertretern geht es meistens darum, die Gesellschaft auf den "richtigen" Weg zu führen, sie etwa "zur Vernunft", "zum Sozialismus", "zur Harmonie der Gesellschaft" etc. befreien wollen. Im Prinzip sind aber auch schon Sachen wie das Wahlrecht Freiheiten zur Gestaltung des Gemeinwesens, also partizipative Freiheiten. Man kann von daher nicht sagen, dass negative Freiheit grundlegend gut und positive Freiheit schlecht ist; jedes Gemeinwesen braucht meines Erachtens ein gerüttelt Maß von beidem.

Das geht auch knackiger:
Die Grundidee positiver Freiheit heißt: Jeder darf in meinem Land so leben, wie ich will.

Nanna hat geschrieben:Das Entscheidende ist jetzt, dass die Neuen Atheisten primär in Kategorien der positiven Freiheit denken, also die Religiösen "zur Vernunft" / "zum Atheismus" / "zur Wissenschaftlichkeit" befreien wollen.

Wobei bei der Wissenschaftsargumentation , m.E. nur der Agnostiker logisch konsistent ist, der Atheist sich jedoch in einen unauflöslichen logischen Widerspruch verstrickt. Denn aus der Tatsache, dass man die Existenz eines Gottes nicht beweisen kann, folgt logisch eben nicht, dass es keinen gibt. Diese Aussage wäre nur treffbar, wenn man die Existenz eines Gottes widerlegen könnte. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, ist der Atheist (in der strengeren Definition) somit ironischerweise ein Dogmatiker :mg:
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Mi 5. Mär 2014, 15:34

provinzler hat geschrieben:Das geht auch knackiger:
Die Grundidee positiver Freiheit heißt: Jeder darf in meinem Land so leben, wie ich will.

Nein, das wäre negative Freiheit (negativ heißt hier: Abwesenheit von Zwang).

Du darfst negativ und positiv hier nicht als wertende Attribute verstehen, sondern im mathematischen Sinne von An- und Abwesenheit. Negative Freiheit ist die Freiheit von Vorschriften, wohingegen positive Freiheit bedeutet, an der Erstellung der Vorschriften beteiligt zu werden (positiv: ich gebe etwas hinzu, ich wirke an der Regelung des Gemeinwesens mit, etwa durch Wahlen) bzw. im noch ideologischeren Sinne frei zu sein, der richtigen Ideologie zu folgen (z.B. kann positive Freiheit bedeuten, frei im kommunistischen Sinne zu sein, also frei vom Kapitalismus und frei zum Kommunismus; die meisten Befreiungsbewegungen, egal ob nationalistisch, kommunistisch, fundamentalistisch usw. folgen solchen Argumentationen).

Ist der Unterschied klar geworden?

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Das Entscheidende ist jetzt, dass die Neuen Atheisten primär in Kategorien der positiven Freiheit denken, also die Religiösen "zur Vernunft" / "zum Atheismus" / "zur Wissenschaftlichkeit" befreien wollen.

Wobei bei der Wissenschaftsargumentation , m.E. nur der Agnostiker logisch konsistent ist, der Atheist sich jedoch in einen unauflöslichen logischen Widerspruch verstrickt. Denn aus der Tatsache, dass man die Existenz eines Gottes nicht beweisen kann, folgt logisch eben nicht, dass es keinen gibt. Diese Aussage wäre nur treffbar, wenn man die Existenz eines Gottes widerlegen könnte. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, ist der Atheist (in der strengeren Definition) somit ironischerweise ein Dogmatiker :mg:

Richtig. Allerdings muss ich hier Dawkins ein wenig in Schutz nehmen, weil er im Gotteswahn ganz klar ausführt, dass der praktische Atheist im Grunde meist ein theoretischer Agnostiker ist, und zwar ein schwacher Agnostiker, also einer, der Plausibilitätsgründe gelten lässt (d.h. der einem gottlosen Universum eine größere Plausibilität einräumt als einem göttlichen). Der starke Agnostiker wäre der, der solche Fragen für prinzipiell unentscheidbar erklärt und keinerlei Neigung in eine Richtung besitzt, der echte Atheist einer, der, wie du richtig sagst, die Gottlosigkeit dogmatisch setzt. Aber auf so dünnes Eis begeben sich dann selbst die meisten Neuen Atheisten nicht.

Lumen hat geschrieben:Unklar bleibt weiterhin, wo du denn die Ausrottung der Religion siehst? Dabei bemängelst du selbst, andere befürchteten vorschnell den „Untergang des Abendlandes“. Es ist nun leider auch ein Christen-Klischee, dass sie sich noch immer fast von Löwen aufgefressen fühlen, was du mit deiner Darstellung unfreiwillig auch evozierst. Schließlich hallt in der Ausrottung der Religion noch dezent der Holocaust nach und knüpft wunderbar an die christliche Propaganda von Atheisten als Gesinnungsgenossen von Mao-Hitler-Stalin-Pot an.

Die Forderung nach einer restlosen Aufgabe jeglicher religiöser Praxis ist doch Kernbestandteil des Neuen Atheismus, oder habe ich da etwas missverstanden?

Ich unterstelle nicht, dass die Neuen Atheisten militant sind oder sein wollen (wobei Harris sich ja schon gegen den Pazifismus wendet; aber gut, Pazifist bin ich selber keiner, und ein Nicht-Pazifist ist nicht automatisch ein Bellizist); "Ausrottung" bezieht sich darauf, das Denken und die religiöse Praxis aus den Hirnen der Menschen zu verbannen. Die Analogie mit einem Virus, der bekämpft werden muss, ist ja nicht von mir.

Lumen hat geschrieben:Dabei frage ich mich: Was macht denn Harris oder Dawkins angeblich so schlimmes? Worin unterscheiden sie sie sich von Politikern, Werbeleuten, Buchautoren, Philosophen, Meinungsmachern, Talkshowgästen oder Foren-Kommentatoren, die eine bestimmte Sicht vertreten und eventuell andere davon überzeugen wollen. Wo findet, genau, jene kategorische Verletzung statt, die Dawkins und Co (oder mich) sofort in eine andere Schublade springen lässt? Nach wie vor kannst diesen Glaubensartikel von dir, wie ich ihn nun seit mehreren Seiten nenne, nirgendwo konkret belegen.

Ich finde den generellen Umgang einfach feindselig und inkonsistent (Religion in Allsätzen als Übel und Gewaltquelle hinzustellen, obwohl die überwiegende Mehrheit der Religiösen friedlich ist; Religion mit Krankheit (Virus!) gleichsetzen; für multikausale gesellschaftliche Probleme monokausale Ursachen behaupten und simplifizierte Schuldzuweisungen an Religion/Religiöse richten; Vernunft und Wissenschaftlichkeit zu einer Lebensform erheben; den Konflikt statt den Dialog suchen; sich provoziert davon fühlen, was andere Menschen denken, auch wenn es einen wenig angeht; spezifisch in den USA: an der Spaltung des Landes in zwei extrem polarisierte Lager mitwirken; usw.).

Dass Andere ebenfalls zu unlauteren Methoden oder schlechtem politischen Stil neigen, macht das ja nicht ok. Wir haben eben spezifisch über atheistischen Fundamentalismus reden wollen, daraus folgt aber nicht, dass es nicht auch fundamentalistische (ich würde jetzt eher sagen: ideologische) Ansichten in anderen Bereichen gibt. Ich bin grundsätzlich jemand, der dialogorientiert, konstruktiv und gemäßigt ausgerichtet ist. Nicht, dass mir das immer gelingt. Ich sehe außerdem den Wunsch, eine bestimmte partikulare Weltsicht auf die Gesamtgesellschaft zu erweitern als eine der größten Gefahren für die Freiheit an; und indem Leute fordern, die religiöse Denkweise zugunsten einer anderen auszulöschen, tun sie genau das, was sie ihren Gegenübern vorwerfen. Und jetzt erzähl mir doch bitte nicht, dass das nicht das Kernanliegen des Neuen Atheismus ist, die Religion loszuwerden. Hast du nicht sogar selber angedeutet, dass man vielleicht über den Laizismus hinaus staatlich tätig werden müsste, weil du die USA so eklig religiös findest? Vertraust du dir da selber, dass du die Leute ihren eigenen Lebensstil leben lassen würdest, hättest du die politische Macht?

Lumen hat geschrieben:Dein einziges halbwegs brauchbares Beispiel war vom damaligen Papst Ratzinger, den Dawkins gerne festgenommen haben wollte. Nur war Ratzinger in die Vertuschung der Kindesmißbrauchs-Skandale verwickelt, die in ganz Europa bekannt wurden. Da finde ich es jetzt nicht völlig von der Hand zu weisen, dass die weltliche Rechtsprechung eventuell mal tätig wird und das Kritiker das gerne fordern können.

Und, mal ehrlich, was hat es denn gebracht?
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon provinzler » Mi 5. Mär 2014, 23:50

Nanna hat geschrieben:
provinzler hat geschrieben:Das geht auch knackiger:
Die Grundidee positiver Freiheit heißt: Jeder darf in meinem Land so leben, wie ich will.

Nein, das wäre negative Freiheit (negativ heißt hier: Abwesenheit von Zwang).

Genau lesen! :mg:
Also alle müssen so leben wie ich (als fiktiver Elitling/Diktator whatever) das für richtig halte... Das ist letztlich positive Freiheit...

Nanna hat geschrieben:Ist der Unterschied klar geworden?

Frage beantwortet? :mg:
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Do 6. Mär 2014, 00:01

provinzler hat geschrieben:Genau lesen! :mg:

Hoppla. :blush2:
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Zappa » Fr 7. Mär 2014, 16:26

Nanna hat geschrieben: Um also nach wortreichen Ausfürhrungen endlich deine Frage zu beantworten: Man erhebt solche Forderungen nach der Übernahme der eigenen Weltanschauung durch andere Gesellschaftsteile idealerweise einfach gar nicht mehr.

Mmh, ich denke, dass das eine sehr geisteswissenschaftliche Perspektive ist: Es gibt lediglich unterschiedliche Interpretationen der Wirklichkeit, die alle irgendwie in kulturellen, sozialen, familiären etc. Vorurteilsstrukturen begründet sind. Ich weiß, dass es dafür gute Argumente gibt, ich persönlich bin allerdings nach wie vor überzeugt, dass es sinnvoll ist zu schauen, wo denn neues Wissen generiert wird, mit welchen Methoden und ob deren Vorhersagen sich empirisch begründen lassen.

Alle religiösen Kosmologien sind z.B. krachend gescheitert (um nicht zu sagen widerlegt), die naturwissenschaftliche ist phantastisch differenziert und bringt immer wieder bizarre Vorhersagen hervor, die sich dann auch empirsch begründen lassen (Schwarze Löcher, Gravitationslinsen, Pulsare etc.). Ich kann deshalb eine religiös begründete Kosmologie, als Anteil einer Weltanschauung, nicht wirklich ernst nehmen und fordere die Übernahme der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Natürlich lediglich mit Argumenten, aber ich finde nicht, dass diese Weltanschauungen gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Und das gilt natürlich auch für viele andere Bereiche. Ich denke Du kannst auch gute methodische Gründe dafür angeben, warum die alt- und neutestamentarische "Gesellschaftstherorie" nicht mehr auf dem neuesten Stand ist und warum man sich besser eine andere sucht.

Interessant wird das Ganze natürlich erst recht im Bereich Neurobiologie und Ethik (s. Harris Versuch das Thema naturwissenschaftlich anzugehen), deswegen ja auch die heftigen Debatten diesbezüglich.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine solche Gesellschaft wirklich "ideal" wäre, in der "anything goes" und alles als gleichberechtigt nebeneinander steht. Diskurs macht doch nur Sinn, wenn zumindest einer der Teilnehmer meint den aufgrund besserer Argumente gewinnen zu können, oder? Und ich meine, dass es die "Kraft des guten Argumentes" durchaus gibt und man auch das Recht hat diese zu nutzen, eben die Akzeptanz der besseren Argumente einzufordern. (Das weiß auch Erdogan, weswegen er u.a. Facebook abschalten will :mg: )
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Fr 7. Mär 2014, 17:43

Zappa hat geschrieben:Alle religiösen Kosmologien sind z.B. krachend gescheitert [...], die naturwissenschaftliche ist phantastisch differenziert...
Was glaube ich hier kein Dissens ist und deshalb schon vor Seiten beendet wurde.

Zappa hat geschrieben:Und das gilt natürlich auch für viele andere Bereiche. Ich denke Du kannst auch gute methodische Gründe dafür angeben, warum die alt- und neutestamentarische "Gesellschaftstherorie" nicht mehr auf dem neuesten Stand ist und warum man sich besser eine andere sucht.
Wer fordert denn diese „Gesellschaftstheorie“? Bisher sehe ich nur die Minimalforderung religiöse Menschen nicht a priori zu kriminalisieren, pathologisieren oder Religion mit Pathologie zu identifizieren oder in eine solche Beziehung zu stellen, Religion = Virus, wie es hier in unschöner Regelmäßigkeit geschieht.

Ferner geht es darum in ein Gespräch zu kommen, statt dem anderen die Tür vor der Nase zuzuhauen.

Es geht weiter darum zu prüfen, wo Religion resp. eine religiöse Einstellung überhaupt ein Konfliktfeld ist, bzw. darstellen könnte. Wenn man ein Auto kauft? Wenn man ein Schwimmbad plant? Beim Fußballspielen?
Für manche ist die bloße Existenz von gläubigen Menschen ein Ärgernis, für andere die bloße Existenz von homosexuellen Menschen, wie ich lernen durfte.

Weitere Gründe dafür, warum es gerechtfertigt ist, in Einzelfällen von einem atheistischen Fundamentalismus zu sprechen, habe ich glaube ich mehrfach ausreichend dargestellt, Du kannst ja bei Interesse dazu Stellung nehmen.

Zappa hat geschrieben:Interessant wird das Ganze natürlich erst recht im Bereich Neurobiologie und Ethik (s. Harris Versuch das Thema naturwissenschaftlich anzugehen), deswegen ja auch die heftigen Debatten diesbezüglich.
Ich finde das nicht sonderlich interessant.1) Welche Gründe von Harris, über den bloßen Verdacht, wir könnten nicht frei entscheiden hinaus, haben Dich denn überzeugt? 2) Wie sehen für Dich denn die Skizzen einer objektiven, auf neurobiologischen Grundlagen basierenden Ethik aus?
Schon der Begriff der objektiven Ethik ist problematisch, Kants Interpretation ist hier noch die beste, aber wird im Grunde auch verworfen, zumindest begründet kritisiert, eine andere Form objektiver Ethik, die über ein „weiß man doch“ hinausgeht und auch Begründungen gerne komplett verzichtet (habe gerade 1,5 Diskussionen zum dem Thema hinter mir), sind mir bis heute unbekannt. Ich würde gerne dazulernen, sehr gerne knapp mit eigenen Worten formuliert.

Zappa hat geschrieben:Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine solche Gesellschaft wirklich "ideal" wäre, in der "anything goes" und alles als gleichberechtigt nebeneinander steht. Diskurs macht doch nur Sinn, wenn zumindest einer der Teilnehmer meint den aufgrund besserer Argumente gewinnen zu können, oder? Und ich meine, dass es die "Kraft des guten Argumentes" durchaus gibt und man auch das Recht hat diese zu nutzen, eben die Akzeptanz der besseren Argumente einzufordern.

Dem stimme ich zu.

Nur, so weit, dass man sich überhaupt für etwas aus einer religiösen Sphäre interessieren würde, d.h. dass man, hier Lumen (oder im größeren Diskurs, Dawkins) überhaupt in einem ernstgemeinten Sinne Interesse bekundet oder nach Gründen fragt, so weit sind wir noch nicht gekommen.
Die „Fragen“ sehen regelmäßig (von mir zugespitzt) so aus: „Warum soll ich mich für infantile, kinderfickende Terroristen, die morgen wieder den Scheiterhaufen errichten wollen und mir nach dem Leben trachten, wo ich doch so ein harmloser und freundlicher Mensch bin, überhaupt interessieren?“ Die Problematik der darin enthaltenden Allsätze, hatte laie angesprochen.

Auch auf mehrfache Nachfrage war Lumen nicht bereit oder in der Lage, hier zu differenzieren und zu sagen, wen er hier ausnimmt und wie er sich ein Zusammenleben vorstellt. (Fehlt mir bei Dawkins auch.)
Vielleicht gelingt es Dir ihm zu zeigen, dass das als Diskussionsgrundlage der zweitbeste Ansatz ist.
Wenn Du so viel Zeit investieren möchtest...
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon laie » Fr 7. Mär 2014, 18:26

Zappa hat geschrieben:Ich denke Du kannst auch gute methodische Gründe dafür angeben, warum die alt- und neutestamentarische "Gesellschaftstherorie" nicht mehr auf dem neuesten Stand ist und warum man sich besser eine andere sucht.


Hallo Zappa. Vielleicht ist der Ausdruck "Gesellschaftstheorie" ein wenig übertrieben. Letztenendes geht es weder im AT noch im NT darum, die Theorie einer Gesellschaft darzulegen. Natürlich gibt es im AT Passagen, die das Verhältnis der Menschen untereinander regeln wollen, z.B. zu Sklaven. Aber die eigentliche Intention der Bibel bilden solche Passagen nicht. Die Bibel ist also nicht diversen kommunistischen Entwürfen zur Gesellschaft oder Adam Smith Klassiker "The Wealth of Nations" an die Seite zu stellen. Das grosse Thema der Bibel scheint mir eher die (messianische) Verheissung zu sein. Aber ich sage nicht, dass Menschen nicht der Versuchung erlegen wären, auf Grundlage der Bibel eine ideale Gesellschaft zu errichten, etwa Puritaner und Amish. Aus meiner Sicht allerdings ungerechtfertigt und wohl eher historische Ausnahmen als die Regel.

Darum schliesse ich mich Vollbreit an:

Vollbreit hat geschrieben:... Es geht weiter darum zu prüfen, wo Religion resp. eine religiöse Einstellung überhaupt ein Konfliktfeld ist, bzw. darstellen könnte. Wenn man ein Auto kauft? Wenn man ein Schwimmbad plant? Beim Fußballspielen?
Für manche ist die bloße Existenz von gläubigen Menschen ein Ärgernis, für andere die bloße Existenz von homosexuellen Menschen, wie ich lernen durfte.


Ich möchte noch einmal auf den Begriff atheistischer Fundamentalismus kommen. Fundamentalistisch zu sein hat für mich wesentlich mit Möglichkeit zu tun, Macht ausüben zu können. Das blosse Äussern einer Meinung, und sei sie noch so penetrant, ist natürlich kein Fundamentalismus. Fundamentalistisch wäre eine Meinung erst, wenn man sie übernehmen müsste. Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob sich jemand dem atheistischen Diskurs hier bei uns wirklich entziehen kann. Kann ein Muslim tatsächlich so ohne weiteres seinen Gebetsteppich ausrollen und einen schönen langen Bart haben, ohne Benachteiligungen irgendwelcher Art befürchten zu müssen? Ich denke nicht. Vollbreit mimt grade einen Hardcore Szientisten in einem anderen thread, da kann man sich vorstellen, welche Attitüden in einer Gesellschaft konsensfähig sind, die von einem solchen Weltbild geprägt ist.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Fr 7. Mär 2014, 19:00

Zuerst mal: Ich mag deine unaufgeregte Weise, an das Thema heranzugehen! Tut dem Thema nach unserem Hauen und Stechen gut. :up:

Zappa hat geschrieben:Mmh, ich denke, dass das eine sehr geisteswissenschaftliche Perspektive ist: Es gibt lediglich unterschiedliche Interpretationen der Wirklichkeit, die alle irgendwie in kulturellen, sozialen, familiären etc. Vorurteilsstrukturen begründet sind. Ich weiß, dass es dafür gute Argumente gibt, ich persönlich bin allerdings nach wie vor überzeugt, dass es sinnvoll ist zu schauen, wo denn neues Wissen generiert wird, mit welchen Methoden und ob deren Vorhersagen sich empirisch begründen lassen.

Ich bin nicht sicher, ob im Laufe der ganzen Diskussion hier rübergekommen ist, dass ich zwischen einer wissenschaftlichen und einer politischen Agenda unterscheide. Innerhalb der Wissenschaft, wo es ausschließlich um die Gewinnung von Wissen und Erkenntnis und die Dekonstruktion fehlerhafter Modelle geht (gehen sollte), sind wir sicherlich auf einer Seite. Ich will auch keine Pseudowissenschaften an der Uni sehen. Nur habe ich hier eine sehr konkrete Begründung, weil eine Institution mit wissenschaftlichen Zielen von unwissenschaftlichen Einflüssen per definitionem geschädigt würde. Aber mit welcher stringenten Argumentation kann ich denn dagegen fordern, dass der aktuelle Stand der Wissenschaft gefälligst von allen Mitgliedern der Gesellschaft ausgiebig rezipiert werden solle? Ist Wissenschaft das Ziel der Gesellschaft? Seit wann? Wer hat das verfügt? Darf das jemand verfügen?

Gesellschaftlich und politisch bin ich nämlich nicht der Ansicht, dass automatisch ein Primat der Wissenschaft gelten muss; Zum einen, weil dies ganz einfach eine neue Herrschaftsideologie mit von oben (also den Wissenschaftlern) verordneten Inhalten wäre, zum anderen, weil die historische Erfahrung lehrt, dass für den inneren und äußeren gesellschaftlichen Frieden vor allem Faktoren entscheidend sind, die zwar (gesellschafts)wissenschaftlich beschrieben werden können, aber nicht per se wissenschaftlich sind.
Das einzelne Mitglied der Gesellschaft muss diese Faktoren nicht zwigend (aner)kennen, um sich friedlich, pluralistisch und kooperativ mit Andersdenkenden zu verhalten. Ich kann ja auch ein GPS-Gerät benutzen, ohne die Gültigkeit der Relativitätstheorie anzuerkennen. Es funktioniert trotzdem. Die Grundbedingungen einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft sind nicht abhängig von der Wissenschaft oder der Akzeptanz eines wissenschaftlichen Weltbildes. Es ist eher andersherum: Die Wissenschaft braucht eine solche Gesellschaft weit mehr, als umgekehrt. Insofern finde ich alle Versuche, das gesellschaftliche Denken zu homogenisieren, selbst wenn sie im Namen der Wissenschaft geschehen, weit bedrohlicher als die Existenz religiöser Enklaven in der Gesellschaft.

Ebenfalls äußerst bedenklich finde ich übrigens, dass Freiheit, Pluralismus etc. gerne so unhinterfragt mit dem wissenschaftlichen Weltbild assoziiert werden, als hätte es nie Beispiele engstirniger, intoleranter, faschistischer, hasserfüllter Wissenschaftler gegeben. Selbst, wenn man Korrelationen findet, sollte man vorsichtig sein, hier Automatismen zu behaupten, also einen Anstieg der Wissenschaftlichkeit bzw. Allgemeinbildung mit einem kausalen Anstieg von Humanismus, Menschenfreundlichkeit, Pluralismusfähigkeit etc. zu verbinden. Dafür gibt es keine Anzeichen und gerade in den letzten 200 Jahren sogar deutliche Gegenbeispiele.

Für mich ist in dieser Diskussion die entscheidende, allen anderen Fragen vorgeordnete Frage:
    Wenn ich meine, etwas als "richtig" erkannt zu haben - wie weit glaube ich, dass meine Überzeugungsarbeit gehen darf? Darf ich Andere nötigen, sich mit meinen Ansichten zu beschäftigen? Darf ich sie abwerten oder pathologisieren, wenn sie sich weigern oder mich ignorieren? Darf ich für Andere entscheiden, was das "größere Wohl" ist, zu dem ich sie führen möchte?

Zappa hat geschrieben:Alle religiösen Kosmologien sind z.B. krachend gescheitert (um nicht zu sagen widerlegt), die naturwissenschaftliche ist phantastisch differenziert und bringt immer wieder bizarre Vorhersagen hervor, die sich dann auch empirsch begründen lassen (Schwarze Löcher, Gravitationslinsen, Pulsare etc.). Ich kann deshalb eine religiös begründete Kosmologie, als Anteil einer Weltanschauung, nicht wirklich ernst nehmen und fordere die Übernahme der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Natürlich lediglich mit Argumenten, aber ich finde nicht, dass diese Weltanschauungen gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Ich habe dagegen nichts einzuwenden. Aber was tust du, wenn jemand, der überzeugt religiös ist, sich für deine Argumente nicht interessiert oder sie nicht akzeptiert? Würdest du ihn dann aus Frustration darüber verspotten und verächtlich machen (wie Lumen das meines Erachtens weiter vorne durchaus gefordert hat)?

Zappa hat geschrieben:Und das gilt natürlich auch für viele andere Bereiche. Ich denke Du kannst auch gute methodische Gründe dafür angeben, warum die alt- und neutestamentarische "Gesellschaftstherorie" nicht mehr auf dem neuesten Stand ist und warum man sich besser eine andere sucht.

Sicherlich. Nur entstünde mir ein sehr konkreter Schaden, wenn ich statt im liberalen Westen in einer alttestamentarischen Religionsgesellschaft leben würde, die mich und meinen Clan aus fadenscheinigen Gründen mit Gewalt bedrohen könnte. Da hätte ich dann ein Widerstandsrecht, und ich denke, dass das das wesentliche ist, worum es in dieser Diskussion ging: Was ich Anderen aufnötigen darf an eigenen Ansichten und was nicht. Das hängt eben ganz wesentlich davon ab, ob beide Seiten in der Lage sind, sich gegenseitig in ihrer Andersartigkeit sein zu lassen oder nicht. Warum sollte ich (auch nur rhetorisch) losschlagen, wenn ich nicht angegriffen werde? Nur weil mir nicht passt, wie mein Nachbar über die Entstehung des Kosmos denkt? Spräche das wirklich für mich?

Zappa hat geschrieben:Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine solche Gesellschaft wirklich "ideal" wäre, in der "anything goes" und alles als gleichberechtigt nebeneinander steht. Diskurs macht doch nur Sinn, wenn zumindest einer der Teilnehmer meint den aufgrund besserer Argumente gewinnen zu können, oder? Und ich meine, dass es die "Kraft des guten Argumentes" durchaus gibt und man auch das Recht hat diese zu nutzen, eben die Akzeptanz der besseren Argumente einzufordern. (Das weiß auch Erdogan, weswegen er u.a. Facebook abschalten will :mg: )

Das wäre der ideale Diskurs, wie auch Habermas ihn beschreibt. Ich glaube nur, dass das schon einen Schritt zu weit ist. Die Grundlage allen Miteinanders, lange bevor man gemeinsam über Kosmologien diskutiert, ist erstmal, sich gegenseitig nicht mit (in erster Linie physischer, aber auch verbaler) Gewalt zu bedrohen. Erst, wenn das gewährleistet ist, können zwei Parteien an einem Diskurs teilnehmen.
D.h. die Achtung der Freiheitsrechte des Anderen geht einem gemeinsamen Ringen um die Wahrheit über darüber hinaus gehende Themen voraus. Das beinhaltet, einem Anderen die Beschäftigung mit einem Thema nur dann aufzunötigen, wenn es für die Abwendung von Schaden relevant ist. Wenn mein Nachbar seine Blumentöpfe auf dem Fensterbrett nicht sichert, weil er das so schöner findet, muss man ihm eine Auseinandersetzung dazu sicherlich aufnötigen. Wenn Kinder an der Schule nicht geimpft werden und deshalb dauernd die Masern ausbrechen, ist eine, notfalls scharfe, Debatte über das Impfen sicherlich angebracht. Da würde ich dann auch nicht nur die "Kraft des guten Arguments" benutzen, sondern rhetorisch notfalls ordentlich auf die Pauke hauen, wenn irgendein renitenter Impfgegner meine Kinder Infektionsgefahren aussetzen würde.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Fr 7. Mär 2014, 19:23

Noch ein Zusatz, weil mir aufgefallen ist, dass ich möglicherweise deinen zentralen Einwand nicht deutlich genug beantwortet habe:

Selbst wenn wir feststellen könnten, dass die wissenschaftliche Weltsicht allen anderen überlegen ist*, würde aus diesem Wissen ja nicht mehr folgen, als dass wir dies eben wüssten. Dass alle dieser Sichtweise folgen sollten, wäre ein eigener, davon abgegrenter normativer Satz, der separat bewiesen werden müsste, was meines Erachtens unmöglich ist.

____________
(*) Was wir nicht können, weil wir keine objektiven (= letztgültigen) Kriterien, keine objektive Relevanz und keine objektiven Bezugsgrößen kennen (können). Wir können anhand eigener Kriterien Hierarchien erstellen, etwa die Vorhersagefähigkeit religiöser Kosmologien und naturwissenschaftlicher Theorien vergleichen, was aber per definitionem immer ein kontextuell begrenztes Unterfangen bleibt. Ähnliche Gedankengänge liegen übrigens nicht nur den postmodernen Theorien zugrunde, sondern auch dem beinhart wissenschaftlichen Fallibilismus Poppers, der auch ein Konstruktivismus ist (muss mal gesagt werden, das fällt ja immer irgendwie keinem so recht auf).
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Sa 8. Mär 2014, 14:56

laie hat geschrieben:Ich möchte noch einmal auf den Begriff atheistischer Fundamentalismus kommen. Fundamentalistisch zu sein hat für mich wesentlich mit Möglichkeit zu tun, Macht ausüben zu können.
Warum?
Ich würde sagen, dass so jemand dann „mächtig“ ist.

laie hat geschrieben:Das blosse Äussern einer Meinung, und sei sie noch so penetrant, ist natürlich kein Fundamentalismus.
Warum nicht? Jemand kann doch durchaus ein ohnmächtiger Fundamentalist sein.
Oder andersherum mächtig, aber nicht fundamentalistisch. Frau Merkel ist sicher mächtig, würdest Du in ihr eine Fundamentalistin sehen?

laie hat geschrieben:Fundamentalistisch wäre eine Meinung erst, wenn man sie übernehmen müsste.
Das macht doch eher den Tyrannen aus, dass alle so denken müssen (oder mindestens so tun müssen, als dächten sie) wie er.

Ich sehe den Fundamentalisten moderater angelegt an und habe das ja mehrfach skizziert.
1) Eine nichtfundamentalistische harte Position der Diskussion (die den anderen noch hört und hören will) geht 2) langsam in einen Fundamentalismus über, der den anderen nicht mehr hört und dann zunehmend auch nicht mehr verstehen will (scheint mir das zentrale Argument zu sein) bishin zu einem 3) zunehmenden Element der paranoiden Unterstellung bezüglich dessen, was der andere (den man nicht mehr verstehen will) im Schilde für, 4) verstärkt in einer noch paranoideren Vorwärtsverteidigung (nach dem psychologischen Modus der projektiven Identifikation) gegenüber dem was der andere ( a) den man nicht mehr verstehen will und b) dessen finsterer Absicht man sich gewiss ist = ich weiß genau, was Du fühglts und willst) im Schilde führt, bis sich das 5) schließlich aufsplittet in diverse Möglichkeiten und Mischformen des völligen kommunikativen Rückzug, in der man, was wahr und richtig ist nur noch mit sich ausmacht und/oder aktivere Formen wählt, die sich aus der paranoiden Logik selbst speisen und ab einer bestimmten Eskalationsstufe aus Prinzip unwiderlegbar wird.

Ich glaube es gibt keine feststehende Terminologie wie die Begriffe Fundamentalist, Extremist, Fanatiker, Terrorist nun genau zu verwenden und gegeneinander abzugrenzen sind, aber da ich bei so ziemlich allem was Menschsein angeht, gleitende Kontinuen sehe ob Egoismus oder Alturismus, Intelligenz oder Dummheit, Empathiefähigkeit oder Monadentum, Kommunikationsbegabudn oder kommunikative Unbeholfenheit, moralisch hochstehend oder nieder, erfolgreich oder erfolglos und so weiter, sehe ich aus hier gleitende Abstufungen erscheinen.

laie hat geschrieben:Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob sich jemand dem atheistischen Diskurs hier bei uns wirklich entziehen kann.
Zu seinem kulturellen Umfeld muss man immer irgendwie Stellung beziehen und tut dies auch, vielleicht öfter halbbewusst als explizit, aber die Themen sind ja überbekannt.

laie hat geschrieben:Kann ein Muslim tatsächlich so ohne weiteres seinen Gebetsteppich ausrollen und einen schönen langen Bart haben, ohne Benachteiligungen irgendwelcher Art befürchten zu müssen? Ich denke nicht.
Derzeit eher nicht, was ich aber nicht allein den Antireligiösen anlaste, sondern ich sehe in erster Linie die muslimische Community in der Pflicht, ihren Weg der Abgrenzung von ihren Fundamentalisten zu finden. Aber es muss wirklich ihr Weg sein und gleichzeitig muss dieser Weg einer sein der in unserem und ihrem Selbstverständnis das ausgrenzende „sie“ zu einem „uns“ oder „wir“ werden lässt. Das wiederum ist unser aller Aufgabe Kriterien zu finden, die jemand erfüllen muss um als „Deutscher“ oder als „einer von uns“ zu gelten.
Aus falscher Angst und einer viel zu überzogene Attitüde des alles verstehenden Relativisten, der ich nicht bin und nie war (was Lumen nie erkannte und was ich ihm nachhaltig übel nehme), haben wir es versäumt klare Regeln des Wünschenswerten zu formulieren. Wo das fehlt, übernehmen Fundamentalisten aller Couleur dankbar das Ruder und geben sich als Interpreten und Kümmerer aus.
In diese Nische können sie nur vordringen, weil wir uns tatsächlich nicht kümmern. Der Kultur des Narzissmus ist der andere egal und dieses Desinteresse an der Mitwelt, wird als Toleranz verklärt, es ist aber bei näherem Hinsehen öfter kaltes Desinteresse als Toleranz.

Hier sind mir die Fundamentalisten fasst noch lieber, denn sie fordern Antworten, Stellungnahmen und Positionierungen heraus.

laie hat geschrieben:Vollbreit mimt grade einen Hardcore Szientisten in einem anderen thread, da kann man sich vorstellen, welche Attitüden in einer Gesellschaft konsensfähig sind, die von einem solchen Weltbild geprägt ist.
Siehe dazu in dem anderen Thread.
Darüber hinaus möchte ich sagen, dass ich nicht den Eindruck habe, dass wir in einem biologistischen Zeitalter leben, in dem Sinne, dass der Biologie a priori die Deutungshoheit zufällt. Im Gegenteil, gibt es ja sogar massive Gegenbewegungen.
Die Biotechnologien werden zukünftig wachsende Bedeutung haben, das ist ohne Zweifel so, weshalb der Diskurs darüber mir sehr wichtig erscheint.
Ansonsten sehe ich es so, dass die Themen der Gesellschaft und ihrer Rezeption, einfach ein komplexes Geschehen darstellen, das ich in der Kürze nicht ausführen kann. Angedeutet sehe ich darin eine Mischung aus diversen Typen am Werk, wobei Typisierungen die Eigenart haben, die Gesellschaft vorrangig (wenn auch nicht ausschließlich) horizontal zu beschreiben, als Lebensart oder typische Denk- und/oder Herangehensweise.
Diesen Betrachtungen fehlt zu oft (m.E. aus den gleichen Gründen, warum man klare Kriterien verweigert) der vertikale Aspekt, die Entwicklungshöhe. Man möchte nicht wertend oder gar „faschistoid“ daherkommen, weshalb man die Einteilung in besser und schlechter, gelungen und misslungen, wünschenswert und unerwünscht, höher und nieder, entwickelt und unentwickelt unterlässt.
Hier reichen sich ironischerweise Kultur- und Werterelativisten und Biologisten die Hände, vereint im performativer Selbstwiderspruch, die bei den Kulturrelativisten dann in einer immerhin noch irgendwie gut gemeinten (aber nichtsdestotrotz schlecht gemachten) Verherrlichung des Pluralismus daherkommt, der völlig verkennt, dass Pluralismus nicht angeboren ist, sondern ein hierarchisch hoch entwickele Position ist, die aber leider andere, niedriger entwickelte Positien kränken könnte, und das wollen Pluralisten im Selbstirrtum nicht. Aber nicht alle machen diesen Fehler.
Die Biologisten werten immerhin, trauen sich aber nicht sich aktiv dazu zu bekennen delegieren ihre Wertungen und ihre Verantwortung an die Natur, die Evolution oder was auch immer. Sie begehenden schweren Fehler wissenschaftliche Erkenntnis und normativ Wünschenswertes nicht nur nicht zu trennen, sondern andauernd zu vermischen, was wirklich alles andere als intellektuell wirkt. Nanna hat da völlig zurecht, ausführlich und besser als ich das kann drauf hingewiesen. Dass sich klügere Geister von dieser Fraktion der sich konstant selbst Überschätzenden nichts erzählen lassen wollen, ist mehr als verständlich.
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