„Atheistischer Fundamentalismus“

Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Lumen » Sa 8. Mär 2014, 17:05

Vollbreit hat geschrieben:Auch auf mehrfache Nachfrage war Lumen nicht bereit oder in der Lage, hier zu differenzieren und zu sagen, wen er hier ausnimmt und wie er sich ein Zusammenleben vorstellt. (Fehlt mir bei Dawkins auch.)
Vielleicht gelingt es Dir ihm zu zeigen, dass das als Diskussionsgrundlage der zweitbeste Ansatz ist.
Wenn Du so viel Zeit investieren möchtest...


Du bist doch offiziell geflohen. Willkommen zurück :) (ein normaler lächeln-smiley wäre mal schick)

Warum sollte Dawkins, oder ich, erläutern, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen? Würde das nicht voraussetzen, wir hätten eine utopische oder jedenfalls andere Vorstellung als sie gegenwärtig ist? Und würde auch eine der Vollständigkeit halber mitgelieferte Erklärung nicht den Eindruck erwecken, dass wir eine andere Form forderten, obwohl ich das nicht erkennen kann? Und würde das nicht, zusätzlich, weitere Fässer aufmachen, denn jede Beschreibung und Wortwahl könnte direkt wieder in der nächsten Kampagne enden. Schließlich ist der Sinn der Übung, strategisch gesehen, ein ganz anderer.

Religiöse haben ihre Behauptungen noch nicht belegt und Atheisten gehen dann richtigerweise davon aus, dass sie unbelegbar sind (und es bleiben werden), folglich ergeben sich Konsequenzen aus dieser Einsicht. Diese Einsicht selbst ist alles andere als allgemein akzeptiert und darum geht es zunächst einmal. Was diese Konsequenzen sind, darüber lässt sich diskutieren. In dem Zusammenhang versuchen Atheisten daher, den Religiösen beizubringen, was "Beweislast" ist. Die trägt der, der die Behauptungen aufstellt. Wer meint, es gäbe einen biblischen Gott, muss dann eben Belege bringen, sobald es eine allgemeine Bewandtnis hat. Solange das eine konsequenzlose Privatmeinung ist, habe ich damit nie ein Problem gehabt. Sobald es aber eine Art gesellschaftliche Joker-Karte ist, müssen eben die Spielregeln dahingegen verständlich gemacht werden, dass es keine solchen Joker-Karten mehr gibt. Natürlich kann jemand eine Meinung haben, auch eine sehr starke und persönliche Sichtweise, die sich nicht an Fakten orientiert. Ich habe nichts dagegen! Es geht nur nicht, dass jemand seine starke persönliche Sichtweise, die sich durch nichts belegen lässt, dahinstellt, als sei sie belegbar und bestens nachvollziehbar. Das ist der springende Punkt. Die alternative ist, dass jemand etwas "finden" kann, also eine bloße Meinung haben kann und es dann egal ist, ob er sich auf seine Oma oder auf Gott beruft. Wir "werten" das eben dann auch so. Und da ist es mir wirklich egal, wie der Gott oder Götter jetzt heißen, oder ob es unsichtbare pinke Einhörner sind, oder eine Weisheit von der Oma. Nur sind wir da noch lange nicht angekommen.

Religiöse wehren sich gegen diese Einsicht, denn es ist ja wunderbar bequem eine durch nichts belegte Behauptungen auf die Religion zu schieben. Und Akkommodationisten wie du und Nanna sehen zwar das es keine Belege gibt (wenigstens Nanna sieht das), aber ihr wollt die Konsequenzen daraus nicht ziehen und weiter "so tun als ob". Die einen wollen garnicht erst einsehen, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist, die anderen (ihr) wisst das zwar, wollt aber nicht, dass man daraus -- wie auch immer geartete (!) -- Konsequenzen zieht. Ihr seid die, die aus unerfindlichen Gründen sabotieren, dass die Gesundheitsgefahr offziell festgestellt wird und rationalisiert das dann damit, dass Nicht-Raucher nicht nur das Rauchen verbieten wollen, sondern eventuell gleich noch die Raucher auslöschen wollen. Haargenau das ist die Rhetorik hier. Auch der Vergleich stimmt, auch wenn er euch nicht gefällt. Schließlich ist es bisher unklar geblieben, warum wir zwei Maßstäbe anlegen sollen: einmal wenn es um Rauchen und so weiter geht, aber ein anderer Maßstab gelten soll, wenn es um den Ursprung des Universums, der Moral oder der Menschheit und so fort geht (ein weiterer Zusammenhang ist natürlich, dass die Taktik Tabakindustrie über religiöse Institute und Think-Tanks auch für die Religions-Apologetik verwendet wurde).

Soweit ich das Online beurteilen kann, scheuen Religiöse die Beweislast wie der Teufel das Weihwasser und sind sehr stark motiviert, sie fortwährend abzuwälzen. Der Atheist soll dieses und jenes und dann ist noch hier und da und so weiter und dann geht es natürlich um Hitler-Mao-Stalin, Utopien und Fundamentalismus, wenn die eigentliche Forderung viel simpler und einfacher ist, aber eben auch gefährlicher für Gläubige. Die Forderung ist die: Gott oder Religion ist keine Joker-Karte für irgendwas. Wir sind dann angekommen, wenn jemand statt Religion auch genausogut Harry Potter zitieren könnte. Kann jemand ja gerne machen, aber es muss eben klar sein, dass der Verweis auf Harry Potter allein noch keine Überzeugungskraft besitzt.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Sa 8. Mär 2014, 18:06

Lumen hat geschrieben:Willkommen zurück :)

Danke.

Lumen hat geschrieben:(ein normaler lächeln-smiley wäre mal schick)

Stimmt.

Lumen hat geschrieben:Warum sollte Dawkins, oder ich, erläutern, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen?
Weil danach gefragt wurde.
Wenn man Gesellschaftskritk äußert, kommt zwangsläufig, gerade wenn man die Kritik annimmt, die Frage, wie es denn dann – im Lichte der Kritik – laufen soll.

Lumen hat geschrieben:Würde das nicht voraussetzen, wir hätten eine utopische oder jedenfalls andere Vorstellung als sie gegenwärtig ist?
Kritik impliziert das irgendwie und Deine Kritik ist ja nicht unerheblich, wenn auch diffus.

Lumen hat geschrieben:Und würde auch eine der Vollständigkeit halber mitgelieferte Erklärung nicht den Eindruck erwecken, dass wir eine andere Form forderten, obwohl ich das nicht erkennen kann? Und würde das nicht, zusätzlich, weitere Fässer aufmachen, denn jede Beschreibung und Wortwahl könnte direkt wieder in der nächsten Kampagne enden. Schließlich ist der Sinn der Übung, strategisch gesehen, ein ganz anderer.
Nämlich?

Lumen hat geschrieben:Religiöse haben ihre Behauptungen noch nicht belegt und Atheisten gehen dann richtigerweise davon aus, dass sie unbelegbar sind (und es bleiben werden), folglich ergeben sich Konsequenzen aus dieser Einsicht.
Die alte Tour, x mal besprochen, insofern uninteressant, ich verweise auf Nannas Kritik.

Lumen hat geschrieben:Diese Einsicht selbst ist alles andere als allgemein akzeptiert und darum geht es zunächst einmal.
Welche Einsicht?

Lumen hat geschrieben:Was diese Konsequenzen sind, darüber lässt sich diskutieren. In dem Zusammenhang versuchen Atheisten daher, den Religiösen beizubringen, was "Beweislast" ist.
Du denkst in Lagern, wir gegen die, das ist das Problem was Du nicht überwinden kannst. Hier erkennbar wieder.

Lumen hat geschrieben:Die trägt der, der die Behauptungen aufstellt. Wer meint, es gäbe einen biblischen Gott, muss dann eben Belege bringen, sobald es eine allgemeine Bewandtnis hat.
Kalter Kaffee.

Lumen hat geschrieben:Solange das eine konsequenzlose Privatmeinung ist, habe ich damit nie ein Problem gehabt. Sobald es aber eine Art gesellschaftliche Joker-Karte ist, müssen eben die Spielregeln dahingegen verständlich gemacht werden, dass es keine solchen Joker-Karten mehr gibt.
Wo genau gelten die denn?
Wer kann sich denn hier denn heute gegen das Grundgesetz auf die Scharia berufen oder sagen, dass er in der Öffenlichkeit den 10 Geboten eine höhere Gewichtung gibt, als dem Grundgesetz? Privat kann ich alles meinen, das ist mein Kram, meine Meinung darf ich in einem breiten Rahmen sagen ich darf nur die Rechte anderer nicht einschränken.
Ich darf auch meinen, dass Gottes Wort mehr gilt, als ein menschengemachtes Gesetz, nur komme ich in der Öffentlichkeit als handelnd Verantwortlicher damit nicht durch.
Das ist der Stand der Dinge, also woran störst Du Dich, darüber hinaus?

Lumen hat geschrieben:Natürlich kann jemand eine Meinung haben, auch eine sehr starke und persönliche Sichtweise, die sich nicht an Fakten orientiert. Ich habe nichts dagegen! Es geht nur nicht, dass jemand seine starke persönliche Sichtweise, die sich durch nichts belegen lässt, dahinstellt, als sei sie belegbar und bestens nachvollziehbar. Das ist der springende Punkt. Die alternative ist, dass jemand etwas "finden" kann, also eine bloße Meinung haben kann und es dann egal ist, ob er sich auf seine Oma oder auf Gott beruft. Wir "werten" das eben dann auch so. Und da ist es mir wirklich egal, wie der Gott oder Götter jetzt heißen, oder ob es unsichtbare pinke Einhörner sind, oder eine Weisheit von der Oma. Nur sind wir da noch lange nicht angekommen.

Religiöse wehren sich gegen diese Einsicht, denn es ist ja wunderbar bequem eine durch nichts belegte Behauptungen auf die Religion zu schieben. Und Akkommodationisten wie du und Nanna sehen zwar das es keine Belege gibt (wenigstens Nanna sieht das), aber ihr wollt die Konsequenzen daraus nicht ziehen und weiter "so tun als ob".

Als ob was? Wo genau ist das Problem?
Wer sagt, den Lumen sprenge ich in die Luft, der ist ein Ungläubiger, der macht sich strafbar, genau wie es ein Stalker tut der seiner heimlich Angebeteten nachstellt und sie verbal bedroht, oder wer auch immer, der dies tut. Wenn alles in Ordnung ist, wo ist dann Dein Problem? Du hast doch eben noch gesagt Du willst nichts ändern.
Man könnte daraus die Forderung nach härteren Strafen gegen verbale Drohungen ableiten, ist es das was Du willst?

Lumen hat geschrieben:Die einen wollen garnicht erst einsehen, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist, die anderen (ihr) wisst das zwar, wollt aber nicht, dass man daraus -- wie auch immer geartete (!) -- Konsequenzen zieht.
Woraus, welche?
Bekenn doch mal Farbe.
Meinst Du nicht, dass es irgendwann einfach wichtigtuerisch und lächerlich wirkt, den großen Aufklärer zu mimen, der in 1000 Andeuten sagen möchte, dass er irgendwie alles und jeden durchschaut, aber unfähig ist zu formulieren, was er eigentlich will?

Einerseits die angedeuteten Vorwürfe, hier seien gefährliche Verherrlicher das status quo am Werk, gleichzeitig das Lippenbekenntnis, es sei doch alles in Ordnung, Du woltest darf nicht ändern und dann das dunkle Raunen, Deine Stunde käme dann noch. Das denken die Salafisten wahrscheinlich auch.

Sag doch mal, was Du zu sagen hast. Du wirst nicht so gern gesprengt, da habe ich komsicherweise auch was dagegen, meinst Du im Ernst, ich oder Nanna oder sonst wer hier, würden das unterstützen?

Lumen hat geschrieben:Soweit ich das Online beurteilen kann, scheuen Religiöse die Beweislast wie der Teufel das Weihwasser und sind sehr stark motiviert, sie fortwährend abzuwälzen.
Worum geht es, Wissenschaft oder gesellschaftspolitischer Diskurs? Du mixt schon wieder.
Wenn Du's nicht raffst, gut, kann man nichts machen, wenn Du nicht reden und den großen Strippenzieher geben willst, gut, wer's braucht.
Ansonsten: Sag was Du sagen willst.

Lumen hat geschrieben:Der Atheist soll dieses und jenes und dann ist noch hier und da und so weiter und dann geht es natürlich um Hitler-Mao-Stalin, Utopien und Fundamentalismus, wenn die eigentliche Forderung viel simpler und einfacher ist, aber eben auch gefährlicher für Gläubige. Die Forderung ist die: Gott oder Religion ist keine Joker-Karte für irgendwas. Wir sind dann angekommen, wenn jemand statt Religion auch genausogut Harry Potter zitieren könnte. Kann jemand ja gerne machen, aber es muss eben klar sein, dass der Verweis auf Harry Potter allein noch keine Überzeugungskraft besitzt.
Immer der gleiche gequirlte Mist, wird Dir das nicht selbst mal langweilig? Du hältst es ja nicht mal einen Beitrag lang durch, Deine unkonkreten Anschuldigungen nicht gebtsmühlenartig zu wiederholen, da ist Dawkins dann in der Tat drei Klassen besser und der ist schon miserabel bei dem Thema. Was erwartest Du da mehr als Antworten aus dem Rückenmark? Das ist doch für niemanden der denken kann, eine Herausforderung.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » Sa 8. Mär 2014, 20:00

Vollbreit hat geschrieben:Diesen Betrachtungen fehlt zu oft (m.E. aus den gleichen Gründen, warum man klare Kriterien verweigert) der vertikale Aspekt, die Entwicklungshöhe. Man möchte nicht wertend oder gar „faschistoid“ daherkommen, weshalb man die Einteilung in besser und schlechter, gelungen und misslungen, wünschenswert und unerwünscht, höher und nieder, entwickelt und unentwickelt unterlässt.

Das Problem ist hier doch eher, dass man jemanden davon überzeugen muss, warum etwas besser ist, und dann wird es meist kniffelig, wenn man sich nicht in Widersprüche und lückenhafte Argumentationen verwickeln lassen oder Zwang und Manipulation anwenden will. Zappa hat die "Kraft des guten Arguments" angesprochen, damit vollzieht er im Prinzip die zentrale Linie von Habermas nach. Ich finde die voll unterstützenswert, aber was dabei immer das Haar in der Suppe ist, ist, dass man stillschweigend voraussetzen muss, dass beide Parteien sich an den Tisch setzen (wollen und können) und miteinander reden. Wenn man an dem Punkt ist, dass alle bereit sind, miteinander zu reden und gemeinsame Regeln und Ziele zu vereinbaren (die über die grundlegendsten Abwehrrechte gegen Eingriffe in das selbstgestaltete Leben hinausgehen), dann hat man im Prinzip doch schon 80% des Weges geschafft. Aber wie kommt man da hin?

Das ganze ist ja doch recht dilemmatisch: Der Kulturrelativismus ist eine widersprüchliche Position, die Standardwiderlegung ist: Man wende die kulturrelativistische Forderung, dass alle Partikularismen gleichrangig sind, auf ihn selber an; damit nimmt man ihm den universalen Anspruch und macht ihn selber zu einem Partikularismus, der anderen Partikularismen keine Vorschriften mehr über gegenseitige Toleranz machen kann und alle sind zurück auf Los. Das ist übrigens ein Argument, das ich, mal wieder, von Laclau geborgt habe, also einem Vordenker des Poststrukturalismus (muss gesagt werden, damit keiner denkt, die Postmodernen würden ihre eigenen Probleme nicht kennen).
Das Problem ist aber, und das ist eben die Kernerkenntnis des Poststrukturalismus, dass es positiv definierte universale Inhalte nicht mehr geben kann, weil jeder jederzeit deren Axiome auf der Basis der epistemologischen Unentscheidbarkeit (Laclau: "radical undecidability") verwerfen kann. Poppers Fallibilismus ist im Prinzip das Pendant zu diesem Problem im Bereich der Wissenschaft. Der erreichbare Mindestkonsens, und da ist es recht ironisch, dass ausgerechnet Leute, die aus der marxistischen Tradition stammen, das sagen, ist das alte liberale Bonmot, sich von einem ideologischen, für alle verbindlichen Überbau der Gesellschaft loszusagen, und es bei der symmetrischen gegenseitigen Achtung der Freiheitsrechte des jeweils Anderen zu belassen:

Ernesto Laclau (In: Emancipation(s), S.103f.) hat geschrieben:The universal values of the Enlightment, for instance, do not need to be abandoned, but need, instead, to be presented as pragmatic social constructions and not as expressions of a necessary requirement of reason. Finally, the previous reflections show, I think, the direction into which the construction of a postmodern society should move: to indicate the positive communitarian values that follow from the limitations of historical agents, from the contingency of social relations, and from those political arrangements through which society organizes the management of its own impossibility.

Ich stimme diesem Satz umfassend zu, weil er meines Erachtens die Quintessenz unserer epistemologischen und normativen Probleme in eine sowohl intellektuell als auch praktisch einigermaßen befriedigende Richtung überführt. Und er verschleiert vor allem nicht, dass die gesellschaftlichen Arrangements prekär und temporär bleiben werden und keine ideologisch stabile Zukunft im Sinne eines Zeitalters der Vernunft o.ä. anbrechen wird. Allerdings wird damit natürlich auch impliziert, dass das Zusammenleben dauerhaft ein ziemliches Durchwursteln sein und bleiben wird, weil eben niemand mehr eine dogmatisch gesicherte Autorität beanspruchen kann, Deutungen für die Anderen vorzunehmen. Das macht die Konstruktion gemeinsamer positiver Inhalte zu denen man sich bekennt, äußerst schwierig, weil die Bereitschaft zur Kooperation immer schon eine notwendige Bedingung ist, die nicht innerhalb dieses Rahmens geschaffen werden kann.

Das Problem, das du aber zu Recht ansprichst, ist, dass solche Schlussfolgerungen die meisten Leute überfordern. Die Frage ist, was tut man dann? Wie weit darf man einseitig darin gehen, andere Menschen gezielt zu verändern, insbesondere solche, wo nicht qua Elternschaft ein nachvollziehbarer Erziehungsauftrag besteht? Man wandelt man halt immer ganz hart an der Grenze zur Bevormundung, Infantilisierung usw.

Wie würdest du damit umgehen?
__________________________

Lumen hat geschrieben:(ein normaler lächeln-smiley wäre mal schick)

Ok.

Lumen hat geschrieben:Warum sollte Dawkins, oder ich, erläutern, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen? Würde das nicht voraussetzen, wir hätten eine utopische oder jedenfalls andere Vorstellung als sie gegenwärtig ist? Und würde auch eine der Vollständigkeit halber mitgelieferte Erklärung nicht den Eindruck erwecken, dass wir eine andere Form forderten, obwohl ich das nicht erkennen kann?

Ich tue mich etwas schwer, die Forderungen gegenüber weiten Teilen der Gesellschaft, die die Neuen Atheisten erheben, nicht als reformatorisch zu sehen. Wenn alles so bleiben kann, wie es ist, wozu streiten wir dann überhaupt? Dann könntest du ja auch nach Hause gehen und die Gläubigen ihren Gott anbeten lassen. Aber das tust du ja auch nicht, Veränderung willst du doch schon herbeiführen, oder nicht?

Lumen hat geschrieben:Religiöse haben ihre Behauptungen noch nicht belegt und Atheisten gehen dann richtigerweise davon aus, dass sie unbelegbar sind (und es bleiben werden), folglich ergeben sich Konsequenzen aus dieser Einsicht.

Ok? Welche denn?

Lumen hat geschrieben:In dem Zusammenhang versuchen Atheisten daher, den Religiösen beizubringen, was "Beweislast" ist. Die trägt der, der die Behauptungen aufstellt.

Nein. Eine Beweislast muss nur erbracht werden, wenn der Behauptende die Übernahme seiner Sichtweise von Anderen verlangt. Wenn innerhalb einer Community Konsens über bestimmte Annahmen herrscht, keine Diskussion mit Außenstehenden gesucht wird und keine Rechtsverletzungen vorliegen, dann besteht auch keine Beweislast, da durch das Fehlen des Beweises keine Geschädigten entstehen. Nur die Gläubigen selbst könnten berechtigterweise Beweise einfordern, schließlich sind sie diejenigen, deren Leben davon beeinflusst werden. Ebenso kann ein Außenstehender Beweise einfordern, wenn er betroffen ist, etwa im Rahmen von Missionsbestrebungen oder weil bestimmte Annahmen (z.B. dass Impfen nicht gottgefällig ist) die Allgemeinheit gefährden. Allerdings geht es dann in erster Linie um spezifische Probleme, nicht um allgemeine Weltbilder.

Lumen hat geschrieben:Solange das eine konsequenzlose Privatmeinung ist, habe ich damit nie ein Problem gehabt. Sobald es aber eine Art gesellschaftliche Joker-Karte ist, müssen eben die Spielregeln dahingegen verständlich gemacht werden, dass es keine solchen Joker-Karten mehr gibt. Natürlich kann jemand eine Meinung haben, auch eine sehr starke und persönliche Sichtweise, die sich nicht an Fakten orientiert. Ich habe nichts dagegen! Es geht nur nicht, dass jemand seine starke persönliche Sichtweise, die sich durch nichts belegen lässt, dahinstellt, als sei sie belegbar und bestens nachvollziehbar. Das ist der springende Punkt.

Meines Erachtens ist das das erste Mal, dass du diese Trennung so deutlich vollziehst. Und wie ich schon im Punkt zuvor geschrieben habe: Kritik sollte immer konkrete Bezugspunkte haben, sonst verkommt sie zum allgemeinen Motzen über die Gesamtsituation. Nicht, dass man die nicht kommentieren dürfte, aber es ist doch deutlich effektiver und berechtigter, da Einspruch zu erheben, wo die "Joker-Karte" konkret gezogen wird und nicht, wo irgendeine abstrakte Möglichkeit besteht, dass jemand das tut.

Lumen hat geschrieben:Religiöse wehren sich gegen diese Einsicht, denn es ist ja wunderbar bequem eine durch nichts belegte Behauptungen auf die Religion zu schieben. Und Akkommodationisten wie du und Nanna sehen zwar das es keine Belege gibt (wenigstens Nanna sieht das), aber ihr wollt die Konsequenzen daraus nicht ziehen und weiter "so tun als ob".

Ich frage nochmal: Welche Konsequenzen? Warum sollte ich Konsequenzen daraus ziehen, dass mein Nachbar an pinke Einhörner glaubt und denkt, seine Krebsheilung sei von einem Einhorn herbeigeführt worden? Welchen Grund habe ich dafür, überhaupt meine Nase in diese Frage zu stecken oder gar meinem Nachbarn eine Auseinandersetzung mit meinen Argumenten aufzunötigen?

Die "Faktenlage" und meine Argumente, die ich auf meinen persönlichen Annahmen aufbaue, sind für diese Frage völlig irrelevant, deshalb brauchst du darauf auch nicht dauernd herumreiten. Aus Fakten allein folgt nichts ohne ein moraltheoretisches, normatives framework und das einzige, breit akzeptierte ist hierzulande das menschenrechtliche inklusive der Religionsfreiheit.
Meine Ansichten können daher noch so fundiert sein zu dem Thema, ich könnte studierter Onkologe, Literaturwissenschaftler mit Spezialisierung in Märchen, Philosoph, Theologe und Physiker in einer Person sein, es würde nichts daran ändern, dass ich kein Recht habe, jemand anderem in das Steuer seines Lebens zu greifen und für ihn zu entscheiden, was zu denken und zu glauben gut für ihn ist. Das muss er schon selber tun. Und wenn er an Einhörner glauben will, dann reicht dieser Tatbestand alleine nicht dafür aus, sich ihm deshalb in irgendeiner Form zu nähern. Es muss schon eine konkrete Gefährdung, Schädigung o.ä. von ihm ausgehen, damit meine Einspruchs- und Widerstandsrechte aktiviert werden.

Lumen hat geschrieben:Die einen wollen garnicht erst einsehen, dass Rauchen gesundheitsschädlich ist, die anderen (ihr) wisst das zwar, wollt aber nicht, dass man daraus -- wie auch immer geartete (!) -- Konsequenzen zieht. Ihr seid die, die aus unerfindlichen Gründen sabotieren, dass die Gesundheitsgefahr offziell festgestellt wird und rationalisiert das dann damit, dass Nicht-Raucher nicht nur das Rauchen verbieten wollen, sondern eventuell gleich noch die Raucher auslöschen wollen. Haargenau das ist die Rhetorik hier.

Wer ist "man"? Ich ziehe die Konsequenzen daraus, nicht zu rauchen. Ich befürworte auch umfassenden Nichtraucherschutz, weil Passivrauchen eine konkret belegbare Gefährdung darstellt und nachweislich das Leben verkürzt. Ich bitte auch ggf. Freunde, in meiner Anwesenheit nicht zu rauchen, weil ich da extrem schnell eine gereizte Lunge bekomme (= eine konkrete Schädigung erleide). Und selbstverständlich befürworte ich die offizielle Darstellung der Gesundheitsgefahr, die in zahlreichen Studien empirisch nachgewiesen wurde. Ich befürworte auch öffentlich geförderte Austiegshilfen, beim Rauchen genauso wie bei Sekten.
Was ich nicht befürworte ist das Anpöbeln der Raucher dafür, dass sie rauchen. Der Raucher, der behauptet, Rauchen sei ungefährlich, steht auch nicht in irgendeiner Beweislast, solange er nicht meinen Kindern einredet, dass sie es mal versuchen sollen. Wer auf Andere Rücksicht nimmt, kann qualmen, bis der Arzt kommt, eigene Entscheidung, eigenes Risiko.

Lumen hat geschrieben:Schließlich ist es bisher unklar geblieben, warum wir zwei Maßstäbe anlegen sollen: einmal wenn es um Rauchen und so weiter geht, aber ein anderer Maßstab gelten soll, wenn es um den Ursprung des Universums, der Moral oder der Menschheit und so fort geht (ein weiterer Zusammenhang ist natürlich, dass die Taktik Tabakindustrie über religiöse Institute und Think-Tanks auch für die Religions-Apologetik verwendet wurde).

Falls du wirklich körperliche Schmerzen hast, weil jemand, der neben dir in einer Kneipe sitzt, eine andere Ansicht über die Entstehung des Universums vertritt oder sich in seinen Alltagsentscheidungen auf Gott verlässt, dann geh bitte in Therapie, denn das klingt ernst. Andernfalls tu mir einen Gefallen und lass die absurden Vergleiche stecken.

Lumen hat geschrieben:Soweit ich das Online beurteilen kann, scheuen Religiöse die Beweislast wie der Teufel das Weihwasser und sind sehr stark motiviert, sie fortwährend abzuwälzen.

Dann verlass solche Diskussionen doch einfach, wenn sie dich nerven. Geschieht dir doch nichts. Sollen Andere halt denken, was sie wollen, warum kannst du das so schwer ertragen?

Lumen hat geschrieben:Die Forderung ist die: Gott oder Religion ist keine Joker-Karte für irgendwas. Wir sind dann angekommen, wenn jemand statt Religion auch genausogut Harry Potter zitieren könnte. Kann jemand ja gerne machen, aber es muss eben klar sein, dass der Verweis auf Harry Potter allein noch keine Überzeugungskraft besitzt.

Wann hat dir denn von dir zuletzt irgendwer gefordert, du solltest etwas machen, weil es Gott so wolle? Im Ernst jetzt?
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Lumen » Sa 8. Mär 2014, 23:10

Ich mach mal einen Seitenwechsel ...

Henning hat geschrieben:stimme Nanna und Vollbreit zu, und würde nun auch soweit gehen, dass man rassistische, homophobe oder sexistische Ansichten in Ruhe lassen soll, solange niemand direkt davon betroffen ist. Ich weiß, das ist schwer zu verstehen, aber Vollbreit und Nanna haben völlig recht. Jede Weltanschauung sollte toleriert und respektiert werden. Das gehört zum Miteinander dazu. Lumen ist da eher Anhänger von Hitchens, der meint, dass jeder sagen kann, was sie denkt, dann aber auch dafür geradestehen muss und Konsequenzen akzeptieren muss, und sei es Gelächter.

Aber Awareness Raising und solche Sachen sind keien gute Idee und ein ganz falscher Ansatz. Wie Nanna korrekterweise sagt, ist es eine Tyrannei, zum beispiel das gesellschaftliche Klima dahingehend zu verändern, das sexistische Ansichten als uncool gelten. Ich dachte früher auch mal, dass man das wenigstens auslachen sollte und dubiouse Ansichten keinen Respekt verdienen, aber Nanna und Vollbreit haben mich überzeugt, dass ich völlig falsch lag. Sicherlich gibt es auch bei solchen Ansichten einen problematischen Bereich. Nämlich da, wo es illegal wird und konkret die Menschenrechte verletzt werden. Es ist aber völlig in Ordnung, Frauen fortwährend zu verniedlichen, Schatzi und Süße zu nennen und sich zu wünschen, sie würden sich vermehrt in der Küche aufhalten. In Ordnung natürlich nicht, das ich dem zustimme, hehe.

Sondern es ist gesellschaftlich in Ordnung, solange die Rechte geachtet werden. Sicher haben Frauen Selbstbestimmungsrechte, wie jeder andere auch. Aber daraus leitet sich nicht ab, dass man Wünsche von Männern mit altmodischen Ansichten auslachen darf. Lumen meint, dass solche Ansichten sich dann weiter verbreiten und sich dann in vielen Bereichen niederschlagen, und auch konkrete Folgen haben können. Aber Nanna hat mich überzeugt, dass man zweifelhafte Meinungen respektieren sollte. Sollten sich sexistische Weltbilder in der Politik niederschlagen und konkret werden, muss man genau hinschauen. Das ist ja derzeit nicht der Fall und war es seit Jahrzehnten eigentlich schon nicht. Insofern kann man Nanna's Einwand direkt übertragen. Wahrscheinlich gabs mal eine Äußerung hier und da, so wie auch Merkel und Wulff die hin und wieder die Religion eingebracht haben. Bei Sexismus dann eben Brüderle, hehe. Aber das ist ja nicht so schlimm. Und sind es in solchen Fällen wirklich diese sexistischen Ansichten gewesen, oder gibt es nicht vielleicht andere Ursachen, wie Vollbreit gemahnt hat.

Lumen möchte die Leute erreichen, die ohnehin schon fast seiner Meinung sind und denkt dass Awareness Raising Erfolge erziehlen kann, während Nanna und Vollbreit es wichtiger finden, einen Dialog mit den Festüberzeugten zu führen, die man nicht direkt vor den Kopf stoßen darf. Ich glaube Nanna und Vollbreit sind da effektiver, weil viele ihre festen Ansichten nach einem klärenden Gespräch sehr leicht ändern und sich überzeugen lassen. Also mich hat die Argumentation von Vollbreit und Nanna vollkommen überzeugt.


Ich finde Frisking extrem nervig und gehe auf solche Kommentare nicht mehr direkt ein, zumal wenn vor dem ersten Lesen schon der Zitat-Knopf gedrückt wurde und die vielen Zitateinschübe vielmehr Zwischenrufe sind, die entweder überhaupt nichts zur Sache tun, oder hinterherhinken weil der Zwischenruf sich auf etwas bezieht, was im nächsten Abschnitt erläutert wird. Vor allem Nanna's Hang zum Ziele verschieben ("Moving the Goalpost") geht mir auf den Zeiger.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Sa 8. Mär 2014, 23:23

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Diesen Betrachtungen fehlt zu oft (m.E. aus den gleichen Gründen, warum man klare Kriterien verweigert) der vertikale Aspekt, die Entwicklungshöhe. Man möchte nicht wertend oder gar „faschistoid“ daherkommen, weshalb man die Einteilung in besser und schlechter, gelungen und misslungen, wünschenswert und unerwünscht, höher und nieder, entwickelt und unentwickelt unterlässt.

Das Problem ist hier doch eher, dass man jemanden davon überzeugen muss, warum etwas besser ist, und dann wird es meist kniffelig, wenn man sich nicht in Widersprüche und lückenhafte Argumentationen verwickeln lassen oder Zwang und Manipulation anwenden will. Zappa hat die "Kraft des guten Arguments" angesprochen, damit vollzieht er im Prinzip die zentrale Linie von Habermas nach.
Ja, finde ich gut und richtig.
Allein: es gibt im Grunde keine Kriterien, auf die man sich berufen kann, im Sinne der Naturalisten mit eher szientistischen Ausrichtung. Wie schon erwähnt zählt sich Habermas zu den sanften Naturalisten.
Einfaches Beispiel. Intelligenz ist a) gut und man kann sie b) objektiv messen.
Das Problem: Die Frage, warum das was, man misst nun gerade Intelligenz sein oder in besonderer Weise auszeichnen soll, wird umso komplizierter, je länger man darüber nachdenkt. (Ich habe mich da mal mit einem Forscher ausgetauscht der genau das versucht.)
Das andere Problem: Dass Intelligenz unhinterfragbar gut ist, ist auch nur eine beliebige normative Setzung.
Da Dir die Problematiken bekannt sind, brauche ich sie nicht auszuführen und sie gilt für nahezu alles, was wir als fraglos richtig ansehen.
Philosophisch hat Wittgenstein und vor allem in zugespitzter Weise Kripke das Feld beackert. Kurzfassung: Wenn wir glauben Regeln zu folgen, dann glauben wir das wirklich nur, da es überhaupt kein stabiles Kriterium gibt, das einen erkennen lässt, dass man genau dieser und keiner anderen Regel folgt, und folgen soll.

Nanna hat geschrieben:Ich finde die voll unterstützenswert, aber was dabei immer das Haar in der Suppe ist, ist, dass man stillschweigend voraussetzen muss, dass beide Parteien sich an den Tisch setzen (wollen und können) und miteinander reden. Wenn man an dem Punkt ist, dass alle bereit sind, miteinander zu reden und gemeinsame Regeln und Ziele zu vereinbaren (die über die grundlegendsten Abwehrrechte gegen Eingriffe in das selbstgestaltete Leben hinausgehen), dann hat man im Prinzip doch schon 80% des Weges geschafft. Aber wie kommt man da hin?
Das ist auch meine Meinung und ich bin da ähnlich skeptisch wie Du, sprich, man bekommt es nicht hin.
Das ist einer der starken Punkte bei Wilber die Sprachlosigkeit zwischen den Ebenen aufgezeigt zu haben. Ein diskursfähiger Mensch ist völlig anders unterwegs als ein Mensch der szientistischen, religiösen oder politischen Mythen folgt.
Den Unterschied markiert u.a. die Fähigkeit (sei sie psychisch oder intelligenzbedingt), die Perspektive des anderen für die Zeit des Diskurses übernehmen zu wollen oder zu können.
Das ist ein anderer Organisationsmodus, der inkompatibel zum anderen ist. Unterhalb dieser mythsichen Ebene gibt es noch andere Formen, die gut dargestellt sind und die ebenfalls weitgehend inkompatibel mit anderen sind. Keine Ahnung wie weit Du das vertiefen willst, ich würde dazu dann einen eigenen Thread empfehlen.

Nanna hat geschrieben:Das ganze ist ja doch recht dilemmatisch: Der Kulturrelativismus ist eine widersprüchliche Position, die Standardwiderlegung ist: Man wende die kulturrelativistische Forderung, dass alle Partikularismen gleichrangig sind, auf ihn selber an; damit nimmt man ihm den universalen Anspruch und macht ihn selber zu einem Partikularismus, der anderen Partikularismen keine Vorschriften mehr über gegenseitige Toleranz machen kann und alle sind zurück auf Los.
Ja, so ungefähr ist auch Wilbers Einwand, aber er hat einen Trumpf im Ärmel der sticht. Er weist den Pluralisten ihre Unfähigkeit nach innere Hierarchien der Entwicklungspsychologie zu kennen und zu berücksichtigen und reibt ihnen das direkt unter die Nase. Die alte Geschichte vom abnehmenden Egoismus und zunehmender Empathie von Stufe zu Stufe, etwas mechanisch, was dann auch von Wilber als Kritik aufgeriffen wurde. Der Versuch der Differenzierung des anfangs etwas ruppigen Konstrukts ist aber nur zum Teil geglückt, Wilber wollte da vermutlich zu viel, aber die Kritik wäre dann der dritte Schritt vor dem ersten.

Nanna hat geschrieben:Das ist übrigens ein Argument, das ich, mal wieder, von Laclau geborgt habe, also einem Vordenker des Poststrukturalismus (muss gesagt werden, damit keiner denkt, die Postmodernen würden ihre eigenen Probleme nicht kennen).
Das Problem ist aber, und das ist eben die Kernerkenntnis des Poststrukturalismus, dass es positiv definierte universale Inhalte nicht mehr geben kann, weil jeder jederzeit deren Axiome auf der Basis der epistemologischen Unentscheidbarkeit (Laclau: "radical undecidability") verwerfen kann.
Das stimmt auch und man hat zwei Auswege: Entweder man sucht unverdrossen nach Prinzipien, die doch eine Orientierung gewährleisten, das kann eine spirituelle aber auch biologische Richtung werden.
Anderer Punkt: Man pfeift auf die objektiven Kriterien und gibt sich die aktuell wünschenswerten Regeln selbst.
Du siehst an den Versuchen eine objektive Ethik zu generieren oder an den wüsten Attacken gegen die Relativisten aus dem Lager der Biologisten, dass diese nach einer erfolgreichen Entwertung der Werte, doch große Schwierigkeiten haben im normative Vakuum, was keines sein müsste, zu agieren und nun versuchen die Lücke auf Biegen und Brechen zu schließen, was im Falle Harris, soweit mir das bekannt ist, allerdings ein einziges Fiasko ist.

Nanna hat geschrieben:Poppers Fallibilismus ist im Prinzip das Pendant zu diesem Problem im Bereich der Wissenschaft. Der erreichbare Mindestkonsens, und da ist es recht ironisch, dass ausgerechnet Leute, die aus der marxistischen Tradition stammen, das sagen, ist das alte liberale Bonmot, sich von einem ideologischen, für alle verbindlichen Überbau der Gesellschaft loszusagen, und es bei der symmetrischen gegenseitigen Achtung der Freiheitsrechte des jeweils Anderen zu belassen:

Ernesto Laclau (In: Emancipation(s), S.103f.) hat geschrieben:The universal values of the Enlightment, for instance, do not need to be abandoned, but need, instead, to be presented as pragmatic social constructions and not as expressions of a necessary requirement of reason. Finally, the previous reflections show, I think, the direction into which the construction of a postmodern society should move: to indicate the positive communitarian values that follow from the limitations of historical agents, from the contingency of social relations, and from those political arrangements through which society organizes the management of its own impossibility.

Ich stimme diesem Satz umfassend zu, weil er meines Erachtens die Quintessenz unserer epistemologischen und normativen Probleme in eine sowohl intellektuell als auch praktisch einigermaßen befriedigende Richtung überführt. Und er verschleiert vor allem nicht, dass die gesellschaftlichen Arrangements prekär und temporär bleiben werden und keine ideologisch stabile Zukunft im Sinne eines Zeitalters der Vernunft o.ä. anbrechen wird.
Ein Zeitalter der Vernunft wird es nicht geben, da sind sich alle einig, wünschenswert wäre mehr Vernunft, auch da sind sich alle einig.
Die Wut mit der gegen die Idee der sozialen Konstrukte geschossen wird, zeigt ja auch, wie wenig man diesen Gedanken des Vorläufigen in den Griff kriegt, wo doch gerade aus der Szientistenfraktion immer behauptet wird, nur Religiöse bräuchten feste Werte, man selbst wisse nach Popper um die Vorläufigkeit aller Erkenntnis.
Die Dekonstruktion des verantwortlichen Subjekts im Namen der Aufklärung, ist allerdings, wenn man sich darüber nicht ärgern will, eine recht neckische Stilblüte.

Nanna hat geschrieben:Allerdings wird damit natürlich auch impliziert, dass das Zusammenleben dauerhaft ein ziemliches Durchwursteln sein und bleiben wird, weil eben niemand mehr eine dogmatisch gesicherte Autorität beanspruchen kann, Deutungen für die Anderen vorzunehmen.
Und das ist für Menschen der mythischen Bewusstseinsstufe absolut unerträglich, darum suchen sie was zum anklammern.
Das ist als Gedanke oft genug dekonstruiert worden, ob von den Existentialisten, Latour, auf seine Art von Luhmann, von Buddha und auch die Psychoanalyse gewährt da Einblicke. Sehr schön hat Alexander Mitscherlich das festgehalten:
Alexander Mitscherlich hat geschrieben:„Vielmehr geht es um den Versuch, ein Vertrauensverhältnis zwischen Analytiker und Analysand herzustellen, das dem letzteren zeitweisen Schutz bietet für eine zensurlose, für eine unkorrigierte Selbstwahrnehmung durch die Deckung, die ihm der Analytiker bietet. Am Ende kann dieser Erkenntnisweg nur wieder zur freilich sinnvolleren, reflektierteren Anerkennung der Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnungen – einschließlich verlangter Verzichte – führen.“
(A.Mitscherlich, Der Kampf um die Erinnerung, Piper & Co. 1975, S.22)

Die Konsequenz lautet: Der Mensch braucht verpflichtende Regeln, aber welche ist egal.

Nanna hat geschrieben:Das macht die Konstruktion gemeinsamer positiver Inhalte zu denen man sich bekennt, äußerst schwierig, weil die Bereitschaft zur Kooperation immer schon eine notwendige Bedingung ist, die nicht innerhalb dieses Rahmens geschaffen werden kann.
Wieso der Gedanke ist doch an sich einfach, schwer nur, ihn auszuhalten.
Auch hier hilft uns jedoch – parallel zum Geiste der Aufklärung – die (Entwicklungs)Psychlogie: Kurz gesagt, es braucht ein reifes Ich um die Relativität der Normen und Werte verarbeiten und ertragen zu können. Aber das muss man nicht glauben sondern sehen lernen.

Nanna hat geschrieben:Das Problem, das du aber zu Recht ansprichst, ist, dass solche Schlussfolgerungen die meisten Leute überfordern.
Okay, die Anwort davor hätte ich mir schenken können.
Ja.

Nanna hat geschrieben:Die Frage ist, was tut man dann?
Entwicklung fördern, wo immer es geht. Jeder so, wie er es am besten kann.

Nanna hat geschrieben:Wie weit darf man einseitig darin gehen, andere Menschen gezielt zu verändern, insbesondere solche, wo nicht qua Elternschaft ein nachvollziehbarer Erziehungsauftrag besteht?
Weit, da die einzig richtige Intention dabei ist, die Engführung des Anfangs, die immer da sein muss und die – wieder Entwicklungspsychologie – auch nicht schadet, immer mehr in die Weite zu führen. Das aufgeklärte Individuum mag nur ein Etappenziel sein, aber es ist immerhin eines, auf das sich alle einigen können. Das viele das als Akt chronischer Nachhilfe missverstehen, verweist auf ihre Ängste und tritt den Gedanken der Aufklärung mit Füßen.
Aber es gibt genügend kluge Menschen, die das mit Leichtigkeit durchschauen. Spielen wir mit denen.

Nanna hat geschrieben:Man wandelt man halt immer ganz hart an der Grenze zur Bevormundung, Infantilisierung usw.

Wie würdest du damit umgehen?
Am Anfang steht immer der Drill, ich drücke es so hart aus, wie Wittgenstein es tat. Der hat einzig das Ziel, diese Stufe des Gehorsams zu überwinden, außer jemand leidet zu sehr, wenn er in die größere Freiheit muss. (Und wie gesagt, der Inhalt der Stufe ist egal.) Dass muss man respektieren und ihn in seiner selbstgewählten Enge belassen. Jede Stufe wird von der nächsten abgelöst, das einzige legitime Ziel was ich kenne, ist die Erleuchtung, aber die ist der Endpunkt nur bestimmter Entwicklungslinien. Wie man sich im Internet bewegt, weiß man dadurch noch immer nicht.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Sa 8. Mär 2014, 23:34

Nein, Lumen, Du hast nicht die Spur dessen verstanden, was Nanna und mich umtreibt.
Du kannst aber beruhigt sein, als extrem nervtötend sehe ich Deine Beiträge auch an.
Ich habe keine Lust Deine fehlerhaften Zuschreibungen durchzugehen, weil Du zu verliebt in Deine Vorurteile bist, aber bereits am Anfang in dem Satz: "Jede Weltanschauung sollte toleriert und respektiert werden." offenbart sich, dass Du nichts kapiert hast.
Keiner von uns würde diesen Satz so unterschreiben und so arbeitest Du Dich en weiteres Mal an Deinen Projektionen ab und verweigerst geforderte Antworten, auf die Fragen, was Du den anders machen würdest.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Nanna » So 9. Mär 2014, 02:48

Lumen hat geschrieben:Ich finde Frisking extrem nervig und gehe auf solche Kommentare nicht mehr direkt ein, zumal wenn vor dem ersten Lesen schon der Zitat-Knopf gedrückt wurde und die vielen Zitateinschübe vielmehr Zwischenrufe sind, die entweder überhaupt nichts zur Sache tun, oder hinterherhinken weil der Zwischenruf sich auf etwas bezieht, was im nächsten Abschnitt erläutert wird. Vor allem Nanna's Hang zum Ziele verschieben ("Moving the Goalpost") geht mir auf den Zeiger.

Ok. Muss ja nicht.

Kleine Randbeobachtung: Aus meiner Sicht wirkt es gerade so, als wäre im Moment nicht derjenige, der eine Ausweichbewegung vollführen würde. Ist die Metadiskussion über den Diskussionsstil denn nicht auch ein Moving the Goalpost? Ich mein ja nur. ;-)

Sag einfach, wenn du nochmal magst.

Vollbreit hat geschrieben:Kurzfassung: Wenn wir glauben Regeln zu folgen, dann glauben wir das wirklich nur, da es überhaupt kein stabiles Kriterium gibt, das einen erkennen lässt, dass man genau dieser und keiner anderen Regel folgt, und folgen soll.

Halte ich für plausibel, bin mir aber sicher, dass da min. 95% der Menschheit aussteigt. Ist auch verdammt kontraintuitiv und stell dir mal vor, ein Richter am Gericht würde so was öffentlich aussprechen, das würde jetzt auch nicht gerade helfen.

Vollbreit hat geschrieben:Das ist einer der starken Punkte bei Wilber die Sprachlosigkeit zwischen den Ebenen aufgezeigt zu haben. Ein diskursfähiger Mensch ist völlig anders unterwegs als ein Mensch der szientistischen, religiösen oder politischen Mythen folgt.
Den Unterschied markiert u.a. die Fähigkeit (sei sie psychisch oder intelligenzbedingt), die Perspektive des anderen für die Zeit des Diskurses übernehmen zu wollen oder zu können.
Das ist ein anderer Organisationsmodus, der inkompatibel zum anderen ist. Unterhalb dieser mythsichen Ebene gibt es noch andere Formen, die gut dargestellt sind und die ebenfalls weitgehend inkompatibel mit anderen sind. Keine Ahnung wie weit Du das vertiefen willst, ich würde dazu dann einen eigenen Thread empfehlen.

Wenn es für dich ok ist, dass das mehr ein "Nanna fragt, Vollbreit antwortet"-Spiel wird, wäre ich da gern dabei. Ich habe ja im Prinzip selber erst einen sehr kleinen Überblick in dem Gebiet.

Eine erste Frage für mich wäre, wie es mit der Abwärtskompatibilität aussieht. Wie sehr ist den oberen Stufen zuzutrauen, die unteren Stufen konstruktiv und trotz Hierarchieunterschied mit Respekt anzuleiten?

Vollbreit hat geschrieben:Das stimmt auch und man hat zwei Auswege: Entweder man sucht unverdrossen nach Prinzipien, die doch eine Orientierung gewährleisten, das kann eine spirituelle aber auch biologische Richtung werden.
Anderer Punkt: Man pfeift auf die objektiven Kriterien und gibt sich die aktuell wünschenswerten Regeln selbst.
Du siehst an den Versuchen eine objektive Ethik zu generieren oder an den wüsten Attacken gegen die Relativisten aus dem Lager der Biologisten, dass diese nach einer erfolgreichen Entwertung der Werte, doch große Schwierigkeiten haben im normative Vakuum, was keines sein müsste, zu agieren und nun versuchen die Lücke auf Biegen und Brechen zu schließen, was im Falle Harris, soweit mir das bekannt ist, allerdings ein einziges Fiasko ist.

Das steckt in Laclaus Antwort ja auch drin, dass die Erkenntnis, dass wir in einer Welt relationaler sozialer Konstrukte ohne festen epistemologischen Grund leben, uns letztlich auch befreit und die Möglichkeit gibt, unsere Regeln selbst zu machen und die Gesellschaft so zu entwerfen, wie wir sie gut finden, nicht, wie sie nach einem bestimmten ideologischen Regelwerk sein muss.

Außerdem glaube ich, dass hinter der liberalen Kritik an Totalitarismen weit mehr Substanz steckt, als man auf den ersten Blick erkennt, weil wir zwar die objektive Verifikation von Prinzipien verloren haben, aber nicht die objektive Negation. Da sind wir ebenfalls wieder bei Popper, der ja zeigt, dass man zwar nicht be-, aber dennoch vieles widerlegen kann. Auf der gesellschaftlichen Ebene heißt das, dass man ebenfalls bestimmte Entwürfe verwerfen kann, etwa solche, die nicht durch Rawls' Schleier des Nichtwissens gehen (etwa weil sie asymmetrisch angelegt sind, wie eben z.B. der Faschismus oder die Sklaverei). Ich war früher immer extrem skeptisch gegenüber negierenden Dekonstruktionen der Gesellschaft eingestellt, weil das eben immer die Frage stellt "wenn nicht dieses, was dann?", aber mittlerweile traue ich diesem Instrument mehr zu, weil es wenigstens Leitplanken gegen den wüstesten Mist aufstellt.

Insofern würde ich z.B. die Menschenrechte, insbesondere die negativen Freiheiten / Abwehrrechte, nicht im emphatischen Sinn als Gegenstand relativistischer Weltdeutungen sehen, sondern eher als grundlegende Spielregeln, die am ehesten den Anspruch auf universale Anerkennung erheben können, weil sie nicht im eigentlichen Sinne Träger positiver Vorschriften sind, sondern mehr ein Steuerprinzip für die Wahrung symmetrischer Verhältnisse darstellen. Ich weiß, dass auch das im strengen epistemologischen Sinn eine Setzung ist, aber es ist zumindest eine, gegen die man verdammt schwer ankommt.

Vollbreit hat geschrieben:Die Wut mit der gegen die Idee der sozialen Konstrukte geschossen wird, zeigt ja auch, wie wenig man diesen Gedanken des Vorläufigen in den Griff kriegt, wo doch gerade aus der Szientistenfraktion immer behauptet wird, nur Religiöse bräuchten feste Werte, man selbst wisse nach Popper um die Vorläufigkeit aller Erkenntnis.

Stimmt wohl.

Vollbreit hat geschrieben:Die Konsequenz lautet: Der Mensch braucht verpflichtende Regeln, aber welche ist egal.

Also hier würde ich schon nochmal mit Verweis auf die Negation einhaken: Man kann meines Erachtens bestimmte Regelsystem so begründet verwerfen, dass man fast von einer Quasi-Objektivität sprechen darf (analog zur Falsifikation im Kritischen Rationalismus); irgendwann ist Skeptizismus sonst auch nur noch Gedankenonanie. Insofern glaube ich, dass man Regelsysteme insofern hierarchisieren kann, inwieweit sie grundlegende Qualitätsminima (negative Freiheitsrechte!) erfüllen. Aus dem Pool derer, die da übrig bleiben, kann man sich dann aber meinethalben frei bedienen, da würde ich zustimmen.

Vollbreit hat geschrieben:Auch hier hilft uns jedoch – parallel zum Geiste der Aufklärung – die (Entwicklungs)Psychlogie: Kurz gesagt, es braucht ein reifes Ich um die Relativität der Normen und Werte verarbeiten und ertragen zu können. Aber das muss man nicht glauben sondern sehen lernen.

Da kann ich mitgehen; allerdings würde ein reifes Ich vermutlich bestimmte Normen wie z.B. einen Grundrespekt gegenüber Anderen intuitiv verfolgen, so dass das reife Ich hier natürlich dem ganzen sowieso schon reichlich Schärfe nimmt. Als advocatus diaboli könnte ich da natürlich auch wieder einhaken, dass die Definition eines "reifen Ichs" ebenfalls wieder in der Luft hängt, womit wir uns leider im Kreis gedreht hätten. Wobei ich persönlich das Argument nicht machen würde, weil mir nicht klar ist, wer einen solchen (logisch korrekten, aber praktisch hirnrissigen) Einwand bringen wollen würde.

Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Die Frage ist, was tut man dann?
Entwicklung fördern, wo immer es geht. Jeder so, wie er es am besten kann.

Finde ich attraktiv. Ich versuche, wenn ich nicht gerade einen schlechten Tag habe, die Leute meist einigermaßen abzuholen, wo ich denke, wo sie sind, und zu sehen, ob ich ein Stück weit mit ihnen weiter komme. Ist also irgendwie etwas, was ich schon kenne (was mir aber auch noch nicht so häufig gelingt, wie ich mir das wünschen würde; es irrt der Mensch halt doch, so lang er strebt).

Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Wie weit darf man einseitig darin gehen, andere Menschen gezielt zu verändern, insbesondere solche, wo nicht qua Elternschaft ein nachvollziehbarer Erziehungsauftrag besteht?
Weit, da die einzig richtige Intention dabei ist, die Engführung des Anfangs, die immer da sein muss und die – wieder Entwicklungspsychologie – auch nicht schadet, immer mehr in die Weite zu führen. Das aufgeklärte Individuum mag nur ein Etappenziel sein, aber es ist immerhin eines, auf das sich alle einigen können. Das viele das als Akt chronischer Nachhilfe missverstehen, verweist auf ihre Ängste und tritt den Gedanken der Aufklärung mit Füßen.
Aber es gibt genügend kluge Menschen, die das mit Leichtigkeit durchschauen. Spielen wir mit denen.

Kann ich mitgehen, erfordert aber eine Menge Verantwortungsbewusstsein.

Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Man wandelt man halt immer ganz hart an der Grenze zur Bevormundung, Infantilisierung usw.
Wie würdest du damit umgehen?
Am Anfang steht immer der Drill, ich drücke es so hart aus, wie Wittgenstein es tat. Der hat einzig das Ziel, diese Stufe des Gehorsams zu überwinden, außer jemand leidet zu sehr, wenn er in die größere Freiheit muss. (Und wie gesagt, der Inhalt der Stufe ist egal.) Dass muss man respektieren und ihn in seiner selbstgewählten Enge belassen. Jede Stufe wird von der nächsten abgelöst, das einzige legitime Ziel was ich kenne, ist die Erleuchtung, aber die ist der Endpunkt nur bestimmter Entwicklungslinien. Wie man sich im Internet bewegt, weiß man dadurch noch immer nicht.

Da habe ich spontan jetzt auch keine Antwort drauf, aber zumindest was zum drauf rumkauen. ;-)
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » So 9. Mär 2014, 11:17

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Kurzfassung: Wenn wir glauben Regeln zu folgen, dann glauben wir das wirklich nur, da es überhaupt kein stabiles Kriterium gibt, das einen erkennen lässt, dass man genau dieser und keiner anderen Regel folgt, und folgen soll.

Halte ich für plausibel, bin mir aber sicher, dass da min. 95% der Menschheit aussteigt. Ist auch verdammt kontraintuitiv und stell dir mal vor, ein Richter am Gericht würde so was öffentlich aussprechen, das würde jetzt auch nicht gerade helfen.
An der Stelle sehe ich, aus richterlicher Sicht, noch kein Problem.
Wir können ja Gesetzen folgen, die wir uns geben und so eine philosophische Feststellung ist ja erst mal kein juristischer Grund, mit dem man sich aus der Verantwortung stehlen könnte.

Wer also spitzfindig argumentiert, er hätte nicht gestohlen, da ihm ja gar nicht klar sei (und klar sein könne) was Diebstahl ist, der zeigt damit, dass ihm im Lichte der tieferen philosophischen Betrachtung sehr wohl klar ist, wie die einfachere Regel im Sinne des Gesetzes und des gesellschaftlichen common sense zu verstehen ist.

Dass wir dem anderen sein Auto nicht stehlen dürfen ist auch noch im Lichte der Erkenntnis verständlich, die besagt dass es keinesfalls klar ist, welchen genauen Regeln wir folgen, wenn wir denken, dass wir Zahlen addieren, sondern einfach aus Gewohnheit einer Regel folgen, von der wir denken, sie sei so und nicht anders.

Nanna hat geschrieben:Eine erste Frage für mich wäre, wie es mit der Abwärtskompatibilität aussieht. Wie sehr ist den oberen Stufen zuzutrauen, die unteren Stufen konstruktiv und trotz Hierarchieunterschied mit Respekt anzuleiten?
Die Frage ist wichtig. Ich steig mal mit der Antwort mittendrin ein, die Struktur wird sich Dir erschließen.

Wilber hat sie m.E. mit Bravour beantwortet und auch die Gefahren gesehen. Meine Kritik war bereits ziemlich schnell, dass das bestimmte Gefahren eines Reduktionismus einiger Interpreten mit sich bringt, worauf ich (nicht zu unrecht) kritisiert wurde, man möge die neue Struktur doch überhaupt erst einmal entstehen lassen und sie, wie Wilber sagt, „with great care“ auspacken helfen, bevor man sie kritisiert.

Die integralen Behauptungen sind nun folgende:

1) Es gibt hierarchisch unterschiedliche Organisationsebenen, bei denen sich die Individuen der jeweiligen Stufe alle in etwa um einen impliziten, aber gemeinschaftlich geteilten Organisationsmodus = Sichtweise = Weltbild = so ist es, wenn man mal ehrlich ist, gruppieren.
Das ist streng strukturell und nicht inhaltlich gemeint.

Beispiel: Wer meint, es ginge in der Welt eigentlich, wenn man mal ehrlich ist, um die Durchsetzung eigener Machtinteressen der kann und wird durchaus anerkennen, dass der andere ggf. ganz andere Interessen verfolgen kann, als man selbst, der Ringkampf meine Interesse gegen deine wird ihn also nicht verwundern, mit der Aussage, es gäbe die Möglichkeit so in der Welt zu agieren, dass es primär überhaupt nicht darum geht, eigene Machtinteressen zu verfolgen, kann er hingegen überhaupt nichts anfangen und wird eine solche Behauptung gemäß des ihm einzig zugänglichen Modus als raffinierten Trick zur Verschleierung dessen, worum es eigentlich geht, nämlich die Durchsetzung eigener Machtinteressen interpretieren.

2) Die Abfolge der Ebenen ist zum einen Teil großenteils historisch bedingt und folgt der Idee der evolutionären Anpassung. Andere äußere Gegebenheiten erfordern andere und mitunter dann auch komplexere Antworten, die sich zu neuen stabilen Organisationsebenen ausdifferenzieren. Die neu entstandenen Ebenen sind zwar komplexer aber man kann nicht sagen, dass sie immer besser sind, es kommt halt auf die äußeren Umstände an. Wer sportlich erfolgreich sein will, der sollte vielleicht eher seine Konzentration auf die Optimierung seiner Leistungen legen, als seine Situation zu sehr zu reflektieren.
Es gilt weiterhin, dass neue Ebenen der Komplexität immer auch neue Pathologien mit sich bringen (wenn man die Perspektive der neuen Ebene übertreibt und sich von ihr nicht trennt).

3) In der Individualentwicklung folgt die Psyche, jede(!), einer Abfolge fester Stufen, von der keine übersprungen (oder umgekehrt) werden kann.

D.h. eine erwünschte Entwicklung auf eine bestimmtes Ziel hin, z.B. eine gesunde pluralistische Struktur zu etablieren, erreicht man nicht dadurch, dass man dem Kind von Beginn an erklärt, dass alle Menschen Brüder sind und es keine Unterschiede gibt und so weiter – und die kindliche Unfähigkeit in einem bestimmten Alter Klassen zu bilden und Vorurteile überhaupt haben zu können, mit einer Art kindlicher charakterlicher Reinheit zu verwechseln, die nicht verdorben oder verbildet werden darf, ist eiin beliebter Fehler: Wilber ist ein vehementer Gegner der Verherrlichung eines retroromantischen, heilen Urzustandes, den wir wieder erreichen sollten – sondern dadurch, dass man das Kind durch die Phasen von Egozentrik, Sozio- oder Ehtnozentrik und so weiter hindurchführt, ohne dass die Psyche sozusagen zu schnell auf eine der frühen Stufen dauerhaft Anker wirft.

4) Alle Entwicklungsstufen oder Meme dessen was in Spiral Dynamics (einer kollektiven Beschreibungsart dieser typischen Stufen) first tier genannt wird und fünf verschiedene, hierarchisch aufeinander aufbauende Stufen umfasst, haben nun bei aller inhaltlichen und strukturellen Verschiedenheit zwei Dinge gemeinsam: a) Sie können einander, d.h. alle anderen Meme nicht leiden und b) sie alle haben imperialistische Tendenzen und das Ziel ihr Mem möge die ganze Welt beherrschen.

Das heißt konkret, alle Welt sei z.B. ein Schlachtfeld auf dem Ego gegen Ego antritt (rotes Mem) oder solle eine riesige Glaubensgemeinschaft werden, in der eine bestimmte Religion oder Ideologie sich durchsetzt (blaues Mem) oder ist eine gut geölte Maschine, in der es natürliche Gesetze gibt und einen rationalen Geist, der diese erkennt und ausschlachtet (oranges Mem).

Das gilt (also die andere nicht leiden zu können und imperialistischen Tendenzen zu haben), so Wilbers harsche Kritik, auch für das grüne Mem, die Stufe eines unreifen Pluralismus, der empfindsam Rücksicht, Toleranz und Verständnis allen und jedem gegenüber einfordert, explizit hierarchiefeindlich und aggressionsgehemmt ist, aber hintenrum, die Vorläufermeme ebenso herzlich verachtet: blaue hierarchische Strukturen als rückwärtsgewandt und faschistoid ansieht, rote Willensstärke als dummen Egotrip und orangene Rationalität als kalt und herzlos deklariert.
Von Lumens Akkomodistendiagnose ist Wilber maximal weit entfernt und bezeichnet diese pathologische Version eines vorschnellen Pluralismus als „mean green meme“, dem er unterstellt unterm Strich zuschreibt, das schädlichste Mem der ganzen Geschichte zu sein.

5) Jenseits all dieser Meme beginnt das was in Spiral Dynamcis zweite Ebene (second tier) genannt wird und das erste Mem was hier erscheint wird gelbes oder integrales Mem genannt. Diesem integralen Mem wird nun die Eigenschaft zugeschrieben, als erstes Mem keine imperialistischen Tendenzen mehr zu verfolgen, d.h. nicht das Ziel zu haben, alle Welt möge dereinst gelb/integral werden, sondern das Wohl der ganzen Spirale (der Entwicklung) primär im Auge zu haben.
Das heißt, das integrale Mem verabscheut seine Vorläufermeme nicht, sondern sieht in ihnen je nach Situation Stärken und Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen und realistische Optionen hier und heute zu handeln und verurteilt oder verherrlicht nicht ein Mem generell, auch nicht das eigene.
D.h. man wertschätzt die rote Kraft des Ego, die blaue gehorsame Struktur, die orangene Rationalität und instrumentelle Vernunft, die grüne Empfindsamkeit und Toleranz, sieht aber auch deren Grenzen.

Mindestens so wichtig wie zu sagen was das gelbe/integrale Mem kann, ist zu sagen, was es nicht kann oder sein soll: Es ist im Grunde eine stinknormale Stufe eines reifen Pluralismus, der Hierarchien akzeptieren kann und im besten Sinne klug und mit Übersicht agiert, der Emapthie, Kreativität, Humor, Intuition und Vernunft besitzt, d.h. hochstehend in der Entwicklung aber in keiner Weise unerreichbar. Diese Stufe hat also nichts „Übersinnliches“ an sich und ist in jedem Fall mit einem sanften Naturalismus kompatibel und in dem Sinne ist Habermas ein integraler Denker par excellence, auch wenn er sich selbst niemals so bezeichnen würde.


Zurück zum Anfang, meine Kritik war, dass besonders mythische Wilberinterpreten, die ihren Wilber genauso kritiklos verehren, wie manche hier ihren Dawkins, in der Gefahr stehen, die schönen Stufenfolgen zu benutzen um sich gegen Kritik zu immunisieren, indem man nun nicht mehr auf den Inhalt der Kritik eingeht, sondern sie abbürstet und sagt: „Du bist ja gar nicht integral, sonst würdest du nicht so dumme Fragen stellen.“ Etwas überspitzt, aber so lief es dann auch, bei einigen. Nur ist so etwas leider unvermeidbar, aber wer so argumentiert versaut natürlich die Idee und sieht so wenig ein, dass er der Problembär ist, wie der willfährige und gehorsame Dawkinsinterpret, der meint nur er, als verlängerter Arm eines idealisierten Wilber/Dawkins, sei im Besitz der wahren Weisheit.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » So 9. Mär 2014, 11:18

Und ganz zurück, zu Deiner Frage: Es gibt keine Garantie, dass ein Ansatz nichts missbraucht werden kann und wird, aber deshalb auf ihn zu verzichten oder anderen, mit weniger Sorgen, die Interpretationshoheit zu überlassen, wäre die größere Gefahr. Wir alle setzen die integrale Struktur um und niemand kann uns daran hindern, es klug und umsichtig zu tun und in diesem Sinne, bist Du ein integraler Denker, auch wenn Du Dich vermutlich nicht so nennen würdest.

Nanna hat geschrieben:Das steckt in Laclaus Antwort ja auch drin, dass die Erkenntnis, dass wir in einer Welt relationaler sozialer Konstrukte ohne festen epistemologischen Grund leben, uns letztlich auch befreit und die Möglichkeit gibt, unsere Regeln selbst zu machen und die Gesellschaft so zu entwerfen, wie wir sie gut finden, nicht, wie sie nach einem bestimmten ideologischen Regelwerk sein muss.
Das würden Du und ich sofort unterschreiben, die meisten aber nicht.
Hier kann man jetzt den integralen Gedanken ins Spiel bringen, dass das Wohl der ganzen Spirale über dem Wohl eines bestimmten Mems zu stehen hat und kann zu dem Schluss kommen: Coole Idee, leider zu wenig verständige Mitspieler. Und die anderen wollen und müssen auch gefüttert werden, brauchen also ihre Mythen, wie die Luft zum Atmen und sollen sie auch haben, immer mit der doppelten Option, zu versuchen andere aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszuführen und gleichzeitig mit der Klugheit und dem Respekt zu erkennen, wann eine günstiger Zeitpunkt dazu gekommen ist und wann nicht. Wenn jemand nicht kann oder will, soll man ihn in Frieden lassen, denn Entwicklung in Ehren, aber daraus ein Dauerstressprogramm zu machen, ist eine Zwangsbeglückung und m.E. nicht dazu geeignet Leid zu vermindern.

Dies zu tun, also Leid zu vermindern, wäre der ethische Imperativ hinter der Geschichte, aber eben nicht nach einem festen Plan, sondern dynamisch, auf die Kraft und Klugheit derer vertrauend, die dasselbe „Ziel“ verfolgen. Das die Wege und Ziele für den einen im Einzelfall dramatisch anders aussehen können als für den anderen ist Dir vermutlich längst klar.

Gleichzeitig ist das ja auch ein Projekt der je eigenen Entwicklung und kein kalter Dirigismus von Außen, der den anderen die richtige Rolle zuweist. Der beste Schutz davor in dieses verlockende Muster des großen Welterklärers abzurutschen ist m.E. sich selbst in all den Memen verwurzelt zu sehen, in allen Fehlern der anderen die Menschlichkeiten auch zu erkennen, es zu akzeptieren, dass ein nervtötender Lumen immer auch ein Repräsentant des eigenen Schattens ist, sonst könnte er nicht nerven und der Weg nach „oben“, immer der Weg der Umarmung des Ganzen (oben und unten) ist, sonst streift man in narzisstischer Selbstgefälligkeit einfach die Welt ab. Wer die Demut verliert, der hat verkackt, wer im anderen den Buddha nicht erkennt, der ist nicht erleuchtet.

Nanna hat geschrieben:Außerdem glaube ich, dass hinter der liberalen Kritik an Totalitarismen weit mehr Substanz steckt, als man auf den ersten Blick erkennt, weil wir zwar die objektive Verifikation von Prinzipien verloren haben, aber nicht die objektive Negation. Da sind wir ebenfalls wieder bei Popper, der ja zeigt, dass man zwar nicht be-, aber dennoch vieles widerlegen kann. Auf der gesellschaftlichen Ebene heißt das, dass man ebenfalls bestimmte Entwürfe verwerfen kann, etwa solche, die nicht durch Rawls' Schleier des Nichtwissens gehen (etwa weil sie asymmetrisch angelegt sind, wie eben z.B. der Faschismus oder die Sklaverei). Ich war früher immer extrem skeptisch gegenüber negierenden Dekonstruktionen der Gesellschaft eingestellt, weil das eben immer die Frage stellt "wenn nicht dieses, was dann?", aber mittlerweile traue ich diesem Instrument mehr zu, weil es wenigstens Leitplanken gegen den wüstesten Mist aufstellt.
Ja, Kritik hat definitiv einen Selbstwert, aber den nur im Rahmen von Begründungen, das müssen nicht notwendigerweise Verbesserungsvorschläge sein.
Skepsis kann auch zum Trip werden, aber das ist in unseren Sprachspielen im Grunde schon implizit ganz gut verankert. Notorische Fragerei und Zweifel um ihrer selbst willen, nötigen uns dem Skeptiker Fragen zu stellen.

Nanna hat geschrieben:Insofern würde ich z.B. die Menschenrechte, insbesondere die negativen Freiheiten / Abwehrrechte, nicht im emphatischen Sinn als Gegenstand relativistischer Weltdeutungen sehen, sondern eher als grundlegende Spielregeln, die am ehesten den Anspruch auf universale Anerkennung erheben können, weil sie nicht im eigentlichen Sinne Träger positiver Vorschriften sind, sondern mehr ein Steuerprinzip für die Wahrung symmetrischer Verhältnisse darstellen. Ich weiß, dass auch das im strengen epistemologischen Sinn eine Setzung ist, aber es ist zumindest eine, gegen die man verdammt schwer ankommt.
Alles ist eine Setzung. Es geht nicht ohne.
Die Szientisten, die glauben sie würden die Welt wie sie wirklich ist beobachten, sind einfach im Irrtum. Wenn sie diesen Irrtum nicht erkennen sind sie im Irrtum und haben einen Mangel an Reflexionsvermögen. Den Wohlmeinenden kann man helfen, den anderen muss man ihren Irrtum lassen, bis sich vielleicht mal ein Türchen öffnet.

Der andere Punkt ist, dass es bessere und schlechtere Setzungen gibt. Für den zwischenmenschlichen Umgang ist das Ziel Asymmetrien abzubauen m.E. hervorragend.
.
Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Die Konsequenz lautet: Der Mensch braucht verpflichtende Regeln, aber welche ist egal.

Also hier würde ich schon nochmal mit Verweis auf die Negation einhaken: Man kann meines Erachtens bestimmte Regelsystem so begründet verwerfen, dass man fast von einer Quasi-Objektivität sprechen darf (analog zur Falsifikation im Kritischen Rationalismus); irgendwann ist Skeptizismus sonst auch nur noch Gedankenonanie. Insofern glaube ich, dass man Regelsysteme insofern hierarchisieren kann, inwieweit sie grundlegende Qualitätsminima (negative Freiheitsrechte!) erfüllen. Aus dem Pool derer, die da übrig bleiben, kann man sich dann aber meinethalben frei bedienen, da würde ich zustimmen.
Ja, ich meine das hier nur wieder aus meiner Binnenperspektive der Entwicklunsgpsychologie.

Zur latenten Dauerfrage hier im Forum, wie nützlich oder schädlich denn nun z.B. Religionen sind, wäre darauf zu antworten, dass sie einfach ein Trainingsfeld (neben anderen möglichen) darstellen um bestimmte mythisch-konventionelle Strukturen einzuüben, von denen als solche keinerlei Gefahr ausgeht, wenn man es nicht versäumt, diese Strukturen auch wieder zu verlassen.
Meine Kritik an der Religion setzt dann auch genau hier an, dass nämlich Religionen zu oft versuchen, die Gläubigen auf der Stufe der (mythisch-konventionellen) Gläubigkeit festzutackern und den Weg darüber hinaus zu selten aufzuzeigen, wenn nicht aktiv zu behindern.
Ansonsten hätte ich einige inhaltliche Beschwerden, aber strukturell sind Religionen tadellos und haben den Vorteil kulturell bestens eingeübt und bewährt zu sein.

Das es über die Frage der Struktur hinaus auch inhaltlich bessere und schlechtere Angebote gibt, ist unbestritten und im gesellschaftlichen Diskurs ist zu klären, was aktuell gewünscht wird. Zwar droht da immer das Diktat der dumpfen Masse, aber wer das bejammert und sich an den Rand stellt, darf sich dann auch nicht beschweren, wenn über seinen Kopf hinweg entschieden wird.

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Auch hier hilft uns jedoch – parallel zum Geiste der Aufklärung – die (Entwicklungs)Psychlogie: Kurz gesagt, es braucht ein reifes Ich um die Relativität der Normen und Werte verarbeiten und ertragen zu können. Aber das muss man nicht glauben sondern sehen lernen.

Da kann ich mitgehen; allerdings würde ein reifes Ich vermutlich bestimmte Normen wie z.B. einen Grundrespekt gegenüber Anderen intuitiv verfolgen, so dass das reife Ich hier natürlich dem ganzen sowieso schon reichlich Schärfe nimmt.
Ja, weniger als Gleichberechtigung ist da schwer.

Nanna hat geschrieben:Als advocatus diaboli könnte ich da natürlich auch wieder einhaken, dass die Definition eines "reifen Ichs" ebenfalls wieder in der Luft hängt, womit wir uns leider im Kreis gedreht hätten. Wobei ich persönlich das Argument nicht machen würde, weil mir nicht klar ist, wer einen solchen (logisch korrekten, aber praktisch hirnrissigen) Einwand bringen wollen würde.
Ich würde die reife Persönlichkeit an ähnlichen Kriterien festmachen, wie Du, das heißt Einsicht in die prinzipielle Gleichberechtigung aller Menschen, ein versuchsweiser Abbau von Asymmetrien, die zunächst positive Unterstellung den anderen als gutwillig und gleichberechtigt anzusehen, Fähigkeit zur Selbstkritik, sowie die Fähigkeit motivationale Ambivalenzen bei sich und anderen zu sehen und zu tolerieren, d.h. Abbau von Idealisierungen und Hassobjekten.

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Die Frage ist, was tut man dann?
Entwicklung fördern, wo immer es geht. Jeder so, wie er es am besten kann.

Finde ich attraktiv. Ich versuche, wenn ich nicht gerade einen schlechten Tag habe, die Leute meist einigermaßen abzuholen, wo ich denke, wo sie sind, und zu sehen, ob ich ein Stück weit mit ihnen weiter komme. Ist also irgendwie etwas, was ich schon kenne (was mir aber auch noch nicht so häufig gelingt, wie ich mir das wünschen würde; es irrt der Mensch halt doch, so lang er strebt).
Man hat das Recht auf Auszeit, wichtiger scheint mir zu sein, die Momente zu erkennen, in denen man aufmerksam sein muss. Die Gehetztheit des Dauereinsatzes verweist m.E. eher auf eine latente Selbstüberschätzung.
Jeder hat so sein Ding. Ich bin bspw. gut darin, anderen Perspektiven zu zeigen, egal wie verfahren die Situation zu sein scheint, wenn sie wollen. Aber ich bin völlig unfähig mit Menschen zu arbeiten und sie zu motivieren, die nicht wollen. Ich krieg dann direkte Aggressionsschübe, andere haben da eine Geduld, Toleranz und ein Geschick, das ich nur bewundern kann.

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Wie weit darf man einseitig darin gehen, andere Menschen gezielt zu verändern, insbesondere solche, wo nicht qua Elternschaft ein nachvollziehbarer Erziehungsauftrag besteht?
Weit, da die einzig richtige Intention dabei ist, die Engführung des Anfangs, die immer da sein muss und die – wieder Entwicklungspsychologie – auch nicht schadet, immer mehr in die Weite zu führen. Das aufgeklärte Individuum mag nur ein Etappenziel sein, aber es ist immerhin eines, auf das sich alle einigen können. Das viele das als Akt chronischer Nachhilfe missverstehen, verweist auf ihre Ängste und tritt den Gedanken der Aufklärung mit Füßen.
Aber es gibt genügend kluge Menschen, die das mit Leichtigkeit durchschauen. Spielen wir mit denen.

Kann ich mitgehen, erfordert aber eine Menge Verantwortungsbewusstsein.

Ja, sowieso immer.

Ein äußerst schwieriger Punkt Verantwortung zu übernehmen und dann auch die Rübe hinzuhalten. Eine der wesentliche Lektionen, die ich habe lernen müssen, ist es auszuhalten, für andere Menschen, eine gewisse Zeit lang wichtig zu sein. Zunächst kitzelt das natürlich das Ego, aber dann steht man mit einigem Schrecken in der Situation, dass man wirklich wichtig genommen wird. Ich habe normalerweise gerne meine Ruhe und bestimme gerne selbst den Grad an Aufmerksamkeit den ich brauche. Das geht dann nicht immer.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Zappa » Mo 10. Mär 2014, 20:28

Nanna hat geschrieben: Die Grundbedingungen einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft sind nicht abhängig von der Wissenschaft oder der Akzeptanz eines wissenschaftlichen Weltbildes.

Das sehe ich auch so: Das friedliche Zusammenleben hat Priorität vor weltanschaulichen Interpretationsansprüchen (auch wenn sich das schlecht begründen lässt, spielt ja auch in der Rechtstheorie eine Rolle).

Nanna hat geschrieben: Ebenfalls äußerst bedenklich finde ich übrigens, dass Freiheit, Pluralismus etc. gerne so unhinterfragt mit dem wissenschaftlichen Weltbild assoziiert werden, als hätte es nie Beispiele engstirniger, intoleranter, faschistischer, hasserfüllter Wissenschaftler gegeben.

Na ja, bedenklich finde ich das nicht, sondern vor unserem historischen Hintergrund gut nachvollziehbar: Die Aufklärung hatte durch die Wissenschaft einen wesentlichen Impuls. Aber noch einmal: Die gesellschaftlich wichtigen Werte und Freiheiten sehe auch ich politisch als führend an.

Nanna hat geschrieben: Für mich ist in dieser Diskussion die entscheidende, allen anderen Fragen vorgeordnete Frage:
    Wenn ich meine, etwas als "richtig" erkannt zu haben - wie weit glaube ich, dass meine Überzeugungsarbeit gehen darf? Darf ich Andere nötigen, sich mit meinen Ansichten zu beschäftigen? Darf ich sie abwerten oder pathologisieren, wenn sie sich weigern oder mich ignorieren? Für Andere entscheiden, was das "größere Wohl" ist, zu dem ich sie führen möchte?

Die richtige Antwort wäre wohl: Kommt drauf an :mg:

Im Ernst:

  • "Darf ich Andere nötigen, sich mit meinen Ansichten zu beschäftigen?" - Ich denke das Recht Andere mit seinen Eigenen Ansichten zu konfrontieren ist ein sehr wichtiges Minderheitenrecht in Demokratien. Insofern sollte jeder das Recht haben Andere mit seinen Ansichten zu konfrontieren. Eine Nötigung ist natürlich nicht einzufordern.
  • "Darf ich Sie abwerten oder pathologischeren, wenn sie sich weigern mich zu ignorieren?" - Nein, das ist unschön. Aber ironische und satirische Kommentare müssen immer erlaubt sein. Auch hier gilt für mich: Je wenige Mainstream eine Ansicht ist, desto mehr Recht hat jemand sich mit Ironie, Sarkasmus oder ätzender Kritik wehren zu dürfen.
  • "Für Andere entscheiden, was das größere Wohl ist ...?" Im Prinzip nein, diese Art von Paternalismus hat viel Unglück über die Welt gebracht. Die demokratische Methode solche Fragen zu entscheiden ist zwar schlecht, aber alles anderen sind noch schlechter. Allerdings gibt es immer auch paternalistische Komponenten in jedem Entscheidungsprozess: Bei uns dürfen Kinder nicht wählen, geistig Behinderte nicht frei Entscheiden und Demenz haben einen Vormund. Das sind sicher Grenzbereich, aber geregelt werden muss so was auch.

Nanna hat geschrieben:
Zappa hat geschrieben:Alle religiösen Kosmologien sind z.B. krachend gescheitert (um nicht zu sagen widerlegt), die naturwissenschaftliche ist phantastisch differenziert und bringt immer wieder bizarre Vorhersagen hervor, die sich dann auch empirsch begründen lassen (Schwarze Löcher, Gravitationslinsen, Pulsare etc.). Ich kann deshalb eine religiös begründete Kosmologie, als Anteil einer Weltanschauung, nicht wirklich ernst nehmen und fordere die Übernahme der naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Natürlich lediglich mit Argumenten, aber ich finde nicht, dass diese Weltanschauungen gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Ich habe dagegen nichts einzuwenden. Aber was tust du, wenn jemand, der überzeugt religiös ist, sich für deine Argumente nicht interessiert oder sie nicht akzeptiert? Würdest du ihn dann aus Frustration darüber verspotten und verächtlich machen (wie Lumen das meines Erachtens weiter vorne durchaus gefordert hat)?

Auch da kommt es ein bisschen darauf an. Wenn jemand eine politische Agenda hat, die auch mich berührt oder gar mit mir öffentlich diskutiert, hielte ich Spott für ein legitimes Mittel um meine Meinung "durchzusetzen". Im privaten Raum würde ich das niemals machen, zumal wenn ich den Anderen für intellektuell unterlegen hielte. Da sind mir die Persönlichkeitsrechte des Gegenüber wichtiger als mein "Recht" auf Wahrheit.

Nanna hat geschrieben:Sicherlich. Nur entstünde mir ein sehr konkreter Schaden, wenn ich statt im liberalen Westen in einer alttestamentarischen Religionsgesellschaft leben würde, die mich und meinen Clan aus fadenscheinigen Gründen mit Gewalt bedrohen könnte. Da hätte ich dann ein Widerstandsrecht, und ich denke, dass das das wesentliche ist, worum es in dieser Diskussion ging: Was ich Anderen aufnötigen darf an eigenen Ansichten und was nicht. Das hängt eben ganz wesentlich davon ab, ob beide Seiten in der Lage sind, sich gegenseitig in ihrer Andersartigkeit sein zu lassen oder nicht.

Da sind wir ganz einer Meinung, das Widerstandsrecht hängt wesentlich von den Machtverhältnissen ab. Das unterscheidet im Übrigen auch die angloamerikanische "New Atheist" von unserer Position; erstere sind wesentlich stärker in einer Minderheitenposition und vom gesellschaftlichen Mainstream bedroht. Da darf man dann schon mal eher eine argumentative Bazooka auspacken.

Nanna hat geschrieben:Das beinhaltet, einem Anderen die Beschäftigung mit einem Thema nur dann aufzunötigen, wenn es für die Abwendung von Schaden relevant ist.

Darauf könne wir uns gut einigen.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Zappa » Mo 10. Mär 2014, 20:53

Nanna hat geschrieben:
Ernesto Laclau (In: Emancipation(s), S.103f.) hat geschrieben:The universal values of the Enlightment, for instance, do not need to be abandoned, but need, instead, to be presented as pragmatic social constructions and not as expressions of a necessary requirement of reason. ...

Ich stimme diesem Satz umfassend zu, weil er meines Erachtens die Quintessenz unserer epistemologischen und normativen Probleme in eine sowohl intellektuell als auch praktisch einigermaßen befriedigende Richtung überführt.

Da ich viel von Rorty gelesen habe, kommen mir diese Gedanken sehr bekannt vor und ich stimme Ihnen in letzter Konsequenz nicht zu. Der Pragmatismus hat meiner Meinung nach das erhebliche, inhärente Problem nicht zwischen Meinung und Wissen unterscheiden zu können und er hat darüber hinaus (nehme ich mal an) ein Problem damit eine echte Wissenschaftstheorie oder ein Theorie des Wissens formulieren zu können. Die Ideen der Aufklärung sind sicher auch sinnvolle soziale Konstruktionen, insofern als sie ansonsten in einer Gesellschaft nicht hätten überleben können. Sie sind darüber hinaus aber auch insofern "wahr", als eben unabhängig von ihrer sozialen Relevanz (empirisch) belegbar.

Abgesehen davon gibt es natürlich Wechselwirkungen zwischen Erkenntnissen und ihrer sozialen Konstruktion, aber das weist Du sicher besser als ich.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Vollbreit » Mo 10. Mär 2014, 21:16

Zappa hat geschrieben:Die Ideen der Aufklärung sind sicher auch sinnvolle soziale Konstruktionen, insofern als sie ansonsten in einer Gesellschaft nicht hätten überleben können. Sie sind darüber hinaus aber auch insofern "wahr", als eben unabhängig von ihrer sozialen Relevanz (empirisch) belegbar.

Nachfrage, weil ich hier wirklich nicht verstehe, was Du meinst:
Die Ideen des Faschismus sind doch auch empirisch belegbar...!?
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon Lumen » Mo 10. Mär 2014, 22:54

Vollbreit hat geschrieben:Die Ideen des Faschismus sind doch auch empirisch belegbar...!?


Du hast wohl deine Mühen mit den Meta Ebenen. Es gab tatsächllich die Ideen des Faschismus. Die Inhalte sind nicht empirisch belegbar. Ansonsten hat ujmp dann doch noch jemanden zum verkloppen gefunden.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon ujmp » Di 11. Mär 2014, 08:31

Nanna hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Diesen Betrachtungen fehlt zu oft (m.E. aus den gleichen Gründen, warum man klare Kriterien verweigert) der vertikale Aspekt, die Entwicklungshöhe. Man möchte nicht wertend oder gar „faschistoid“ daherkommen, weshalb man die Einteilung in besser und schlechter, gelungen und misslungen, wünschenswert und unerwünscht, höher und nieder, entwickelt und unentwickelt unterlässt.

Das Problem ist hier doch eher, dass man jemanden davon überzeugen muss, warum etwas besser ist, und dann wird es meist kniffelig, wenn man sich nicht in Widersprüche und lückenhafte Argumentationen verwickeln lassen oder Zwang und Manipulation anwenden will. Zappa hat die "Kraft des guten Arguments" angesprochen, damit vollzieht er im Prinzip die zentrale Linie von Habermas nach. Ich finde die voll unterstützenswert, aber was dabei immer das Haar in der Suppe ist, ist, dass man stillschweigend voraussetzen muss, dass beide Parteien sich an den Tisch setzen (wollen und können) und miteinander reden. Wenn man an dem Punkt ist, dass alle bereit sind, miteinander zu reden und gemeinsame Regeln und Ziele zu vereinbaren (die über die grundlegendsten Abwehrrechte gegen Eingriffe in das selbstgestaltete Leben hinausgehen), dann hat man im Prinzip doch schon 80% des Weges geschafft. Aber wie kommt man da hin?

Der Kybernetiker Norbert Wiener unterscheidet Diskurse die der Klärung dienen von denen die der Rechtfertigung dienen:

"The attrition of language may be due to several causes. Language may strive simply against nature’s tendency to confuse it or against willful human attempts to subvert its meaning. Normal communicative discourse, whose major opponent is the entropic tendency of nature itself, is not confronted by an active enemy, conscious of its own purposes. Forensic discourse, on the other hand, such as we find in the law court in legislative debates and so on, encounters a much more formidable opposition, whose conscious aim is to qualify and even to destroy its meaning. Thus an adequate theory of language as a game should distinguish between these two varieties of language, one of which is intended primarily to convey information and the other primarily to impose a point of view against a willful opposition." (N.Wiener, The Human Use of Human Beings)

"Der Antrieb zur Sprache kann verschiedene Ursachen haben. Sprache kann einfach der naturgegebenen Tendenz widerstreben, sie zu verwirren oder absichtlichen Versuchen, ihrer Bedeutungen zu untergraben. Normaler kommunikativer Diskurs, dessen Haubtgegner die entropische Tendenz der Natur selbst ist, steht nicht einem aktiven Feind gegenüber, der sich seiner Ziele bewusst ist. Gerichtlicher Diskurs dagegen, wie wir ihn in gerichtlichen Auseinandersetzungen u.ä. finden, begegnet einer wesentlich beachtlicheren Opposition, deren bewusster Anspruch es ist, Bedeutungen zu bestimmen, sogar sie zu zerstören. So muss eine adäquate Theorie der Sprache als ein Spiel zwischen diesen Varianten des Sprechens unterscheiden, eines, das hauptsächlich Informationen vermitteln will und ein anderes, dass hauptsächlich eine Ansicht vermitteln möchte gegen eine vorsätzliche Gegnerschaft." (N.Wiener, The Human Use of Human Beings, Ü:ujmp)
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon ujmp » Di 11. Mär 2014, 19:31

ujmp hat geschrieben:"and the other primarily to impose a point of view against a willful opposition

"impose" kann man hier wohl auch mit "aufdrängen" übersetzten.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon laie » Mi 12. Mär 2014, 10:26

Zappa hat geschrieben:Die Ideen der Aufklärung sind sicher auch sinnvolle soziale Konstruktionen, insofern als sie ansonsten in einer Gesellschaft nicht hätten überleben können. Sie sind darüber hinaus aber auch insofern "wahr", als eben unabhängig von ihrer sozialen Relevanz (empirisch) belegbar.


Das kann man, wenn ich vor allem den zweiten Satz dieser Aussage richtig deute, wohl auf alle Religionen und Ideologien anwenden. Ob diese sinnvoll sind, weil sie in einer Gesellschaft überlebt haben, ob also der Umstand, dass die Mitglieder an solchen Ideen festhalten und sie tradieren, diese sozio-kulturellen Konstrukte zu sinnvollen macht, möchte ich bezweifeln. Zumindest habe ich dafür die gleichen Gründe, die jemand hat, der einem Gläubigen vorwirft, dieser glaube ja nur, weil alle glauben. Oder noch anders formuliert: dann kannst du, zappa, auch an die unbefleckte Empfängnis und die Auferstehung Christi glauben; denn das glauben über eine Milliarde Menschen. In der Überlebensmetapher ausgedrückt: erfolgreicher geht es schlicht nicht.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon laie » Mi 12. Mär 2014, 11:27

Fundamentalistisch wird es immer dann, wenn man versucht, die Wirklichkeit von den Bildern her zu bestimmen sucht. Das ist m.E. der tiefere Sinn des Bildverbotes: du sollst dir kein Bild machen. Oder, wissenschaftstheoretischer ausgedrückt: du sollst das Modell nicht mit der Realität verwechseln. Ich meine, dass man dieses Bilderverbot ernst nehmen sollte, unabhängig davon, ob man nun Atheist ist oder nicht. Alex z.B., die Figur von Vollbreit, verwechselt pausenlos Bild und Wirklichkeit. Eben darum, weil dieser Alex die Realität einseitig von seinen Modellen her zu bestimmen sucht und behauptet, dies sei der einzige Weg, weil er gar nicht soweit kommt, ein grundsätzliches Problem in Beziehung zwischen Modell und Realität zu sehen, ist er ebenso Fundamentalist wie einer, der sagt, Elia wurde auf einem feurigen Wagen gen Himmel entrückt, weil es in der Bibel stehe.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon ujmp » Fr 14. Mär 2014, 08:09

laie hat geschrieben: In der Überlebensmetapher ausgedrückt: erfolgreicher geht es schlicht nicht.

Es ist immer die Frage, wessen "Erfolg" es ist: des Forstschritts oder des Rückschrittes. Man gebraucht aber die Überlebensmetapher m.E. falsch, wenn man zunehmende Zersetzung, fortschreitenden Rückschritt als "erfolgreich" bezeichnet - das ist schlicht eine Verdrehung. Zerstörung, Verwitterung und Verwesung, Verwirrung und Vergessen - kurz: Entropie - haben nichts mit Überleben zu tun, da ist ja alles das Gegenteil von Leben. Die mühselig erworbenen Modelle der Realität franzen ständig an den Rändern aus, werden verrührt und verknetet in entropisches Geplapper zum Einheitsbrei eines Konsens, der dann "Wahrheit" heißen soll. Hier von "Überleben" zu sprechen ist ja schon ein Beleg dafür. Ich befürchte, dass es über eine Wahrheit gar keinen Konsens geben kann.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon laie » Fr 14. Mär 2014, 15:19

Stimme mit deinem letzten Satz überein, dass Wahrheit ein schwieriges Terrain ist. Auch ein Satz wie: "Ich befürchte, dass es über Wahrheit gar keinen Konsens geben kann" soll m.E. eine Wahrheit ausdrücken, der einen Konsens, also Zustimmung evozieren möchte. Natürlich stellt sich immer die Frage, inwieweit Wahrheit auf Konsens beruht oder beruhen muss.

Bei deinen Ausführungen zur Überlebensmetapher gehst du weiter als ich das mit meinem Einwurf gemeint hatte. Es ist völlig gleichgültig, ob man die Religiosität des Menschen bedauern soll oder nicht: fest steht, dass sich 2,26 Millarden zum Christentum (davon über eine Milliarde Menschen zum Katholizismus) und 1,57 Millarden zum Islam bekennen und in der ein oder anderen Form ausleben. Wenn wir also schon solche soziale Konstruktionen "sinnvoll" (hier Zappa terminologisch folgend) nennen wollen, die bis heute tradiert wurden, dann sind es Religionsgemeinschaften. Dass man deren Lehren als Rückschritt verdammt, darin sehe ich eher einen Akt der Verzweiflung vor der vermeintlichen Dummheit der Menschheit. Vielleicht sollte man einmal von seinem hohen Roß heruntersteigen. Es geht nicht an, etwas erfolgreich zu nennen, was eine hohe Verbreitungsrate aufweist, dann aber etwas rückständig zu nennen, was eben diese Verbreitungsrate aufweist, nur weil es nicht kompatibel zu den eigenen Wertvorstellungen ist. Dann müssen wir eben auf die biologistische Metapher von der cultural fitness verzichten.
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Re: „Atheistischer Fundamentalismus“

Beitragvon ujmp » Fr 14. Mär 2014, 21:15

laie hat geschrieben: Dann müssen wir eben auf die biologistische Metapher von der cultural fitness verzichten.

Man kann schon darüber diskutieren, ob Religion oder Aufklärung Anpassungen darstellen (ich gehe davon aus, dass es klar ist, dass "fittness" im Sinne der Evolutionstheorie "Angepasstheit" bedeutet). Auf den Grad der Verbreitung kommt es aber - da stimme ich dir zu - nicht an. Es kann sogar sein, dass sich eine perfekte Anpassung nicht durchsetzt. Ein intelligenter Hirsch z.B. mit einem kleinen Geweih hätte kaum Chancen, sich zu reproduzieren, da Intelligenz in diesem Punkt bei Hirschen nichts zählt. Was Religion betrifft: Mag sein, dass Religion irgendwann mal einen Fortschritt darstellte, aber das womit wir es heute zu tun haben, ist doch hauptsächlich reaktionär. Das ursprüngliche Bedürfnis, sich an die Welt anzupassen und sie zu erklären ist in ihr degeneriert zum Bedürfnis, sie nur noch zu erklären, und diese Erklärungen halten stand wider alle Erfahrung. Das offene Programm der Wahrheitssuche ist kurzgeschlossen und befriedigt sich selbst. Die Imagination ersetzt die Wirklichkeit.
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