Ich denke, man muss Gandhi in vielen Punkten kritisieren. Man darf ihm aber nicht Unrecht tun, indem man ihn nicht ernst nimmt. So absurd seine Experimente auch waren, so aufrichtig waren sie auch. Es gab aber möglicherweise eine Wendung gegen Ende seines Lebens, die für uns interessant sein könnte.
Ich fasse fünf meiner Beiträge aus einer Diskussion im FGH zusammen:
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Mahatma Gandhi ein Atheist?
Ich habe jetzt wiederholt gehört, Gandhi soll sich gegen Ende seines Lebens als Atheist verstanden haben. Auch in "Stollbergs Inferno" (M.S.S.) wird erwähnt, dass er zunehmend säkularer dachte.
In seiner Autobiografie schreibt Gandhi, er hätte in seiner Jugend kurz einen atheistischen Trend mitgemacht, hätte diese Phase aber hinter sich gelassen. Gandhis politisches Wirken begründet sich zutiefst religiös. Er sah sich als frommen gottgläubigen Hindu und integrierte in seine Weltsicht viele christliche u.a. Elemente (z.B. Bergpredigt). Ergebnis war ein multireligiöses Amalgam, aber kein Atheismus.
Anhaltspunkte sind bisher nur:
1. Gandhis Kampf gegen das indische Kastensystem, die Unberührbarkeit und die (religiös begründete) Unterdrückung der Frau,
2. seine Forderung nach der Trennung von Staat und Religion (um zu vermeiden, das eine Hindu-Mehrheit über eine Moslem-Minderheit herrscht),
3. die Verkehrung seiner frühen Prämisse "god is truth" zu "truth is god" (die man sich vielleicht im Sinne von "Die Wahrheit hat die Funktion Gottes" vorstellen muss).
Im Atheist-Center in Vijayawada legt man viel Wert auf die (eigentlich eher kurze) Bekanntschaft zwischen Gora und Gandhi. Bei meinem Besuch dort vor einigen Jahren wurde der dritte Punkt hervorgehoben. Aber an einen Paradigmenwechsel allein aufgrund einer Wortverdrehung mag ich nicht so recht glauben. Immerhin lässt sich im Nachhinein immer viel hinein interpretieren.
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Interessant in diesem Zusammenhang dürfte [auch] Gandhis eigener Religionsbegriff sein, wie er sich bei Conrad findet (auf das Buch bin ich heute gestoßen):
(...) seine Intention ging beständig weg von der besonderen Religion, ihrer unterschiedlichen Ausprägung und allem, woran das Interesse der Religionspolitiker hing, durch sie hindurch auf ihre Grundbedingung, die er im eigentlichen Sinne Religion nannte. Diese eine Religion - hier deutlichkeitshalber vielleicht wiederzugeben als Religiosität oder Frömmigkeit - hielt er für das wahre religiöse Faktum, gemeinmenschlich wie die Vernunft. (...) Religion in diesem Sinne bedeutete die ständige Relativierung der von ihr selbst hervorgebrachten, unterschiedlichen Ausprägungen, der Religionen also, vor allem aber die Aufhebung ihrer unvernünftigen Antagonismen. (...)
Dieter Conrad (2006): Gandhi und der Begriff des Politischen. Staat, Religion und Gewalt. Wilhelm Fink Verlag München, S. 51-52.
Aber selbst nach Aufhebung bzw. Relativierung der eigenen besonderen hinduistischen Wurzeln war Gandhi immernoch ein Mensch, der sich selbst als religiös, fromm und - wie Du sagst - spirituell betrachtete, sich so äußerte und so handelte. Der Weg zum Atheismus bleibt weit.
Vielleicht hilft es uns, die Gleichsetzung "god is truth" bzw. "truth is god" genauer zu betrachten.
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Ich habe das Buch (Gora: An Atheist with Gandhi) online gefunden:
http://www.positiveatheism.org/india/gora11.htm#TOPAus Chapter X: Gandhi's God (Hervorhebungen von mir):
(...) The assassination of Gandhiji meant a terrible loss to civilization; it is as much a loss to atheism. I was eagerly looking forward to the opportunity to discuss atheism with him at length. I was already close to him. The discussion would have taken me closer. This I say with confidence because of my experience with him. He had not been averse to my atheism nor did his god scare me away. He appreciated a principle far more for its efficacy than for its mere academic or intellectual considerations. His primary concern was humanity. On account of this deep concern, he could proclaim boldly: "I can neither say my theism is right, nor your atheism is wrong." (...)
To quote another instance: (...) "I seek for the fulfilment of my pledge the assistance of that which we may or may not call divine but we all feel within us. He (referring to me) can have the above as an alternative. All true atheists know that there is some power within them."
Of course, the outlook of the atheist is quite different from what Gandhiji evidently took it to be when he stated, "all atheists know that there is some power within them." Really, atheism is the manifestation of the free will in man. The hypotheses of "some power which we may or may not call divine", subordinates human life to that power and thereby leads to theism again. So the alternative which Bapuji gave to the Congress pledge, did not satisfy the principles of atheism.
Apart from the consideration whether the alternative which was offered by Gandhiji to the congress pledge was theistic or atheistic in nature, it was noteworthy that he moved from 'God' to 'some power which may or may not be divine' in order to accommodate me. So, I think, what was important to him was not so much the concept of god, but how far the belief or non-belief in god contributed to the commonweal. It was, perhaps, with this view that he agreed to drop the mention of god from the form of my daughter's marriage; he allowed my son-in-law to sit at the prayers without reciting the verses; he called himself a super-atheist and he wished the communities took to atheism if that 'served to stop communal hatred and riot'.
From 'Raghupati Raghava' to atheism might seem a wide leap. But to Bapuji who was pre-eminently a practical humanitarian, it was simple to negotiate where and when he felt the interests of humanity needed it. Within my knowledge, there was visible change in his attitude towards atheism between 1941 and 1948. In his letter to me dated 11-9-'41, he said, "Atheism is a denial of self. No one has succeeded in its propagation." But by 1946, while stating emphatically the difference between him and me, he was willing to leave to the future to judge whether the theistic or the atheistic thought was better. In 1948, he agreed to perform the marriage of my daughter dropping out the reference to god from the form of the ceremony.
Thus Bapuji's mind was "ever growing, ever moving forward". (Harijan, 28-7-'48 ). He was moving humanity and he was moving with humanity. He started with a humanity that believed in god of the 'Raghupati Raghava' type. As he pushed forward, he passed through the stages of 'God is Truth' and 'Truth is God'. He never allowed old forms to hamper the progress. If he felt that the progress of humanity required leaving god altogether, I am sure, he was not the man to hesitate. (...)
Gandhis Beurteilung des Atheismus hat sich also gewandelt. Gandhi war kein Dogmatiker, sondern Praktiker. Wann immer etwas dem sozialen Fortschritt im Wege stand, war er bereit, es zu überwinden. Ob Goras Prognose, dass Gandhi dafür tatsächlich auch den Glauben an Gott aufgeben würde, sich bewahrheitet hätte, wissen wir nicht. Gandhi wurde ja 1948 ermordet - bei einem Gebet übrigens.
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Man könnte versuchen, die Etappen der Veränderung seines Glaubens nachzuzeichnen:
1. Gandhi als frommer Hindu, der er - formell - bis ans Ende seines Lebens geblieben ist.
2. Gandhi als Hindu, der Elemente anderer Religionen in seinen Glauben integriert ("multireligiöses Amalgam"). Gandhi hat sich schon sehr früh von Christen und westlichen Denkern beeinflussen lassen. Aber auch Auseinandersetzung mit dem Koran, dem Buddhismus, dem Sikhismus etc. ...
3. Gandhi, der die konkrete Ausprägung der spezifischen Religionen zugunsten eines allgemein-grundlegenden Religionsbegriffs relativiert (Religion heißt nur noch Frömmigkeit, Religiosität, Spiritualität).
4. Gandhi, der Religion daran misst, ob sie dem Ziel des sozialen Fortschritts dient oder nicht, der also (möglicherweise) bereit ist, den Glauben an Gott zugunsten eines "positiven Atheismus" aufzugeben, wenn es dem Frieden dient.
Der Gottesbegriff, den Gandhi dabei hatte, musste diese Wandlungen überstehen, also universal sein. Die Gleichsetzung Gottes mit Wahrheit (wie auch immer das zu verstehen ist, vermutlich pantheistisch) scheint dafür geeignet zu sein. Und im Fall einer Annahme des Atheismus lässt sich die Gleichung galant verkehren, indem die Wahrheit als höchstes Gut an den Anfang gestellt wird.
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[...] [Es] ist anzunehmen, dass gerade die Offenheit des Hinduismus die weitere Entwicklung von Gandhis Religionsverständnis erst möglich machte.
Ohne also einen Widerspruch aufzeigen zu wollen, kann (und muss) man feststellen, dass sich Gandhi vom Hinduismus emanzipiert hat, so weit, dass fundamentale Hindus ihn deswegen (und natürlich auch wegen seiner darauf aufbauenden Politik) schließlich ermordeten.
Sein Gottesbegriff mag bis zu seiner Auseinandersetzung mit Gora tatsächlich keinen Kratzer abbekommen haben. Wo Gandhi aber Gora gegenüber offen den Atheismus erwägt, stellt er Gott (gleich welcher Art) radikal in Frage. An dieser Stelle muss er sich erklären: Entweder muss er zugeben, sich sein ganzes Leben in der Annahme der Existenz Gottes bzw. des Göttlichen geirrt zu haben. Oder er sagt, er hätte immer schon die Wahrheit alles Seienden, das Immanente verehrt und angebetet ("truth is god").