stine hat geschrieben:Hast du persönlich bei deinem Oststudium auch mal mit Frauen gesprochen? Und in welcher Zeit war das denn eigentlich?
Ich war zuletzt 2010 in Damaskus, da habe ich auch mit Frauen gesprochen, wenn allerdings auch nicht mit vielen. Ich habe hier schonmal die Story von den beiden Jemenitinnen erzählt, die mich und einen Freund mitten in der Umayyadenmoschee in ein lockeres Gespräch verwickelt haben. In dem Augenblick sind sämtliche Vorurteilsreste gegenüber "Kopftuchmädchen" in mir zusammengebrochen. Auch sonst habe ich natürlich eher mit emanzipierten Frauen gesprochen. Das Elend der daheim eingepferchten Frauen, die vom Rumsitzen, Kochen und Frustessen mit Mitte 40 aussehen wie, naje, der Silouette der hochgeschlossenen Mäntel nach zu schließen jedenfalls nicht mehr schön, kriegt man natürlich am Rande auch mit.
Was ich auch gesehen habe waren die teilweisen Versuche der Jugendlichen, die regionale Tradition und die westliche Globalkultur, der die da mittlerweile auch ziemlich hemmungslos ausgesetzt sind, irgendwie unter einen Hut zu bringen. Kopftuch kombiniert mit knappen Röcke, Händchenhalten in der Öffentlichkeit (war da vor zehn Jahren noch undenkbar), Mädchen und Jungen abends zusammen im Shishacafé, da sind alles so zarte Versuche einen moderneren Lebensstil zu pflegen, ohne die traditionellen Vorstellungen der Eltern zu sehr zu verletzen.
stine hat geschrieben:Ich würde nämlich (pauschal) behaupten, dass Nahostländer wie der Iran oder jetzt sogar die Türkei eher zurück- als vorwärtsrudern. Unter Umständen sind deine eigenen Beobachtungen schon längst überholt und eine Aussage von 1978 ist derart veraltet, dass sie im Koran stehen könnte.
Saids Kritik an der westlichen Kulturraumkonstruktion ist so aktuell wie eh und je, damit hat die konkrete politische Entwicklung in den einzelnen Ländern gar nichts zu tun. Das pauschalisierende, fiktive Abgrenzungen ziehende und Gegensätze erfindende westliche Orientbild wird ja nicht richtiger, weil da jetzt Islamisten oder Liberale gerade die Oberhand haben.
Ob Iran oder Türkei Fortschritte oder Rückschritte machen, würde ich nicht auf einer eindimensionalen Skala ablesen. Die urbanen Zentren beider Länder entwickeln sich kulturell und sozial rapide in Richtung westlicher Muster, das werden auch die Islamisten nicht ändern können, solange die Wirtschaft funktioniert, dadurch Rationalisierung stattfindet und dadurch wiederum die Gesellschaft fragmentiert. Politisch sind beide auf einer schiefen Ebene. Beim Iran hat das mit der Dominanz der Hardliner im Regime zu tun, die sich selbst und das Land sauber ins Aus manövrieren, im Falle der Türkei hat nicht zuletzt Erdogans erratischer Charakter dazu beigetragen, dass viel politisches Porzellan zerschlagen wurde. Aber gerade im Falle der Türkei sehe ich die Zukunft tendentiell recht positiv, wobei man noch viele Jahre Geduld haben werden muss.
stine hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:...herablassende Pauschalisierungen finde ich deplatziert.
Was das Herablassende betrifft, so kenne ich niemanden, der herablassender wäre als die orientalische Männerwelt gegenüber den westlichen Frauen. Beleidigungen sind an der Tagesordnung und von Respekt keine Spur. Und da ist es ziemlich egal, ob Elite oder nicht. Wenn das nicht einer nahöstlichen Leitkultur geschuldet ist, wem oder was dann?
Naja nun, das ist halt das Problem an Pauschalisierungen. Es gibt, das habe ich auch erlebt, viele Männer, die tatsächlich ein infantiles Machogehabe gegenüber Frauen an den Tag legen. Ich bin mal nachts um eins mit einer blonden Kommilitonin die Bagdadstraße entlanggezogen, meine Herrn, das war vielleicht ein Hupkonzert. Andererseits habe ich auch viele (!) Männer kennengelernt, die eher dem Typus guter Kumpel entsprachen, den man auch in Deutschland pulkweise in jeder Kneipe finden kann. Der Bildungsgrad spielt da übrigens durchaus eine Rolle.
Gibt es nun eine nahöstliche Leitkultur, die daran schuld ist? Naja, schon irgendwie. Und klar haben die in punkto Emanzipation noch verdammt viel vor sich. Andererseits haben wir Westler am Selbstbild des Orients auch ziemlich mitgestrickt, ohne uns dessen bewusst zu sein. Allein ein Blick in die Werbung, die auf arabischen Sendern läuft, offenbart, wie tief sich da orientalistische Meme eingeschlichen haben. Und wenn ich heute lese, dass in Libyen Araber behaupten, dass die Araber nicht demokratiefähig wären und einen starken Führer an der Staatsspitze bräuchten, dann geschieht das auch deshalb, weil wir denen solches Geblubber jahrzehntelang vorgebetet haben.
stine hat geschrieben:Niemand wird den arabischen Ländern ihre Kultur absprechen - selbstverständlich haben sie eine lange Tradition, wie in 1001 Nacht. Das wars dann aber schon.
Nein, das war's eben noch nicht. In der islamischen Ideengeschichte des Mittelalters gibt es eine Reihe rationalistischer Schulen, die direkt auf die griechische Philosophie zurückgehen. Hätten die sich damals etwas mehr getraut, wären die Araber vielleicht mit der Aufklärung 200 Jahre vor uns dran gewesen. In der Neuzeit und in der Moderne haben sich ziemliche Verkrustungen im Denken dort eingeschlichen, ja, das stimmt. Hat aber auch wieder damit zu tun, dass Timur Läng im Mongolensturm die gesamte arabische Zivilisation gründlich auseinandergenommen hat und anschließend die europäischen Weltentdecker mit ihren Schiffsrouten die Seidenstraße abgewürgt und damit den blühenden Karawanenhandel kassiert haben. Im 19. Jahrhundert gab es umfassende Reformbewegungen, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt unter dem Eindruck andauernden westlichen Imperialismus von den islamistischen Bewegungen abgelöst wurden, die ihrerseits erst ab den 1970ern mit Sayyid Qutbs "Milestones" so richtig Fahrt aufgenommen haben.
Mir geht es nicht um eine Rundumapologetik der arabischen Kultur(en), aber zu behaupten, die hätten außer 1001 Nacht nichts auf die Reihe bekommen, ist weit weg von der Realität. Zumal 1001 ein indisch-persisches Werk ist, kein arabisches.
stine hat geschrieben:Die großen Barbareien sind weder typisch westlich noch typisch östlich, sie sind eher typisch menschlich.
Zumindest da sind wir uns einig.
laie hat geschrieben:Die Behauptung, dass "der Laizismus in der Türkei, in Syrien und bis vor kurzem noch in Ägypten viel intensiver verfolgt worden sei al in Polen", kann ich darum nicht nachvollziehen. In keinem dieser Länder wurde der Laizismus verfolgt. Aber vielleicht habe ich dich nicht richtig verstanden.
Ich glaube, "verfolgen" kann man hier doppeldeutig verstehen. Ich habe es nicht als Verfolgung im Sinne von Unterdrückung gemeint, sondern als Verfolgen einer politischen Strategie. Was ich sagen wollte, ist, dass die besagten Länder teilweise starke laizistische Politik betrieben haben und dass sie damit in diesem Punkt manchem westlichen Staat näher stehen als z.B. den Golfmonarchien oder dem Iran.
Lumen hat geschrieben:Ich würde dir dahingehend zustimmen, dass Ländergrenzen nicht der entscheidenden Faktor sind, aber wohl Region und Lebensumstände. Menschen in Nordeuropa die in einem Dorf am Meer wohnen sind sich wohl ähnlicher als Menschen im gleichen Land aber in einer anderen Region, oder in ganz anderen Umständen (z.B. Großstadt).
Man muss hier sehr gut aufpassen, wie man genau argumentiert. Wenn man behauptet, dass eine bestimmte Landschaft den Menschenschlag prägen würde, der dort lebt, argumentiert man mit Naturdeterminismus, den die Sozialgeographie schon in den 1970ern versenkt hat. Aber natürlich gibt es dörfliche und städtische Kulturen und häufig ist der Stadt-Land-Gegensatz tatsächlich stärker ausgeprägt als der kulturelle Gegensatz zweier Nationen. Wichtig ist, im Hinterkopf zu behalten, dass Kulturen letztlich etwas Menschengemachtes und hochgradig variabel und dynamisch sind. Die Idee statischer Kulturen, die irgendwie schon immer da waren, ist jedenfalls Quatsch. Ein Europäer, der ins 16. Jahrhundert reisen, aber am selben Ort bleiben würde, hätte keinen Plan, was da vor sich geht.
Insofern sehe ich die Idee der europäischen Einigung auch nicht als derart widersprüchlich an. Wenn man natürlich davon ausgeht, dass da statische Kulturen zwangsassimiliert werden, kommt man in Erklärungsnöte. Wenn man aber aus der Geschichte lernt, dass Staatsgründungen häufig im Staatsgebiet zu automatischer kultureller Homogenisierung geführt hat, wird das schon unproblematischer. Ist die EU ersteinmal als politisch zusammengehörender Raum gedacht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Bürger sich an diesen neuen Gegebenheiten ausrichten und im Jahr 2100 die Idee, dass Europa NICHT zusammengehören könnte, unverständiges Kopfschütteln auslösen würde.