Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

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Beitragvon Nanna » Mo 20. Feb 2012, 13:41

Fortführung der Diskussion, die in Wer wäre ein geeigneter Bundespräsident? entsprungen ist:

stine hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Stell dir vor, ein von der Türkei entsendeter und bezahlter Imam würde durch eine seltsame Begebenheit Bundespräsident. Die Frage, ob da nicht einer Diener zweier Herren ist, würde sicherlich mit ungekannter Schärfe gestellt werden.
Ja ganz sicher, aber die Schärfe wäre nicht deshalb angebracht, weil er Imam wäre, sondern weil seine religiöse Kultur eine ganz andere wäre, als die unsere.

Ach du Schande, dass du derart offen auf den Knochen anspringst, hätte ich jetzt nicht gedacht. ;-)
Es geht übrigens nicht darum, dass er Imam wäre, sondern, dass er eine Brücke zwischen zwei Apparaten darstellt und damit ein potentielles Einfallstor für die Einmischung eines Apparates in die inneren Angelegenheiten des anderen - wobei die Kirchen das Pech haben, dass der Staat sich in ihre inneren Angelegenheiten einmischen darf, sie das aber nicht umgekehrt tun dürf(t)en. Mit Einmischen meine ich hier nicht simples Kommentieren irgendwelcher Politiken, sondern das ganz konkrete Einwirken über Verwaltungskanäle etc.

stine hat geschrieben:Wahrscheinlich gibt es sogar weltweit keine größeren Kulturunterschiede als die, zwischen christlichem Abendland und muslemischen Morgenland. Das ist ein Sprung aus der Neuzeit ins Mittelalter - eine Zeitreise sozusagen.
Wir sind doch hierzulande dem Laizismus näher als wir denken, davon kann man im nahen Osten nur träumen (sofern man das möchte).

Na, wenn das nicht die Pauschalisierung des Monats ist.

Ein Südspanier hat tendentiell kulturell mehr mit einem Marrokaner gemein als mit einem Norweger, ein Süditaliener mehr mit einem Griechen als einem Briten, ein katholisches Dorf in Bayern vom Grad der Religiosität und Traditionalität mehr mit Malta, dem ländlichen Polen, der Türkei und Ägypten als mit München Innenstadt, das seinerseits in seiner urbanen Kultur wieder viel mehr mit Berlin, Paris und Istanbul gemein hat. Auch Frankreich und Deutschland haben trotz geografischer Nähe relativ starke kulturelle Unterschiede, beispielsweise haben die meisten Teile Frankreichs mehr mit Québec gemein als mit Schwaben und die Bretagne mehr mit Irland als mit dem Balkan.

Der Laizismus ist in der Türkei, in Syrien (naja, noch) und bis vor kurzem in Ägypten viel intensiver verfolgt worden als in Polen, sicherlich durch eine diktatorische Elite, die damit auch eigene Ziele verfolgte und nicht durch die breite Bevölkerung getragen, aber dass die Bevölkerung eher kirchenkritisch eingestellt ist, ist auch in Deutschland erst eine ehr junge Erscheinung. In Polen und Russland, beides christlich-konservative Kerngebiete, ist man ähnlich religiös wie in der Türkei, nur dass man eine etwas andere Version der im Kern auf derselben Kultur fußenden Offenbarungsschrift benutzt.

Dieser angebliche Orient-Okzident-Gegensatz ist schon 1978 von Edward Said als billiges koloniales Konstrukt entlarvt worden, mit der der rationale Westen als leuchtendes Gegenbeispiel gegenüber dem irrationalen Osten hochstilisiert wurde, alles Folge des eurozentrischen Weltbildes der Kolonialzeit, in der man solche Rechtfertigungen gebraucht und auch selbst geglaubt hat. Wer sich mal mit arabischer Geschichte auseinandergesetzt hat (was ich von mir behaupten kann), der weiß, dass vieles von der angeblichen kulturellen Rückständigkeit des Orients heillos übertrieben ist. Der Gegensatz lag, mit Ausnahme von größeren Teilen der Aufklärung, die in Europa aber auch immer eine Elitensache war und es im Grunde auch heute noch ist, fast durchgehend in technischer Überlegenheit, nicht in kultureller. Die größten Barbareien der Geschichte wurden durch den zivilisierten Westen begangen, der mit seinem Zivilisationsprozess den Entwicklungen auch immer Jahrzehnte hinterherhängt, so wie heute die muslimisch geprägten Nationen auch.
Konstruktive Kritik an den Verhältnissen im Nahen Osten (schon wieder so ein ego eurozentrischer Begriff) ist sicherlich angebracht und nützlich, herablassende Pauschalisierungen finde ich deplatziert. Auch uns ist die Demokratie von amerikanischen Panzern serviert worden...
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon stine » Mo 20. Feb 2012, 14:06

Nanna hat geschrieben:Ach du Schande, dass du derart offen auf den Knochen anspringst, hätte ich jetzt nicht gedacht. ;-)

Gerne, ich hab grade etwas Zeit! :^^:

Nanna hat geschrieben:...alles Folge des eurozentrischen Weltbildes der Kolonialzeit, in der man solche Rechtfertigungen gebraucht und auch selbst geglaubt hat.
Wie schön, dass das schon jemand genauer untersucht hat. Hast du persönlich bei deinem Oststudium auch mal mit Frauen gesprochen? Und in welcher Zeit war das denn eigentlich?
Ich würde nämlich (pauschal) behaupten, dass Nahostländer wie der Iran oder jetzt sogar die Türkei eher zurück- als vorwärtsrudern. Unter Umständen sind deine eigenen Beobachtungen schon längst überholt und eine Aussage von 1978 ist derart veraltet, dass sie im Koran stehen könnte.

Nanna hat geschrieben:...herablassende Pauschalisierungen finde ich deplatziert.
Was das Herablassende betrifft, so kenne ich niemanden, der herablassender wäre als die orientalische Männerwelt gegenüber den westlichen Frauen. Beleidigungen sind an der Tagesordnung und von Respekt keine Spur. Und da ist es ziemlich egal, ob Elite oder nicht. Wenn das nicht einer nahöstlichen Leitkultur geschuldet ist, wem oder was dann?

Nanna hat geschrieben:Wer sich mal mit arabischer Geschichte auseinandergesetzt hat (was ich von mir behaupten kann), der weiß, dass vieles von der angeblichen kulturellen Rückständigkeit des Orients heillos übertrieben ist. Der Gegensatz lag, mit Ausnahme von größeren Teilen der Aufklärung, die in Europa aber auch immer eine Elitensache war und es im Grunde auch heute noch ist, fast durchgehend in technischer Überlegenheit, nicht in kultureller. Die größten Barbareien der Geschichte wurden durch den zivilisierten Westen begangen, der mit seinem Zivilisationsprozess den Entwicklungen auch immer Jahrzehnte hinterherhängt, so wie heute die muslimisch geprägten Nationen auch.

Niemand wird den arabischen Ländern ihre Kultur absprechen - selbstverständlich haben sie eine lange Tradition, wie in 1001 Nacht. Das wars dann aber schon. Um westlichem Fortschritt zu folgen werden mal schnell ein paar Wolkenkratzer in den Sand gebaut oder Inseln für Millionäre aufgeschüttet, aber mit einem kulturellen Wandel hat das nichts zu tun.
Die großen Barbareien sind weder typisch westlich noch typisch östlich, sie sind eher typisch menschlich.

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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon laie » Mo 20. Feb 2012, 15:31

Nanna hat geschrieben:Der Laizismus ist in der Türkei, in Syrien (naja, noch) und bis vor kurzem in Ägypten viel intensiver verfolgt worden als in Polen, sicherlich durch eine diktatorische Elite, die damit auch eigene Ziele verfolgte und nicht durch die breite Bevölkerung getragen, aber dass die Bevölkerung eher kirchenkritisch eingestellt ist, ist auch in Deutschland erst eine ehr junge Erscheinung. In Polen und Russland, beides christlich-konservative Kerngebiete, ist man ähnlich religiös wie in der Türkei, nur dass man eine etwas andere Version der im Kern auf derselben Kultur fußenden Offenbarungsschrift benutzt.


Ich dachte, in der Türkei gebe es seit Atatürk eine strikte Trennung von "Kirche und Staat", die erst jetzt ein wenig gelockert wird. Das türkische Militär hat sich stets als Wächterin dieser Trennung verstanden und oft genug geputscht, wenn sie diese in Gefahr sah. Im Augenblick hat allerdings Erdogan den Poker für sich entschieden.

Gleiches scheint für Ägypten unter Mubarak zu gelten: die islamische Bruderschaft fühlte sich unterdrückt, nicht der "laizistische Ägypter". Und in Syrien haben wir es mit einem Regime zu tun, das historisch in der Baath-Partei wurzelt. Und die definiert sich gerade über eine Trennung zwischen "Kirche und Staat".

Die Behauptung, dass "der Laizismus in der Türkei, in Syrien und bis vor kurzem noch in Ägypten viel intensiver verfolgt worden sei al in Polen", kann ich darum nicht nachvollziehen. In keinem dieser Länder wurde der Laizismus verfolgt. Aber vielleicht habe ich dich nicht richtig verstanden.

Dem Rest kann ich vorbehaltslos zustimmen. Als ergänzende Lektüre Immanuel Wallersteins "Wo beginnt der Orient?" Aber diesen Aufsatz dürftest du (Nanna) ohnehin kennen.
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon laie » Mo 20. Feb 2012, 16:50

zur Völkerverständigung:




und

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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon stine » Mo 20. Feb 2012, 17:56

Von einer Dichotomie zu sprechen finde ich ja auch etwas sehr auf die Spitze getrieben.
Aber in einigem klafft halt ein Tal zwischen den Bergen.
Das tiefste Tal dürfte das Tal der Frauen und der Familienplanung sein.

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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon Lumen » Mo 20. Feb 2012, 23:24

Ich würde dir dahingehend zustimmen, dass Ländergrenzen nicht der entscheidenden Faktor sind, aber wohl Region und Lebensumstände. Menschen in Nordeuropa die in einem Dorf am Meer wohnen sind sich wohl ähnlicher als Menschen im gleichen Land aber in einer anderen Region, oder in ganz anderen Umständen (z.B. Großstadt). Außerdem hatte Kultur offenbar so etwas wie eine "Verbreitungsgeschwindigkeit", da konnten im historischen Sinne "plötzlich" auftauchende Grenzen und nationale Identitäten zwar einen Einfluss ausüben, aber Land, Leute und Lebensumstände wurden von abstrakten Ideen wie einem "Deutsche", oder "Europäer" wohl kaum verändert.

Daher würde ich sagen, dass es "harte" Grenzen in der dargestellten Weise nicht gibt. Der wortkarge protestantische Friese, der Nachmittags von seinem ollen Nebelacker kommt und einen Tee in der Stube trinkt ist dem Dänen, Holländer und Engländer sicherlich näher als dem katholischen Bayern, der bei reichlich Bier und Wildbret seine Gäste empfängt. Und Paris und Hamburg mögen sich ähnlicher sein, als Hamburg und ein Dorf am Siel ein paar Kilometer westlich.

Es ist in der Tat ein fließender Übergang von Ost nach West und Nord nach Süd und nochmal nach Lebensumständen sortiert, wo schon innerhalb von Deutschland der Wandel bemerkbar ist. Aber das bedeutet auch, dass vielleicht keinen systematischen Unterschied zwischen Morgen- und Abendland gibt, wohl aber wenn die jeweiligen "Durchschnitte" gegeneinander gestellt werden. Ja, zum Abendland gehört auch Bulgarien und ein Teil der Türkei. Zum Morgenland gehört der andere Teil der Türkei und auch Israel. Aber Norweger und Schweden auf der einen Seite, und Saudis und Iraner auf der anderen versauen den Schnitt erheblich meiner Meinung nach.

Ich finde auch die europäische Idee latent hanebüchen. Latent nur deshalb weil ich mir vorstellen kann, dass durch die fließenden Übergänge jede Einteilung unmöglich ist. In Bayern, Tschechien und Österreich gibt es gewisse kulturelle Ähnlichkeiten, und zwischen Tschechien zur Slowakei usw. und die Kette geht dann so weiter--eigentlich bis man irgendwann in Kamtschatka angekommen ist. Das macht die europäische Idee einerseits plausibel, andererseits führt es sie ad absurdum. Denn Europa ist ja selber eine relativ willkürlich abgeschlossene Fläche.

Umgekehrt, wäre die Idee eines "Nordeuropas" und eines "Südeuropas" (und vielleicht noch Ost- und Westeuropas) für mich auch plausibel, denn es ist ja so, dass zwar auch die gefühlte Nähe von Bayern nach Norditalien über Tirol geringer ist als hoch zu den Friesen und Dänen, dann aber erscheint es mir so, als läge das bloß an der relativen Position eines Deutschen, in welchen Teil Europas sie Deutschland einordnen würde.

Jedenfalls scheint es politisch schon große Differenzen zwischen Nord und Südeuropa zu geben, die sich in Teilen des "Morgenlandes" wiederholen. Trotzdem ist Israel nicht wie Norwegen und Süditalien nicht wie Saudi-Arabien.

Ich hoffe inständig, jemand steigt durch meine Gedankensprünge durch. :irre:
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon Nanna » Di 21. Feb 2012, 00:46

stine hat geschrieben:Hast du persönlich bei deinem Oststudium auch mal mit Frauen gesprochen? Und in welcher Zeit war das denn eigentlich?

Ich war zuletzt 2010 in Damaskus, da habe ich auch mit Frauen gesprochen, wenn allerdings auch nicht mit vielen. Ich habe hier schonmal die Story von den beiden Jemenitinnen erzählt, die mich und einen Freund mitten in der Umayyadenmoschee in ein lockeres Gespräch verwickelt haben. In dem Augenblick sind sämtliche Vorurteilsreste gegenüber "Kopftuchmädchen" in mir zusammengebrochen. Auch sonst habe ich natürlich eher mit emanzipierten Frauen gesprochen. Das Elend der daheim eingepferchten Frauen, die vom Rumsitzen, Kochen und Frustessen mit Mitte 40 aussehen wie, naje, der Silouette der hochgeschlossenen Mäntel nach zu schließen jedenfalls nicht mehr schön, kriegt man natürlich am Rande auch mit.

Was ich auch gesehen habe waren die teilweisen Versuche der Jugendlichen, die regionale Tradition und die westliche Globalkultur, der die da mittlerweile auch ziemlich hemmungslos ausgesetzt sind, irgendwie unter einen Hut zu bringen. Kopftuch kombiniert mit knappen Röcke, Händchenhalten in der Öffentlichkeit (war da vor zehn Jahren noch undenkbar), Mädchen und Jungen abends zusammen im Shishacafé, da sind alles so zarte Versuche einen moderneren Lebensstil zu pflegen, ohne die traditionellen Vorstellungen der Eltern zu sehr zu verletzen.

stine hat geschrieben:Ich würde nämlich (pauschal) behaupten, dass Nahostländer wie der Iran oder jetzt sogar die Türkei eher zurück- als vorwärtsrudern. Unter Umständen sind deine eigenen Beobachtungen schon längst überholt und eine Aussage von 1978 ist derart veraltet, dass sie im Koran stehen könnte.

Saids Kritik an der westlichen Kulturraumkonstruktion ist so aktuell wie eh und je, damit hat die konkrete politische Entwicklung in den einzelnen Ländern gar nichts zu tun. Das pauschalisierende, fiktive Abgrenzungen ziehende und Gegensätze erfindende westliche Orientbild wird ja nicht richtiger, weil da jetzt Islamisten oder Liberale gerade die Oberhand haben.

Ob Iran oder Türkei Fortschritte oder Rückschritte machen, würde ich nicht auf einer eindimensionalen Skala ablesen. Die urbanen Zentren beider Länder entwickeln sich kulturell und sozial rapide in Richtung westlicher Muster, das werden auch die Islamisten nicht ändern können, solange die Wirtschaft funktioniert, dadurch Rationalisierung stattfindet und dadurch wiederum die Gesellschaft fragmentiert. Politisch sind beide auf einer schiefen Ebene. Beim Iran hat das mit der Dominanz der Hardliner im Regime zu tun, die sich selbst und das Land sauber ins Aus manövrieren, im Falle der Türkei hat nicht zuletzt Erdogans erratischer Charakter dazu beigetragen, dass viel politisches Porzellan zerschlagen wurde. Aber gerade im Falle der Türkei sehe ich die Zukunft tendentiell recht positiv, wobei man noch viele Jahre Geduld haben werden muss.

stine hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:...herablassende Pauschalisierungen finde ich deplatziert.
Was das Herablassende betrifft, so kenne ich niemanden, der herablassender wäre als die orientalische Männerwelt gegenüber den westlichen Frauen. Beleidigungen sind an der Tagesordnung und von Respekt keine Spur. Und da ist es ziemlich egal, ob Elite oder nicht. Wenn das nicht einer nahöstlichen Leitkultur geschuldet ist, wem oder was dann?

Naja nun, das ist halt das Problem an Pauschalisierungen. Es gibt, das habe ich auch erlebt, viele Männer, die tatsächlich ein infantiles Machogehabe gegenüber Frauen an den Tag legen. Ich bin mal nachts um eins mit einer blonden Kommilitonin die Bagdadstraße entlanggezogen, meine Herrn, das war vielleicht ein Hupkonzert. Andererseits habe ich auch viele (!) Männer kennengelernt, die eher dem Typus guter Kumpel entsprachen, den man auch in Deutschland pulkweise in jeder Kneipe finden kann. Der Bildungsgrad spielt da übrigens durchaus eine Rolle.

Gibt es nun eine nahöstliche Leitkultur, die daran schuld ist? Naja, schon irgendwie. Und klar haben die in punkto Emanzipation noch verdammt viel vor sich. Andererseits haben wir Westler am Selbstbild des Orients auch ziemlich mitgestrickt, ohne uns dessen bewusst zu sein. Allein ein Blick in die Werbung, die auf arabischen Sendern läuft, offenbart, wie tief sich da orientalistische Meme eingeschlichen haben. Und wenn ich heute lese, dass in Libyen Araber behaupten, dass die Araber nicht demokratiefähig wären und einen starken Führer an der Staatsspitze bräuchten, dann geschieht das auch deshalb, weil wir denen solches Geblubber jahrzehntelang vorgebetet haben.

stine hat geschrieben:Niemand wird den arabischen Ländern ihre Kultur absprechen - selbstverständlich haben sie eine lange Tradition, wie in 1001 Nacht. Das wars dann aber schon.

Nein, das war's eben noch nicht. In der islamischen Ideengeschichte des Mittelalters gibt es eine Reihe rationalistischer Schulen, die direkt auf die griechische Philosophie zurückgehen. Hätten die sich damals etwas mehr getraut, wären die Araber vielleicht mit der Aufklärung 200 Jahre vor uns dran gewesen. In der Neuzeit und in der Moderne haben sich ziemliche Verkrustungen im Denken dort eingeschlichen, ja, das stimmt. Hat aber auch wieder damit zu tun, dass Timur Läng im Mongolensturm die gesamte arabische Zivilisation gründlich auseinandergenommen hat und anschließend die europäischen Weltentdecker mit ihren Schiffsrouten die Seidenstraße abgewürgt und damit den blühenden Karawanenhandel kassiert haben. Im 19. Jahrhundert gab es umfassende Reformbewegungen, die erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt unter dem Eindruck andauernden westlichen Imperialismus von den islamistischen Bewegungen abgelöst wurden, die ihrerseits erst ab den 1970ern mit Sayyid Qutbs "Milestones" so richtig Fahrt aufgenommen haben.
Mir geht es nicht um eine Rundumapologetik der arabischen Kultur(en), aber zu behaupten, die hätten außer 1001 Nacht nichts auf die Reihe bekommen, ist weit weg von der Realität. Zumal 1001 ein indisch-persisches Werk ist, kein arabisches.

stine hat geschrieben:Die großen Barbareien sind weder typisch westlich noch typisch östlich, sie sind eher typisch menschlich.

Zumindest da sind wir uns einig. ;-)

laie hat geschrieben:Die Behauptung, dass "der Laizismus in der Türkei, in Syrien und bis vor kurzem noch in Ägypten viel intensiver verfolgt worden sei al in Polen", kann ich darum nicht nachvollziehen. In keinem dieser Länder wurde der Laizismus verfolgt. Aber vielleicht habe ich dich nicht richtig verstanden.

Ich glaube, "verfolgen" kann man hier doppeldeutig verstehen. Ich habe es nicht als Verfolgung im Sinne von Unterdrückung gemeint, sondern als Verfolgen einer politischen Strategie. Was ich sagen wollte, ist, dass die besagten Länder teilweise starke laizistische Politik betrieben haben und dass sie damit in diesem Punkt manchem westlichen Staat näher stehen als z.B. den Golfmonarchien oder dem Iran.

Lumen hat geschrieben:Ich würde dir dahingehend zustimmen, dass Ländergrenzen nicht der entscheidenden Faktor sind, aber wohl Region und Lebensumstände. Menschen in Nordeuropa die in einem Dorf am Meer wohnen sind sich wohl ähnlicher als Menschen im gleichen Land aber in einer anderen Region, oder in ganz anderen Umständen (z.B. Großstadt).

Man muss hier sehr gut aufpassen, wie man genau argumentiert. Wenn man behauptet, dass eine bestimmte Landschaft den Menschenschlag prägen würde, der dort lebt, argumentiert man mit Naturdeterminismus, den die Sozialgeographie schon in den 1970ern versenkt hat. Aber natürlich gibt es dörfliche und städtische Kulturen und häufig ist der Stadt-Land-Gegensatz tatsächlich stärker ausgeprägt als der kulturelle Gegensatz zweier Nationen. Wichtig ist, im Hinterkopf zu behalten, dass Kulturen letztlich etwas Menschengemachtes und hochgradig variabel und dynamisch sind. Die Idee statischer Kulturen, die irgendwie schon immer da waren, ist jedenfalls Quatsch. Ein Europäer, der ins 16. Jahrhundert reisen, aber am selben Ort bleiben würde, hätte keinen Plan, was da vor sich geht.
Insofern sehe ich die Idee der europäischen Einigung auch nicht als derart widersprüchlich an. Wenn man natürlich davon ausgeht, dass da statische Kulturen zwangsassimiliert werden, kommt man in Erklärungsnöte. Wenn man aber aus der Geschichte lernt, dass Staatsgründungen häufig im Staatsgebiet zu automatischer kultureller Homogenisierung geführt hat, wird das schon unproblematischer. Ist die EU ersteinmal als politisch zusammengehörender Raum gedacht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Bürger sich an diesen neuen Gegebenheiten ausrichten und im Jahr 2100 die Idee, dass Europa NICHT zusammengehören könnte, unverständiges Kopfschütteln auslösen würde.
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon Lumen » Di 21. Feb 2012, 01:41

Nanna hat geschrieben:
Lumen hat geschrieben:Ich würde dir dahingehend zustimmen, dass Ländergrenzen nicht der entscheidenden Faktor sind, aber wohl Region und Lebensumstände. Menschen in Nordeuropa die in einem Dorf am Meer wohnen sind sich wohl ähnlicher als Menschen im gleichen Land aber in einer anderen Region, oder in ganz anderen Umständen (z.B. Großstadt).

Man muss hier sehr gut aufpassen, wie man genau argumentiert. Wenn man behauptet, dass eine bestimmte Landschaft den Menschenschlag prägen würde, der dort lebt, argumentiert man mit Naturdeterminismus, den die Sozialgeographie schon in den 1970ern versenkt hat. [...]


Ich glaube ich argumentiere nicht "naturdeterministisch". Zuvor habe ich ja behauptet, dass sich Kulturen und Gepflogenheiten offenbar langsam ausbreiteten, also langsam aber doch fließend wandeln. Ich habe darüber nicht lange sinniert, aber es erscheint mir so, dass eine bestimmte Gepflogenheit einstmals von Leuten von Dorf zu Dorf getragen wurde und sich nur dann halten konnte, wenn die Umstände gestimmt haben. Sozusagen Anpassung an den Lebensraum. Es ist daher für mich schon nachvollziehbar, warum sich Tee im Norden an den eher kühlen und ungemütlichen Küsten gehalten hat, als sagen wir, in Südeuropa. Das Klima wird eine Rolle spielen, wohl möglich aber mit anderen Faktoren (Reedereien, Welthandel, Hanse usw.). Vielleicht haben die Italiener auch mal mit Tee gehandelt und vielleicht straft mich gleich einer Lügen und klärt mich über die große Tee-Nation Italien auf, aber mir erscheint es so, dass Tee bei 30° im Schatten nicht so richtig knallt. Hätten die Italiener mal früher Kühltruhen erfunden, vielleicht wäre eine große Eis-Tee Nation daraus geworden.

Ich bin weder ein Fan von Nationen, noch hätte ich etwas gegen gute nachbarschaftliche Beziehungen, aber die Idee der Vereinigten Staaten von Europa halte ich für abwegig. Soll dann eine "Bruchkante" an der Grenze von Europa nach Osten hin entstehen, oder wie soll ich mir das vorstellen? Wenn die alten Nationalgrenzen wie alte Wunden verheilen sollen, also zwischen Region und Region, dann finde ich es gut. Aber die Forderung (falls sie so im Raum steht), dass Europa irgendwie homogener werden soll, finde ich eher beunruhigend. Irgendwie gefällt es mir nicht, rückständige Gegenden erst noch Jahrzehnte mitschleppen (in kultureller, nicht wirtschaftlicher Hinsicht) und dabei eine Homogenisierung aushalten zu müssen. Das ist irgendwie doch dämlich.
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon stine » Di 21. Feb 2012, 08:08

Lumen hat geschrieben:... aber mir erscheint es so, dass Tee bei 30° im Schatten nicht so richtig knallt.
Nur so am Rande: Tee ist auch ein Beduinengetränk und wird mit Vorliebe im Zelt in der Wüste getrunken. Ich weiß aber nicht, ob das ein arabisches Klischee ist :wink: .

Lumen hat geschrieben:Sozusagen Anpassung an den Lebensraum.
Das sehe ich auch so. Allerdings ist das aufgrund der möglich gewordenen Mobilität der Neuzeit nicht mehr so krass wie vielleicht noch vor 100 Jahren. Städter ziehen aufs idyllische Land und die Landbevölkerung zieht es in die Städte. Der oder die alte Dorfschrulle ist im Durchschnitt über 65 und hat ihre Eigenart schon aus ihrer Jugendzeit.

Im Zeitalter der globalen Vernetzung wird es noch schneller gehen mit der Anpassung auf ein einheitliches Menschformat. Die Weltjugend ist sich wahrscheinlich schon ähnlicher, als wir glauben. Da müssen sich die Gegner der Globalisierung warm anziehen und möglichst schnell landespezifische Filter ins Internet einbauen, damit die Jugend und das Volk nicht "verdorben" werden. China macht das vor - also geht es.

Helau und Alaaf
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon laie » Di 21. Feb 2012, 09:00

Nanna hat geschrieben:Ich glaube, "verfolgen" kann man hier doppeldeutig verstehen. Ich habe es nicht als Verfolgung im Sinne von Unterdrückung gemeint, sondern als Verfolgen einer politischen Strategie. Was ich sagen wollte, ist, dass die besagten Länder teilweise starke laizistische Politik betrieben haben und dass sie damit in diesem Punkt manchem westlichen Staat näher stehen als z.B. den Golfmonarchien oder dem Iran.


Na, dann habe ich dich ja gründlich missverstanden. Es ist schon so wie du sagst: die Abendland-Morgenland-Dichotomie ist die späte Frucht eines Imperialismus, der seine geistige Nahrung aus dem Evolutionismus des 19.Jh. erhielt und wiederum diesen selbst fütterte. Der Evolutionismus als die grosse geisteswissenschaftliche Strömung des des 19.Jh. orientierte sich nicht an Darwin, sondern an der Geologie. Evolution war gedacht als eine Abfolge von Schichten, von Kulturschichten. Aus dieser Verbindung ging z.B. die Ethnologie ("Völkerkunde") hervor. Während sich der weisse Kolonialherr als Aufklärer verstand, der eine grosse Verantwortung gegenüber den bemitleidenswerten, weil noch nicht so hoch entwickelten, Fremden zu tragen hatte ("white man's burden"), gingen Ethnologen daran, zu beweisen, warum wir so super sind. Und indigene aussereuropäische Ethnien waren so etwas wie der Quastenflosser für die Ethnologie.

Jetzt, gut 150 Jahre später, ist das Wissenschaftsgeschichte. Aber in den Köpfen geistert dieser Spuk immer noch. Immer noch beliebt: die Universalgeschichte, die irgendwann in grauer Vorzeit beginnt und sich dann Kulturschicht um Kulturschicht vorarbeitet, von den Sumerern über die Ägypter, Griechen, Römer, Frühmittelalter, Islam, Neuzeit, Aufklärung bis in die Neuzeit. Ein klares evolutionistisches Erbe des 19. Jh.

Ethnologie kann man heute nicht mehr betreiben, wenn man nicht die Zustände in aussereuropäischen Ländern als Folge des Imperialismus sieht. Viele Sitten, Gebräuche und Gepflogenheiten, die von frühen Ethnologen als angeblicher Beweis für die niedrige Kulturstufe der untersuchten savages angeführt wurden, sind als Reaktion indigener Gruppen auf die Ausbreitung der Europäer hin zu deuten. Das reicht von den Verwandtschaftsterminologiesystemen (noch für den Evolutionisten Lewis Henry Morgan die Grundlage seiner Ancient Society) über bestimmte angeblich uralte Gepflogenheiten bei der Rechtssprechung bis hin zur konkreten Lebensweise solcher indigener Ethnien. So glaubt man heute, dass die Pygmäen, die Buschmänner im Belgisch-Kongo, nicht immer "auf den Bäumen" gelebt haben, sondern Ackerbau betrieben hatten, bzw. dass sie sich im Wechsel von Ackerbau und der Jagd und dem Sammeln ernähren oder ernährt haben.

Ähnliches auch für den "Orient": es zieht sich ein roter Faden vom Aufstand des Mahdi im Sudan in den 1880zigern (grossartige Lektüre: the river wars von W. Churchill) bis zu 9.11 und Al Kaida. Das sind alles neuartige Strömungen, die sich in der Auseinandersetzung mit den Europäern ausbreiteten und die in den zwanziger, dreissiger Jahren des 20.Jh. noch einmal auftrieb erhielten. Hierzu als kleine Gute-Nacht-Lektüre John Gray 2003: Al Quaeda or what it means to be modern.
laie
 
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon Nanna » Di 21. Feb 2012, 18:19

laie hat geschrieben:Viele Sitten, Gebräuche und Gepflogenheiten, die von frühen Ethnologen als angeblicher Beweis für die niedrige Kulturstufe der untersuchten savages angeführt wurden, sind als Reaktion indigener Gruppen auf die Ausbreitung der Europäer hin zu deuten. Das reicht von den Verwandtschaftsterminologiesystemen (noch für den Evolutionisten Lewis Henry Morgan die Grundlage seiner Ancient Society) über bestimmte angeblich uralte Gepflogenheiten bei der Rechtssprechung bis hin zur konkreten Lebensweise solcher indigener Ethnien. So glaubt man heute, dass die Pygmäen, die Buschmänner im Belgisch-Kongo, nicht immer "auf den Bäumen" gelebt haben, sondern Ackerbau betrieben hatten, bzw. dass sie sich im Wechsel von Ackerbau und der Jagd und dem Sammeln ernähren oder ernährt haben.

Kleine Ergänzung hierzu: Das Kastensystem in Indien ist in weiten Teilen auf dem Mist der Engländer gewachsen, genauso wie es "den Hinduismus" (heißt im Grunde nicht mehr als "das Indertum") vor dem 19. Jahrhundert schlicht nicht gab. Noch vor 150 Jahren haben sich indische Muslime selbstverständlich als Hindumuslime bezeichnet und damit nicht irgendeine Form synkretistischen Kults gemeint, sondern damit einfach ausgedrückt, dass sie Inder und Muslime waren. Erst durch das Eindringen westlichen Rationalismus in Form von Volkszählungen, auf denen eben nur bestimmte Religionsgruppen zum Ankreuzen vorgesehen waren, gab es überhaupt erst den Entscheidungsdruck, sich entweder als Hindu oder Muslim zu bekennen oder sich als Angehöriger einer bestimmten Kaste zu outen; eigentlich gab es dem heutigen Kastensystem ähnliche Systeme nur in Bengalen und auch da waren die nicht hierarchisch starr, sondern dynamische Systeme, in denen die Kasten je nach Einfluss in der Lokalpolitik auf- und abstiegen. Es gibt sogar Regionen in Südindien, wo eh alles ziemlich anders ist als in Bengalen, wo die Brahmanen als ähnlich schlecht angesehen werden wie sonst die Unberührbaren, nicht weil man ihre spirituelle Kompetenz als so eine Art Hohepriestergruppe nicht anerkennen würde, sondern weil man sie wegen ihres permanenten Umgangs in den Tempeln mit Opfergaben aller möglichen Kasten als unrein wahrnimmt.

Ähnlich steht es um die gesamten Versuche, den Hinduismus für alle Inder irgendwie auf einen Nenner zu bringen. Die ganzen heiligen Schriften, die heute als maßgeblich verstanden werden, sind überhaupt erst so dogmatifiziert worden, nachdem die Anwesenheit christlicher Missionare das Bedürfnis nach religiösen Kodifizierungen geweckt hat, die es in ihrer inneren Struktur mit den abrahamitischen Religionen aufnehmen können. Das könnte man jetzt noch ziemlich fortführen.

Im Grunde ist wohl vor allem die Erkenntnis wichtig, dass die Welt schon seit dem 19. Jahrhundert überall modern ist, also von modernen Konzepten durchdrungen ist. Es ist ein Fehler, zu glauben, die Moderne sei nur durch westliche Rationalität und technischen Fortschritt gekennzeichnet. Die vom Westen ausgehende Moderne hat sich auf der ganzen Welt verbreitet und überall dicke Spuren hinterlassen. Alle Kulturen der Welt sind heute modern, nur deshalb noch lange nicht einheitlich. Jede hat auf ihre eigene Weise auf die Moderne reagiert und sich in sie eingegliedert. Wir hier modern, die dort mittelalterlich - das wäre simplizistischer Unfug.

Was wäre an global vernetzen, mobiltelefonierenden Terrortaliban auch mittelalterlich? Die Konzepte, die die glauben? Nein, auch die nicht. Fundamentalismus ist eine Entwicklung der Moderne als extreme Abwehrrreaktion auf die Moderne. Der angebliche Rückkehr zu den Wurzeln der Religion ist in Wirklichkeit die Weiterentwicklung bestehender religiöser Konzepte zu neuen Lehren, die nur Rückkehr genannt werden, strukturell von den echten historischen (und damit unwiederbringlich vergangenen) Wurzeln aber grundverschieden sind. Mit den Lehren der Taliban könnte der historische Muhammad nichts anfangen, würde sie wahrscheinlich nicht einmal nachvollziehen können. Fundamtenalistische Religion ist strukturell aufgebaut wie alle utopischen Ideologien, die es erst seit der Moderne gibt. Erfunden haben die Grundstruktur moderner Ideoligie die Jakobiner mit ihrer Forderung nach einheitlichen Lehren, reiner Gesinnung, persönlicher Hingabe bis in den Tod (ok, das haben u.a. die Calvinisten erfunden, aber in Form der nationalen Bürgerarmee wurde es auf die Spitze getrieben) und absoluter Gleichheit unter den Vorzeichen der jeweiligen Ideologie (alle Bürger sind gleich (vor dem Staat), alle Muslime sind gleich (vor Gott), alle Christen sind gleich (vor Gott, zu dem sie eine persönliche Beziehung aufbauen sollen)).

Warum reite ich da so drauf rum? Weil es mich ärgert, wie immer wieder mit dem Finger auf die unterentwickelten außerwestlichen Wilden gezeigt wird, die angeblich irgendwo im Mittelalter feststecken und jetzt als Fundamentalisten ("Steinzeit-Taliban") mindestens zurück in die Kupferzeit wollen. Quatsch. Fundamentalismus ist nicht etwas, was es vor Urzeiten gab und was dem Rationalismus vorausging, es ist die schwarze Seite des Rationalismus, die erst mit und durch ihn entstehen konnte. Wir haben diesen Wahnsinn gezüchtet und wir werden kreativere Lösungen anbieten müssen als bisher, wenn wir als Weltgesellschaft das überwinden wollen. Dasselbe gilt auch für weniger extreme "Rückständigkeiten", wie die traditionalisierten (nicht traditionellen) Familienstrukturen im Nahen Osten, die die Unterdrückung persönlicher Freiheit, insbesondere der der Frauen, perpetuieren - ohne aber authentisch althergebracht zu sein (siehe auch hier nochmal die "invented traditions" von Hobsbawm).
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Re: Orientalismus (Abendland-Morgenland-Dichotomie)

Beitragvon laie » Di 21. Feb 2012, 18:29

Nanna hat geschrieben:Kleine Ergänzung hierzu: Das Kastensystem in Indien ist in weiten Teilen auf dem Mist der Engländer gewachsen, genauso wie es "den Hinduismus" (heißt im Grunde nicht mehr als "das Indertum") vor dem 19. Jahrhundert schlicht nicht gab.


Genau. Weil nämlich die Brahmanen das, was sie selbst in der evolutionistischen Literatur gelesen haben, als Rechtfertigungsgrundlage verwendet haben.
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