ganimed hat geschrieben:Ich vertrete nämlich die übliche These, dass die angeblich christlichen Werte gar keine christlichen Werte sondern humanistische Werte sind, die historisch gegen die Kirchen erkämpft werden mussten.
Hm, ja und nein. Das zugrundeliegende ethische Empfinden ist historisch wahrscheinlich deutlich älter als alle Religionen der Welt. Das erinnert mich ein bisschen an das Patentieren von Lebenwesen: Man versucht ein Label auf etwas draufzumachen, was einem nicht wirklich gehört, was man aber alleinig kontrollieren möchte. Meiner Meinung nach haben auf ethische Normen (sog. "Werte"), insbesondere solche, die, wie die Menschenrechte als "universell" betitelt werden, keinerlei Weltanschauungssysteme und ihre Propagandisten ein Eigentumsrecht. Es gibt insofern meiner Meinung nach weder christliche noch humanistische Werte, es gibt nur ethische Normen, die entweder Bestandteil der christlichen oder humanistischen Lehre sind oder von beiden beansprucht werden. Wenn jemand die Menschenrechte in ehrlicher Absicht befürwortet, dann ist es mir persönlich herzlich wurscht, wenn seine ideologischen Vorfahren das anders gesehen haben. Distanzierung von deren Positionen würde ich mir allerdings erwarten, einem "Umkehrer" (welche religiöser Begriff) jedoch nicht das Recht absprechen, unterstützenswerte Positionen in seine persönliche Agenda aufzunehmen - ganz im Gegenteil!
ganimed hat geschrieben:Und die heutigen Christen besitzen die Frechheit, ein falsches Etikett an diese humanistischen Werte zu kleben, sie keck als eine Errungenschaft der Christen auszugeben. Und damit alles halbwegs passt, suchen sie sich aus der Kunterbuntbibel auch nur die Stellen heraus, die zu diesen modernen, humanistischen Werten passen (mehr neues Testament als altes, mehr Bergpredigt als Tempelverfluchung). Für mich ein glatter Fall von unverfrorener Geschichtsfälschung und Selbsttäuschung.
Damit unterstellst du den Protagonisten dieser Entwicklung natürlich deinerseits etwas keck, dass sie um diesen Zusammenhang wissen, ihn auch anerkennen und trotzdem böswillig Geschichtsklitterung betreiben. Wie es leider auch hier im Forum in schöner Regelmäßigkeit geschieht, ignorierst du die hohe Eigendynamik weltanschaulicher Systeme. Umfassende und weit verbreitete Ideologien, wie gerade die großen Weltreligionen, haben immer und überall herrschende Vorstellungen inkorporiert, Traditionen aufgegeben und ausgetauscht, ihren eigenen Markenkern bis zur Unkenntlichkeit verändert und so das Label und bestimmte Rahmenvorstellungen über die Zeiten gerettet. Nicht nur die Religion prägt die Menschen, auch die Menschen prägen die Religion. Ein dialektisches System eben.
Wenn du es den jeweiligen Religiösen nun zum Vorwurf machst, dass sie das vorhandene Konglomerat unzähliger gesammelter und fusionierter Kultureinflüsse im Kontext ihrer Lebensrealität interpretiert und angepasst haben wie hunderte Generationen vor ihnen auch schon, dann negierst du nicht nur einen zentralen Vorgang ideologischer Evolution - und damit einen höchst natürlichen Prozess -, sondern machst dir ein großes Stück weit auch die Argumentationsweise von Fundamentalisten zueigen, die nur mit der Vorstellung leben können, dass es eine reine Urform einer Religion geben kann, nur dass sie diese verklären und du sie verteufelst, was aber im Grundes dasselbe Prinzip unter vertauschten Vorzeichen ist.
Ich stelle dazu folgende Gegenthese auf: Die Anpassung des eigenen Weltbildes an veränderte Rahmenbedingungen ist ein natürlicher Prozess. Er tendiert zu einem Gleichgewicht, wo dem Individuum die Abweichung von seinen ererbten Glaubenssätzen einerseits und die Angst vor dem Verlust des Anschlusses an das allgemeingesellschaftliche Gedankengut möglichst wenig unangenehme Gefühle bereitet. Der christlich erzogene, aber in einer teilweise durch humanistische Werte geprägten Gesellschaft aufgewachsene Mensch legt also beispielsweise die größten Unsäglichkeiten (rigorose Sexualmoral, Geschlechtertrennung, Dämonenglaube) seines christlichen Erbes ab, weil der soziale Preis zu hoch geworden ist, den derjenige zahlen muss, der an diesen festhält. Gleichzeitig besteht der Wunsch, Verbindung zu seinen traditionellen Wurzeln zu halten und die emotionale Sicherheit des Glaubens zu behalten. Die Folge ist, dass, kognitive Dissonanz lässt grüßen, das als am besten empfundene aus beiden Welten zu einer neuen Version der bisherigen Weltsicht fusioniert wird. Dabei kommt beispielsweise ein humanistisch geprägtes Christentum heraus. Für den Liebhaber klarer Fronten ist das vielleicht nicht das Richtige, aber ich finde, dass es weitaus schlimmeres gibt.