Mark hat geschrieben:Aber wie kommt es denn, daß so viele Christen in der Welt trotzdem so militant sind ? Ich habe persönlich schon mit vielen Christen diskutiert, die jederzeit zur Waffe greifen würden um einen Einbrecher präventiv zu erschiessen
Offen gesagt ist mir das auch ein Rätsel. In den USA gibt es gerade in "frommen" Staaten Gemeinden, die Leuten ohne Schusswaffen verbieten, sich dort anzusiedeln.
Ok, wenn ich genau drüber nachdenke, kann ich vielleicht ein paar Anhaltspunkte nennen.
Der erste Weg des Christentums hin zur Gewalt waren die Christenverfolgungen, gefolgt von einer sehr plötzlichen Umwandlung der verfolgten Minderheit zur Quasi-Staatsreligion. Zuerst waren die Köpfe der Christen noch voller Leid und Gewalt, die von der Staatsmacht gegen sie ausgeübt wurde, und plötzlich - innerhalb von wenigen Jahrzehnten - waren sie die Mächtigen. Das ist ihnen überhaupt nicht gut bekommen. Man kann das am Beispiel von Nikolaus von Myra verdeutlichen, unserem "Sankt Nikolaus". Der saß während der diokletionaischen bzw galerianischen Christenverfolgung im Knast und entrann nur knapp dem Tode. Später, unter Konstantin, wurde er zum berühmten Bischof, und in seinen ganz späten Jahren war seine Machtposition so sicher, dass er sozusagen gegen die Heiden "zurückschlagen" bzw deren Abgötterei exekutiv bekämpfen konnte: In einer Nacht- und Nebel-Aktion fackelten seine Leute den größten heidnischen Tempel der Stadt ab.
Angestauter Hass - so zeigten auch viele andere Vorkommnisse dieser Zeit - lässt sich nicht so leicht durch Liebesgebote zähmen, und nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, wurde dieses Gebot sowieso ganz klein geschrieben.
Das Christentum der Spätantike mutet einem so fremdartig an, dass man sich fragt, ob nicht eine Religionsverwechslung vorliegt. Allein, dass es christliche Missionare schafften, germanische Stämme (wenigstens dem Namen nach) zu christianisieren, wobei deren Könige auch weiterhin nicht den netten Brauch aufgaben, den Siegestrank aus der Hirnschale des gegnerischen Häuptlings zu genießen, ist erstaunlich. Was sie definitiv nicht schafften, ist, die germanische Einstellung zum Wert eines Menschenlebens und zur Anwendung von Gewalt aus der Welt zu schaffen.
Sehr trefflich bringt zB Terry Jones (der von den Monty Pythons) in seiner Kreuzzüge-Reportage die psychische Verfassung eines ritterlichen Kreuzzüglers auf den Punkt.
Für die keltisch-germanischstämmigen Völker Europas galt das menschliche Leben lange Zeit als Handelsware, und auch wenn diese Wertigkeit durch die christliche Gottebenbildlichkeit des Menschen verdorben wurde, so blieb das Recht zur Gewaltanwendung (in bestimmten Situationen und an bestimmten Orten) ein wichtiges Merkmal eines freien Mannes - ganz zu schweigen von Edelleuten. Gerade in den angelächsischen und nordischen Ländern, wo sich noch relativ viele solcher Rechtsvorstellungen erhalten haben, merkt man das deutlich.
Darum gab es wohl ab dem frühen Mittelalter eine Spaltung der Christen in normale Volkschristen, die sich aufgrund ihrer unvermeidlich sündigen Lebensweise von einer Absolution bis zur nächsten hinüberretteten, und nonkonormistische Gemeinschaften, Orden, "religii", in denen versucht wurde/wird, das Evangelium möglichst rein zu leben.
Dem Martin Luther gefiel das gar nicht, weil er der Meinung war, dass sich ein verantwortlich lebender Mensch nicht davor drücken darf, sich seine Finger zu beschmutzen (zB durch politische Ämter), und gab die Losung aus: Peccate fortiter - "sündiget tapfer".
Er legitimierte mit seiner "Zwei-Reiche-Lehre" Polizei und Staatsgewalt, selbst wenn sie in Maßen über die Stränge schlägt, denn dem Übeltäter sei nicht mit Liebe und milden Worten beizukommen. Da helfe nur noch die alte Ordnung mit der Peitsche - sozusagen als Zwischenschritt vom Chaos zur einer göttlichen Ordnung der Liebe.
Heute sind wir - was christliche Legitimationsentwürfe betrifft - kaum weiter gekommen. Es gibt das an "germanische" Verhältnisse angepasste Kirchen- und Vergebungskonzept der katholischen Kirche, es gibt die Zwei-Reiche-Lehre in der evangelischen Kirche, und es gibt viele nonkornformistisch-pazifistische Gruppen, denen vorgeworfen wird, dass sie ihre Zahmheit nur darum ausleben können, weil ein "gewaltätiger" Staat sie schützt.
Mark hat geschrieben:es geht mir um die grosse Diversifizierung des Glaubens hier an und für sich, warum führt dieselbe Lehre nicht bei allen zu denselben Einsichten ?
Eine in sich geschlossene christliche Lehre exisitiert nicht. Selbst über die Grundlage aller christlich-religiösen Erfahrung, die Offenbarung, herrschen unterschiedliche Meinungen:
Die Katholiken sagen (zumindest offiziell): Gott offenbare sich in Jesus, in der Bibel und in der kirchlichen Tradition.
Die nichtkatholischen Fundamentalisten sagen: Gott offenbare sich in Jesus und in der Bibel.
Alle übrigen betrachten die Bibel nicht als Offenbarung, sondern nur Jesus.
Und einige, zB die Quäker, legen sich überhaupt nicht fest und sagen, dass sich Gott im inneren Licht offenbare, das einen erleuchte.
Das Einzige, was man als gemeinsamen Nenner aller christlichen Gruppen nennen kann, ist das Bekenntnis: "Christus ist der Herr."
Grüßle,
FF