Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon AgentProvocateur » Mi 11. Feb 2009, 22:34

ganimed hat geschrieben:
dann können extremen Rachegelüste, die dem Lebenswillen eines einzelnen entgegen stehen, nicht entsprochen werden (a man's life is all he has - d.h. ich bewerte dieses Interesse weiter zu leben weit höher als das Racheinteresse

Der Begriff "exteme Rachegelüste" scheint mir hier doch ein wenig überzogen.

Ja, ich finde es extrem, jemandem das Recht auf sein Leben - ist nun mal die Grundvoraussetzung für alles weitere seiner Existenz - zugunsten eines leicht zurücksteckbaren Interesses absprechen zu wollen.

ganimed hat geschrieben:Wenn Stine, ich und viele andere Menschen in manchen Fällen eine Gewalttat als so schwer empfinden, dass uns lebenslange Haft nicht als adäquat, nicht als gerecht erscheint, dann ist das sicher kein billiger Racheinstinkt. Dann ist das ein Gerechtigkeitsempfinden.

Nun, aber es gibt nun mal die Einigung in unserer Gesellschaft, dass diesem Rachebedürfnis nicht entsprochen wird. Das ist eine Vereinbarung. Es mag ja auch Leute geben, die andere ("böse Menschen") über einen langen Zeitraum zu Tode quälen wollen. Auch diese Bedürfnisse müssen in unserer Gesellschaft zurückstecken. Egal, ob diese Leute meinen, das sei ein Gerechtigkeitsempfinden oder nicht.

ganimed hat geschrieben:Je schwerer die Tat desto schwerer die Strafe.

Es gibt notwendigerweise immer eine Obergrenze für Strafen. Aber keine Obergrenze für Schrecklichkeiten von Verbrechen.

ganimed hat geschrieben:Du bewertest das Leben des Delinquenten höher als dieses Gerechtigkeitsempfinden. Nichts dagegen einzuwenden. Aber es erscheint mir eben nur eine Bewertung zu sein. Ein Ausdruck der inneren Werte und ihrer Abwägung gegeneinander. Geschmacksnuance aber kein Grundsatz.

Doch, letztlich schon, letztlich beruht alles auf Vereinbarungen und die wiederum auf persönlichen Einstellungen und die wiederum auf Geschmacksnuancen.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Nö, die Gefahr ist nicht unvermeidbar, denn es ist ja nicht richtig, dass, wie Du zu behaupten scheinst, es keine Alternative zwischen Todesstrafe und (wieso eigentlich "vorzeitigen"?) Freilassen eines als sehr rückfallgefährdeten angesehenen Menschen gibt

Was ist mit dem Freilassen von nicht rückfallgefährdet angesehenen Menschen, die dann aber doch rückfällig werden?

Wenn man verschiedene Rechte abwägt, dann ist das nun mal unausweichlich und kann nicht vermieden werden, denn wir können nicht in die Zukunft schauen.

Bzw., naja, eine einzige Möglichkeit gibt es natürlich schon, dies zu vermeiden: man tötet einfach alle Menschen. Dann kann logischerweise kein Mensch mehr eine Straftat begehen.

ganimed hat geschrieben:Willst du wirklich behaupten, dass das Rechtssystem ohne die Todesstrafe sicher ist?

Ich meine, dass eine Gesellschaft ohne Todesstrafe zivilisierter, menschlicher, humaner ist als eine mit Todesstrafe. Und ich glaube nicht, dass mit Todesstrafe eine höhere Sicherheit gewonnen werden kann. Angeblich höhere Sicherheit kann also kein Grund pro Todesstrafe sein. Und absolute Sicherheit kann es in einem freiheitlichen Staat nicht geben, das liegt in der Natur der Sache.

ganimed hat geschrieben:Dass also keine unschuldig Verurteilten leiden und dass es keine entlassenen Exhäftlinge gibt, die wieder neue Gewalttaten begehen?

Nö, habe ich wohl auch kaum irgendwo mal so gesagt. Strohmann.

ganimed hat geschrieben:Wenn also im jetzigen System ebenfalls Unschuldige leiden und sterben, wieso sprechen die gleichen Übel dann plötzlich gegen die Todesstrafe? Mir scheint vielmehr, die genannten Nachteile sind eine inhäränte Eigenschaft jeglicher menschlicher, fehlerbehafteter Justiz.

Es wäre wirklich ganz wundervoll und herzig, wenn Du mein Argument mal zur Kenntnis nehmen könntest: wenn jemand hingerichtet wird, dann ist das vollkommen irreversibel. Wenn jemand zu lebensläglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wird, dann wäre diese Maßnahme zumindest teilweise reversibel (bei neuer Erkenntnislage). Und das ist ein prinzipieller Unterschied, den Du nicht wegargumentieren kannst.

Letztlich ist es doch so, und da beißt die Maus keinen Faden ab: wer für Todesstrafe ist, sieht in Verbrechern Monster und keine Menschen mehr. Monster, die es einfach verdient haben, ihr Licht ausgeblasen zu bekommen. Weil sie böse sind. Und nicht zu bessern, weil in jeder Faser böse. Einmal böse, immer böse. Und das ist mE irgendwie eine religiöse Sichtweise und damit kann ich nun absolut gar nichts anfangen. Ist mir völlig fremd. Ich verstehe das einfach nicht.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon ganimed » Mi 11. Feb 2009, 22:47

@Elis: Richtig. Eine befriedigende Antwort auf manche Untaten von Menschen gibt es wohl einfach nicht. Ich denke auch, ein wirklich überzeugender Umgang mit Gewalttätern ist weder mit noch ohne Todesstrafe erreichbar. Möglicherweise wäre die einzige Lösung des Problems die konsequente Vermeidung solcher Straftaten. Vielleicht wird es eines Tages möglich, super genaue Psychoprofile von Menschen zu erstellen, um dann fehlerfrei erkennen zu können, wer wann und unter welchen Umständen zu Straftaten in der Lage ist, so dass man möglicherweise mit vertretbarem Aufwand diese Taten unmöglich machen kann. Oder die vielleicht einfachere Methode: in jeden Kopf ein Gerät einpflanzen, dass einen Schockzustand erzeugt, sobald gewisse Hormonwerte anzeigen, dass inakzeptable Gewalt geplant ist. Oder habe ich einfach zu viele ScienceFiction-Filme gesehen?

Elis hat geschrieben:und kann vom Empfinden her nur mit der vermeintlich höchsten Strafe, der Auslöschung der Existenz, geahndet werden.

Ich bin offenbar verroht genug, um mir durchaus noch schlimmere Dinge vorstellen zu können. Wie wäre es mit lang andauernder Folter und erst danach einer Hinrichtung? Ich sehe die einfache Todesstrafe durchaus nur als nächste Stufe nach der lebenslangen Haft (meinetwegen noch Einzelhaft, Arbeitslager und Sibirien, oder was auch immer an Zwischenstufen denkbar ist). Die höchste denkbare Strafe ist es aber nicht. Oder habe ich einfach zu viele Horrorfilme gesehen?
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Elis » Mi 11. Feb 2009, 23:12

ganimed hat geschrieben:@Elis: Richtig. Eine befriedigende Antwort auf manche Untaten von Menschen gibt es wohl einfach nicht. Ich denke auch, ein wirklich überzeugender Umgang mit Gewalttätern ist weder mit noch ohne Todesstrafe erreichbar. Möglicherweise wäre die einzige Lösung des Problems die konsequente Vermeidung solcher Straftaten. Vielleicht wird es eines Tages möglich, super genaue Psychoprofile von Menschen zu erstellen, um dann fehlerfrei erkennen zu können, wer wann und unter welchen Umständen zu Straftaten in der Lage ist, so dass man möglicherweise mit vertretbarem Aufwand diese Taten unmöglich machen kann. Oder die vielleicht einfachere Methode: in jeden Kopf ein Gerät einpflanzen, dass einen Schockzustand erzeugt, sobald gewisse Hormonwerte anzeigen, dass inakzeptable Gewalt geplant ist. [...]

Naja, oder bei Sexualverbrechern Zwangskastration. Aber genau das meinte ich, als ich oben Art. 1 GG erwähnt habe..

ganimed hat geschrieben:
Elis hat geschrieben:und kann vom Empfinden her nur mit der vermeintlich höchsten Strafe, der Auslöschung der Existenz, geahndet werden.

Ich bin offenbar verroht genug, um mir durchaus noch schlimmere Dinge vorstellen zu können. Wie wäre es mit lang andauernder Folter und erst danach einer Hinrichtung? Ich sehe die einfache Todesstrafe durchaus nur als nächste Stufe nach der lebenslangen Haft (meinetwegen noch Einzelhaft, Arbeitslager und Sibirien, oder was auch immer an Zwischenstufen denkbar ist). Die höchste denkbare Strafe ist es aber nicht. Oder habe ich einfach zu viele Horrorfilme gesehen?
Das wäre ja nur eine Befriedigung Deiner niederen Triebe, die Du dann unter dem Argument der staatlichen Rechtmässigkeit ausüben dürftest.

Es ist nunmal die höchste denkbare Strafe für die meisten Menschen, die ausser der rechtmässigen (in dem Falle wäre sie es ja) Tötung eines Menschen keine weiteren Verbrechen begehen möchten.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon ganimed » Mi 11. Feb 2009, 23:14

@AgentProvocateur: weitestgehend stimme ich zu.
AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt notwendigerweise immer eine Obergrenze für Strafen. Aber keine Obergrenze für Schrecklichkeiten von Verbrechen.

Das finde ich mal ein gutes Argument. Hatte ich mir bisher nicht klar gemacht. Das Gerechtigkeitsempfinden kann also prinzipiell nicht immer befriedigt werden. Das relativiert den "Vorteil" der Todesstrafe schon mal in meinen Augen.

AgentProvocateur hat geschrieben:wenn jemand hingerichtet wird, dann ist das vollkommen irreversibel. Wenn jemand zu lebensläglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wird, dann wäre diese Maßnahme zumindest teilweise reversibel (bei neuer Erkenntnislage). Und das ist ein prinzipieller Unterschied, den Du nicht wegargumentieren kannst.

Stimmt, diesen Unterschied kann und will ich nicht wegargumentieren. Aber es gibt weitere Unterschiede, die ich auch betrachte und mit in die Waagschale lege. Diese anderen Unterschiede relativieren deinen "Unterschied". Mit ein wenig Glück ist er vielleicht sogar wegargumentiert.

Ich unterscheide mal folgende Fälle, die wir hier betrachten:
Fall 1: A ist schuldig und wird hingerichtet. Alles wunderbar.
Fall 2: A ist unschuldig und wird hingerichtet. Ein Unschuldiger ist gestorben.
Fall 3: A ist schuldig, wird inhaftiert, später nach Erkenntnislage wieder entlassen, mordet erneut. Ein zusätzliches Opfer ist gestorben.
Fall 4: A ist schuldig, wird inhaftiert, später nach Erkenntnislage wieder entlassen und tut niemandem mehr was. Alles wunderbar.
Fall 5: A ist schuldig, wird nie frei gelassen. Alles wunderbar.

Ich hoffe, ich habe alle relevanten Fälle bedacht.

Zwei Szenarien (a) und (b)
a) Keine Todesstrafe
Ohne Todesstrafe gibt es die Fälle (1) und (2) nicht.
Es wird also, sagen wir, z1 mal der Fall (2) vermieden. z1 Unschuldige bleiben am Leben. Wunderbar.

b) Mit Todesstrafe
Ich bekomme x Fälle (1) und z1 Fälle (2) und dafür dann logischerweise (x+z1) weniger Fälle (3), (4) und (5).
Sei z2 die Anzahl an Fällen (3), die vermieden wird. Es bleiben also z2 Unschuldige am Leben. Wunderbar.

Dein Unterschied, den ich nicht wegargumentieren kann, beträgt genau z1. Mit Todesstrafe sterben z1 Unschuldige.
Der Unterschied, den du geflissentlich übersehen möchtest, beträgt z2. Ohne Todesstrafe sterben z2 mehr Opfer.
Wenn die Zahl z2 also größer als 0 ist, erscheint mir dein Argument zumindest schon mal geschwächt. Wenn z2 >= z1 sein sollte, sogar entkräftet.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon AgentProvocateur » Do 12. Feb 2009, 23:26

ganimed hat geschrieben:Dein Unterschied, den ich nicht wegargumentieren kann, beträgt genau z1. Mit Todesstrafe sterben z1 Unschuldige.
Der Unterschied, den du geflissentlich übersehen möchtest, beträgt z2. Ohne Todesstrafe sterben z2 mehr Opfer.
Wenn die Zahl z2 also größer als 0 ist, erscheint mir dein Argument zumindest schon mal geschwächt. Wenn z2 >= z1 sein sollte, sogar entkräftet.

Nö, finde ich nicht und zwar deswegen, weil Du so tust, als ob es nur um Zahlen ginge, die man man einfach in eine Gleichung einsetzen könnte. Das kann man aber hier nicht, denn es ist mE ein großer Unterschied, ob ein einzelner Krimineller jemanden tötet oder ob ein Staat / eine Gesellschaft es ohne stichhaltigen Grund billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten. Das muss bei der Rechnung berücksichtigt werden.

Und dann ist deine Rechnung eh hypothetisch, denn Du kennst die Zahlen nicht. Einen Anhaltspunkt bekommst Du vielleicht dann, wenn Du Gesellschaften betrachtest, die die Todesstrafe abgeschafft haben und dann die Mordfälle vorher und nachher ansiehst.

Aber wie gesagt: auf so eine einfache Rechnung kann man diese Frage mMn nicht reduzieren. Wenn Du jedoch meinst, das ginge dennoch, dann müsstest Du diese Zahlen erst mal ermitteln, ansonsten hast Du kein Argument.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Twilight » Fr 13. Feb 2009, 18:15

AgentProvocateur hat geschrieben:Einen Anhaltspunkt bekommst Du vielleicht dann, wenn Du Gesellschaften betrachtest, die die Todesstrafe abgeschafft haben und dann die Mordfälle vorher und nachher ansiehst.


Selbst dann wäre das Ergebnis zweifelhaft, da in einer Gesellschaft, die derartige Änderungen an ihrem Rechtssystem vornimmt, sich oft noch andere Dinge ändern. Vielleicht war die Todesstrafe nur noch formal ein Bestandteil der Bestrafungsmöglichkeiten und wurde lange nicht mehr angewendet. In dem Fall dürften kaum nennenswerte Unterschiede auftreten.
Umgekehrt könnte aber bei Abschaffung der Todesstrafe auch ein Anstieg der Mordrate auftreten, wenn eine Bevölkerung, die die Todesstrafe mehrheitlich unterstützt, sich nicht mehr ausreichend geschütz fühlt und zu Selbstjustiz übergeht.
Beide Fälle (unter anderem) verfälschen die Messergebnisse.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon ganimed » Sa 14. Feb 2009, 16:30

AgentProvocateur hat geschrieben:es ist mE ein großer Unterschied, ob ein einzelner Krimineller jemanden tötet oder ob ein Staat / eine Gesellschaft es ohne stichhaltigen Grund billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten.

Ohne stichhaltigen Grund? Doch, es gibt einen stichhaltigen Grund. Ein Gerichtsverfahren kann die Schuld niemals mit allerletzter Sicherheit beweisen. Selbst wenn 100 Indizien und 3 Geständnisse vorliegen, könnte alles immernoch fingiert sein. Die Unschuldigen nimmt man also nicht ohne Grund in Kauf. Und man nimmt sie, zumindest in den USA auch nicht leichthin in Kauf. Bei einem Todesurteil gibt es ja sozusagen ein besonders teures, besonders sorgfältiges und langes Verfahren mit besonders viel Revisionsmöglichkeiten inklusive Gnadengesuchen.
Aber gut, dasselbe ist es so oder so nicht, wenn ein Staat jemanden hinrichtet oder ein Krimineller jemanden tötet. Da hast du Recht. Aber das muss es ja nun auch für mein Argument nicht sein. Es ging in dem Argument ja um die Zahl der unschuldigen Opfer.

AgentProvocateur hat geschrieben:Und dann ist deine Rechnung eh hypothetisch, denn Du kennst die Zahlen nicht.

Bei deinem Argument (fehlende Revisionsmöglichkeit, Hinrichtung Unschuldiger) hat dich dieser hypothetische Charakter aber scheinbar noch nicht so sehr gestört. Du kennst ja, so vermute ich jedenfalls, die Zahlen auch nicht, wie viele Unschuldige hingerichtet würden.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 16:40

Mal eine Frage am Rande:
Woher leiten Brights eigentlich ihre ethischen Normen her?
Humanismus? Ergebnisorientiertheit? Gibt es einheitliche Tendenzen?
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Twilight » Sa 14. Feb 2009, 16:57

Astrella hat geschrieben:Woher leiten Brights eigentlich ihre ethischen Normen her?


Teilweise Rationalität. Ich überlege, was meine Handlungen für Auswirkungen haben. Wenn die Auswirkungen in einer Weise stattfinden, dass ich diesen nicht ausgesetzt sein möchte, ist es schlecht und ich versuche solche Handlungen zu unterlassen. Oder einfach ausgedrückt: Was du nicht willst das man dir tu' das füg' auch keinem and'ren zu.

Aber eine große Portion Instinkt spielt auch eine Rolle. Der funktioniert oft genug ganz gut, allerdings sagt der Instinkt manchmal, dass bestimmte Sachen schlecht sind, obwohl sie logisch betrachtet gute Auswirkungen hätten. So geht es jedem gesunden Menschen, ob mit oder ohne Religion.
Ich nehme mal ein Beispiel aus dem "Gotteswahn" der hier sowieso relativ oft erwähnt wird:
Ein Zug voll mit Leuten rast ungebremst auf eine zerstörte Brücke zu. Über dem Gleis, an einer Klippe steht ein dicker Mensch, dessen Masse das Potential hätte, den Zug rechtzeitig zu bremsen. Ihn deswegen aber auf die Schienen zu schubsen fühlt sich grundlegend falsch an. Der Mann ist ein unbeteiligter, der da nicht hineingezogen werden sollte.
Eine andere Situation wäre es den Zug an einer Weiche umzulenken. Allerdings stehen auf dem anderen Gleis ebenfalls Menschen, die dadurch in Gefahr gebracht würden. Der Unterschied ist der, dass diese anderen Leute nicht benutzt werden, um das Problem zu lösen. Diese sind einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, wofür niemand etwas kann.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 17:32

Genau das Trolley-Dilemma hatte ich eigentlich im Hinterkopf.
So´n Instinkt kann aber auch ganz schön nach hinten losgehen, gerade wenn man beim Thema Todesstrafe ist.
Wäre man selbst als Angehöriger betroffen und hätte man auch noch die Chance: Instinktiv (oder im Affekt) würde man doch eher seine Rachegelüste befriedigen.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon AgentProvocateur » Sa 14. Feb 2009, 17:55

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:es ist mE ein großer Unterschied, ob ein einzelner Krimineller jemanden tötet oder ob ein Staat / eine Gesellschaft es ohne stichhaltigen Grund billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten.

Ohne stichhaltigen Grund? Doch, es gibt einen stichhaltigen Grund. Ein Gerichtsverfahren kann die Schuld niemals mit allerletzter Sicherheit beweisen. Selbst wenn 100 Indizien und 3 Geständnisse vorliegen, könnte alles immernoch fingiert sein.

Genau, was eben bedeutet, dass z1 größer als Null ist.

ganimed hat geschrieben:Die Unschuldigen nimmt man also nicht ohne Grund in Kauf.

Es geht aber in diesem Zusammenhang darum, dass man es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu töten. Und dafür müsste man schon einen wirklich guten Grund haben. Welcher ist das also? Die Sicherheit der Gesellschaft ist es nicht, da diese auch auf anderem Wege erreicht werden kann. Also Befriedigung von Rachebedürfnissen? Reicht das denn tatsächlich aus?

ganimed hat geschrieben:Und man nimmt sie, zumindest in den USA auch nicht leichthin in Kauf. Bei einem Todesurteil gibt es ja sozusagen ein besonders teures, besonders sorgfältiges und langes Verfahren mit besonders viel Revisionsmöglichkeiten inklusive Gnadengesuchen.

Naja, weiß nicht so recht.

ganimed hat geschrieben:Aber gut, dasselbe ist es so oder so nicht, wenn ein Staat jemanden hinrichtet oder ein Krimineller jemanden tötet. Da hast du Recht. Aber das muss es ja nun auch für mein Argument nicht sein. Es ging in dem Argument ja um die Zahl der unschuldigen Opfer.

Die man wegen dieser Unterschiedlichkeit nicht so einfach gegeneinander verrechnen kann.

ganimed hat geschrieben:
AgentProvocateur hat geschrieben:Und dann ist deine Rechnung eh hypothetisch, denn Du kennst die Zahlen nicht.

Bei deinem Argument (fehlende Revisionsmöglichkeit, Hinrichtung Unschuldiger) hat dich dieser hypothetische Charakter aber scheinbar noch nicht so sehr gestört. Du kennst ja, so vermute ich jedenfalls, die Zahlen auch nicht, wie viele Unschuldige hingerichtet würden.

Ich muss nur wissen, dass z1 > 0 ist. Das reicht für mein Argument. Und dass dem so ist, ist nicht hypothetisch.

Du müsstest jedoch mindestens zeigen, dass z2 >= z1 ist.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon stine » Sa 14. Feb 2009, 18:22

Astrella hat geschrieben:Mal eine Frage am Rande:
Woher leiten Brights eigentlich ihre ethischen Normen her?
Humanismus? Ergebnisorientiertheit? Gibt es einheitliche Tendenzen?
:up:
Du greifst sogleich meine Frage auf?
Dafür brauchte ich mehrere Threads.
Schließlich leben wir noch im Zeitalter der ausgehenden Religiösität als Kulturschmiede.

Siehe hier und hier!
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Zuletzt geändert von stine am Sa 14. Feb 2009, 18:29, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 18:29

@stine
?
Ich kann dir leider nicht ganz folgen.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon stine » Sa 14. Feb 2009, 18:32

Ich hab nachträglich noch zwei Links in mein Post eingeflickt, vielleicht verstehst du dann, was ich meinte.
Wenn deine Frage in eine andere Richtung abzielte, dann entschuldige, dann hab ich das falsch verstanden. :/
LG stine
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Twilight » Sa 14. Feb 2009, 19:20

Astrella hat geschrieben:Genau das Trolley-Dilemma hatte ich eigentlich im Hinterkopf.
So´n Instinkt kann aber auch ganz schön nach hinten losgehen, gerade wenn man beim Thema Todesstrafe ist.
Wäre man selbst als Angehöriger betroffen und hätte man auch noch die Chance: Instinktiv (oder im Affekt) würde man doch eher seine Rachegelüste befriedigen.

Das Prinzip der Rache ist in einigen Gesellschaften allgemein akzeptiert. In anderen wieder nicht. Es hängt von der Kultur ab, was nun funktioniert und was nicht. Bei uns (und sogar in den USA) können wir keine Rache erlauben, weil das unser gesamtes Rechtssystem untergraben und zum Einsturz bringen würde. Deshalb ist in entsprechenden Ländern die Todesstrafe (sofern sie erlaubt ist) "human"* zu vollziehen.

* Bitte beachtet diesmal die Gänsefüßchen.

In anderen Ländern wiederum ist Rache ein Grundbestandteil des Rechtssystems. Ehrenmorde und Lynchjustiz gehören auch dazu. Weil ich aber keinen so tiefen Einblick in solche Gesellschaften habe, möchte ich mich auch nicht so weit aus dem Fenster lehnen und sagen, es würde funktionieren. Um diese Zustände wenigstens zeitweise abzuschaffen oder auch nur zu mildern, müsste man paradoxerweise auf jeden Fall mit Gewalt eingreifen, was gewisse vereinigte Staaten auch tun. Aber das führt zu nichts, da dieses System zu tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist. Das was in unseren Augen kaum der Rede wert ist - wie Ehebruch, Homosexualität oder unehelicher Geschlechtsverker - ist in solchen Gesellschaften eine Abscheulichkeit, die solche Handlungen rechtfertigt.

Das Trolley-Dilemma (Danke für den Begriff, übrigens ;D ) hat damit aber erst einmal nichts zu tun. Dieses Problem geht viel tiefer. Man hat herausgefunden, dass die meisten Menschen unabhängig von ihrer Kultur, Religion oder Herkunft mit dem übereinstimmen, was ich schon dazu geschrieben habe. Diese Ethik ist etwas, das für Menschen funktioniert. Ich weiß nicht warum das so ist, da es nach meinem bisherigen Verständnis unlogisch ist. Aber irgendwie hat sich diese Meinung im Laufe der Menschwerdung entwickelt. Beim Trolley-Dilemma würde sich fast jeder, der den Dicken von der Klippe schupst, fühlen, als hätte er etwas Schlimmes getan, obwohl er dadurch mehr Menschen retten konnte. Zu so etwas kann man keinen per Gesetz zwingen - trotz aller Logik . Es würde für die meisten Menschen nicht funktionieren.

Worauf wollte ich eigentlich hinaus? Ach ja:
Es gibt kein absolutes Gut oder Schlecht. Die Standpunkte sind zu beachten. Einige Fälle sind relativ individuell, andere relativ allgemeingültig. Bei einigen Fällen, wie der Todesstrafe hilft logische Überlegung.
Es gibt also Abstufungen im ethischen Verständnis: Individuum --> Gesellschaft --> Spezies. Ich formuliere diese Gedanken gerade zum ersten mal. Höchstwahrscheinlich gibt es noch mehr Stufen darüber und dazwischen, vielleicht noch welche unterhalb von Individuum. Aber egal...

Ethik ist demzufolge einfach ein System (oder eines von mehreren), welches eine Gesellschaft funktionsfähig hält. Ändert sich die Gesellschaft, müssen sich auch entsprechende Stufen der Ethik ändern.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 19:58

Twilight hat geschrieben:Bei uns (und sogar in den USA) können wir keine Rache erlauben, weil das unser gesamtes Rechtssystem untergraben und zum Einsturz bringen würde. Deshalb ist in entsprechenden Ländern die Todesstrafe (sofern sie erlaubt ist) "human"* zu vollziehen.

Todesstrafe ist für mich per se mit dem Rachegedanken verknüpft, von daher sehe ich die USA in der Hinsicht grösstenteils noch nicht bei europäischen Ethikvorstellungen angekommen.
Ein Problem bei der Todesstrafe ist doch auch, daß sich die Torpfosten bei der psychologischen Beurteilung der Schuldfähigkeit immer weiter nach hinten verschieben.
Kann man an einen Psychopathen, der vielleicht nachweislich zu keiner Empathie fähig ist, die gleiche Messlatte anlegen wie an einen normal empfindenen Menschen?
Wer weiß, vielleicht wird in 50 Jahren Sadismus als geistige Behinderung eingestuft...
:/
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Twilight » Sa 14. Feb 2009, 20:31

Astrella hat geschrieben:Todesstrafe ist für mich per se mit dem Rachegedanken verknüpft

Da kann ich dir nur eingeschränkt zustimmen. Erstmal habe ich von den USA gesprochen - einem Paradebeispiel für ein modern-zivilisiertes Land, mit teilweise mittelalterlichen Auffassungen.
Bei einigen, wahrscheinlich sogar vielen US-Amerikanern mag der Gedanke an Rache zur Befürwortung der Todesstrafe führen. Das ist aber nur eines der Pro-Argumente. Hauptsächlich geht es darum, die Gesellschaft dauerhaft vor den zukünftigen Taten eines verurteilten Mörders zu schützen. Und da Erschlagen, Würgen oder Steinigen keine zugelassenen Todesstrafen sind, wird Rachedurst sowieso nicht gestillt. Bestenfalls wird die Gewissheit geschaffen, dass der entsprechende Mörder (so es denn wirklich einer war - aber das hatten wir schon) nie wieder frei herumläuft.

Und was die Schuldfähigkeit angeht: Natürlich gibt es Leute, die kaum in der Lage sind, die Folgen ihrer Taten auch nur ansatzweise zu erfassen und eben dadurch gefährlich werden. Der Logik zufolge, müssten bei denen, da die Todesstrafe ja zum Schutz des Rests der Bevölkerung dient, die gleichen Regeln angewendet werden.

Ab hier traue ich mich kaum, weiter zu argumentieren. :ops:

Die Todesstrafe dient auf Grund der Ausnahmen für nicht Straffähige nicht dem Schutz der Bevölkerung.
Der Verurteilte wird nicht bestraft, da eine Strafe das Ziel hat, aus einem Fehler zu lernen.
Es kann nicht sichergestellt werden, dass der "Bestrafte" schmerzfrei den Löffel abgibt.
Eine Rache kommt nicht zustande, da wenigstens versucht wird, schmerzfrei zu töten.
Abschreckung tritt auch nicht auf, da Morde oft aus dem Affekt heraus geschehen, bzw, der Mörder nur an sein Opfer und die Tat selbst, kaum aber an das Schicksal anderer Mörder denkt.
Und schlussendlich ist die Todesstrafe auch nicht billiger als lebenslange Haft, wie auf Wikipedia beschrieben.

Was von dem Ganzen bleibt ist also Nichts.
Außer Mord.
Und das wiederum macht das Ganze paradox, weil es ja ein System GEGEN Mörder sein soll.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 20:48

Twilight hat geschrieben: Der Logik zufolge, müssten bei denen, da die Todesstrafe ja zum Schutz des Rests der Bevölkerung dient, die gleichen Regeln angewendet werden.

Genau. Das ist doch ein Knackpunkt.

Wenn jemand wegen Mordes weggesperrt wird für den Rest seines Lebens, ist es eigentlich egal, ob im Knast oder in der Klapse. Hauptsache er weilt nicht mehr unter uns.
Die Todesstrafe wird ja als ultimative Strafe ja noch oben drauf gelegt.
Für die extra bösen Bösen. Und da - wie du ja so schön ausführtest, alle anderen Motive mehr oder weniger nichtig sind, bleibt nur ein mehr oder weniger verkappter Rachegedanke dahinter.
Und Gefängnissen in den USA sind in der Regel auch weit davon entfernt "Besserungsanstalten" zu sein. Unsere Definition von Strafe kann man nicht 1 zu 1 auf die USA übertragen.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Twilight » Sa 14. Feb 2009, 21:08

Astrella hat geschrieben:ultimative Strafe

Ob ultimativ oder nicht, ich bin immer noch der Meinung, dass der Tod keine Strafe sein kann. Strafen sind dazu da, Lektionen zu erteilen oder die Wiedergutmachung einer Tat zuerzwingen. Lernen kann ein Toter nicht. Und ändern (schon gar nicht zum Guten hin) kann sich auch nichts. Wie könnte ein Mörder seine Tat wiedergutmachen? Eigentlich gar nicht. Aber eine Unterstützung der Hinterbliebenen (zum Beispiel auf finanzieller Basis) wäre zumindest ein Schritt in diese Richtung.

Astrella hat geschrieben:verkappter Rachegedanke

Das wäre auch einer der Gründe, die nichtig sind.

Bei den letzten Beiden Sätzen stimme ich dir vollkommen zu.
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Re: Todesstrafe: ist das Leben heilig?

Beitragvon Astrella » Sa 14. Feb 2009, 22:09

Twilight hat geschrieben:
ich hat geschrieben:verkappter Rachegedanke

Das wäre auch einer der Gründe, die nichtig sind.


Warum? Wenn alle rationalen Gründe wegfallen, bleibt nur noch der übrig.
Auch wenn eine Hinrichtung noch so "human" abläuft, haben in der Regel die Menschen unglaubliche Angst davor, zu sterben.
Nur wegsperren? Nein, Todesangst soll dieser Mensch haben.
Es ist nichts anderes als der Ansatz von "Auge um Auge".
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