Mark hat geschrieben:Wir brauchen ein System welches Politiker überflüssig macht.
JEDER ist absolut gleich verpflichtet ein "Politiker" zu sein.
Das haben wir jetzt bereits. Wenn du im Supermarkt einkaufst, wenn du das Auto statt das Fahrrad nimmst, wie du dich hier im Forum verhältst, welche Entscheidungen du bei Berufs- und Partnerwahl triffst, wem du Spenden gibst oder ob du es lässt, wo du Mitglied bist, welche Medien du nutzt, wem du deine Aufmerksamkeit schenkst, wie du dich als Multiplikator von Meinung verhältst, all das sind kleine demokratische, politische Akte. Du beeinflusst, wie die Gesellschaft sich entwickelt und wie die politische Kultur aussieht. Nicht umsonst sehen wir, wenn wir in der Politikwissenschaft ein politisches System analysieren, uns nicht nur die Verfassung, sondern die Verfassungsrealität und die politische Kultur eines Landes an. Diese prägt nämlich oftmals viel entscheidender, welchen Weg ein Land nimmt.
So war beispielsweise die Weimarer Verfassung vom Ansatz her sicherer und demokratischer, als die aus losen Fragmenten bestehende britische. Trotzdem haben die Briten seit Jahrhunderten eine stabile Demokratie, während wir nur 15 Jahre brauchten, um im brutalsten Totalitarismus aller Zeiten zu enden. Genau diese Erfahrung war es natürlich auch, die uns das Grundgesetz bescherte, von dem viele Politologen sagen, dass es neben der amerikanischen die beste Verfassung der Welt ist, eine Meinung, die ich persönlich teile, auch wenn meine Sachkompetenz da vergleichsweise unbedeutend ist.
Es ist ja derzeit irgendwie Lifestyle-Bestandteil, dass man nicht wählen geht und auf dem repräsentativen System herumhackt, woher aber die ganzen "Minipolitiker" Zeit, Motivation und Sachkompetenz nehmen sollen, um Probleme zu lösen, die selbst Fachpolitikern extreme Kopfschmerzen bereiten, diese unangenehme Frage scheint sich niemand zu stellen. Auch realisiert offenbar keiner, dass unser repräsentatives System schon in der derzeitigen Ausprägung unheimlich langsam arbeitet. Schnelle Reaktionen in Krisensituationen? Das bekommt keine direkte Demokratie der Welt hin und wenn, dann kann man getrost davon ausgehen, dass die Entscheidung von Massenhysterie geprägt sein wird, wogegen die meisten demokratisch gewählten Politiker unseres Landes sich bisher doch bemerkenswert immun gezeigt haben. Seltsamerweise ist Politik eines der wenigen Fachgebiete, wo jeder sich irgendwie für umfassend kompetent hält, unabhängig von Bildungsgrad und politischer Erfahrung. Die Meinungsfreiheit führt leider zu dem bizarren Missverständnis, dass nicht nur jeder gleichberechtigt seine Meinung äußern dürfte (wahr

), sondern dass auch alle Meinungen gleichwertig seien (falsch

)
Nein, ich bleibe dabei, das repräsentative System ist das beste, was wir kriegen können.
Was derzeit größere Probleme bereitet, ist ein fundamentales Missverständnis zwischen Politikern, Wählern und vor allem den Medien, die ihre Rolle als vierte Gewalt spätestens seit dem Umzug nach Berlin immer mehr aufgeben und sich entweder instrumentalisieren lassen oder sich unreflektiert am derzeit so modischen Politikerbashing beteiligen, ohne dafür von einer generellen diffusen Unzufriedenheit abgesehen besonders viele oder gar gute Gründe vorweisen zu können. Das Kanzlerduell hat es sehr schön gezeigt: Zwei Politiker tun das, was von so vielen Seiten seit Jahren herbeigewünscht wird, nämlich einfach mal sachlich und ohne große Demagogie über politische Konzepte zu diskutieren. Sicher, die programmatischen Unterschiede stecken zwischen SPD und CDU heutzutage immer mehr im Detail, das heißt aber nicht, dass sie nicht vorhanden oder gar unwichtig wären. Das zu erklären haben die politischen Berichterstatter seit Jahren gründlichst versäumt, plump draufzuhauen ist ja auch viel einfacher ("Yes, wie gähn", BILD) und garantiert die besseren Quoten in einer DSDS-geschädigten Gesellschaft.
Umgekehrt führt wohl vor allem die immer stärkere Bedeutung von Dienstleistungen und dem Infotainment der Medien zum Missverständnis bei den Wählern, dass auch Politik soetwas wie eine Dienstleistung sei, am besten noch eine unterhaltsame. Wenn dann der Anbieter (der Staat) nicht den Kundenwünschen gerecht wird, wird über unfähige Manager (Politiker) und schlechte Kundenbetreuer (Beamte) gelästert, die eigene Bedeutung für den politischen Prozess aber nicht hinterfragt. Schuld sind immer "die da oben". Dieser Missstand wurde von Mark meiner Meinung nach (so oder ähnlich) richtig erkannt, wir brauchen aber nicht gleich ein komplett neues System - das würde an der Einstellung der Menschen nämlich auch noch lange nichts ändern -, sondern ein breites gesellschaftliches Bewusstsein dafür, wie sehr eigene Entscheidungen und schon bloße Meinungsäußerungen das politische Klima im Land prägen. Vielleicht würde dann der ein oder andere seine Worte mit etwas mehr Bedacht wählen. Es sind nicht immer nur die Politiker, die inhaltsleeren Schwachsinn erzählen, das hat der Wähler mindestens genausogut drauf und deshalb halte ich auch nichts von direkter Demokratie. Aus dem Ruf nach ihr spricht für mich auch eher der Glaube an großtechnische Lösungen, die auf einen Schlag alle kleinen, in sich verzahnten Probleme lösen können, der ultimative Befreiungsschlag - ein Mythos, der seit dem Anbeginn der menschlichen Gesellschaften gepflegt, nur leider nie eingelöst wurde.
Politische Entscheidungen erfordern Verantwortungsbereitschaft und wenn man sich ansieht, wie wenig Leute sich jetzt schon in den zeit-, kraft- nervenraubenden politischen Prozess einbringen wollen, dann kann man vor einer direkten Demokratie nur erschaudern, schließlich würde dadurch alles noch langsamer und ineffektiver werden. Allein eine Bundestagswahl kostet um die 200 Millionen Euro! Man stelle sich bitte die flächendeckende direkte Demokratie vor und allein die Heerschar an Beamten, die, mit der Bearbeitung aller eingehenden Vorschläge und Anträge beschäftigt wäre. Von Bürkratieabbau würde da erstmal niemand mehr sprechen können.
Das zentrale Problem wäre aber wohl: Seinen Senf dazugeben will jeder, handeln und Verantwortung übernehmen nur noch eine meinungsmachende Minderheit, die es irgendwie geschafft hat, in die großen Medien zu kommen, die auch mit der zunehmenden elektronischen Vernetzung nicht verschwinden werden. Wir tauschten am Ende eine relativ unabhängige politische Kaste ein gegen ein von niemandem kontrolliertes, von niemandem legitimiertes und intranspartentes Konglomerat aus Medien, Konzernen und populären Figuren, die es mit genügend Geld mindestens genausogut schaffen würden, den politischen Prozess in eine bestimmte Richtung zu lenken, wie es Politiker heute tun - mit dem Unterschied, dass die vorher anständig sortiert wurden. Und selbst, wenn wir uns alle über Twitter informierten: Wie schnell ist da ein hirnloses Gerücht in die Welt gesetzt? Nein, das direkte Demokratie funktioniert, das halte ich für illusionär. Ich halte sie sogar für wesentlich manipulationsanfälliger als ein repräsentatives System.
Allerdings, um zum Abschluss etwas versöhnliches zu sagen: Womit ich mich persönlich gut anfreunden könnte, wäre eine Verstärkung der Subsidiarität und direkter Demokratie, solange sie auf kommunale Entscheidungen beschränkt bleibt. Das ist näher an der Lebensrealität der Leute und das können sie eher überschauen und vielleicht sogar aufgrund der besseren Ortskenntnis auch bessere Entscheidungen treffen als eine Zentralstelle. Und zuletzt wird sich in der politischen Kultur dieses Landes einiges reformieren müssen - und das wird auch sicherlich geschehen, da bin ich überzeugt.