Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Warum sprichst und argumentierst du dann noch?
Weil ich nach rationalen Begründugnen suche.
Auch Rationalität findet nur innerhalb diskursorischer Grenzen statt. Einer Argumentation muss nicht gleich in eine festgefügte Ideologie eingebunden sein, aber im mindesten eine implizite Vorstellung davon "wie die Welt ist" setzt es voraus, also Prämissen, von denen aus geschlossen wird. Egal ob du jetzt deduktiv oder induktiv arbeitest, du kannst nicht urteilen ohne bereits Vorurteile (im wertneutralen Sinne) zu haben. Konzentrierst du dich auf eine Sache, schließt du eine andere aus, gehst du von einer Theorie aus, kannst du nicht gleichzeitig eine andere berücksichtigen.
Ich weiß, dass du ein großer Popper-Fan bist und Popper ist ja auch bekannt dafür, zu glauben, er hätte die eine wahre wissenschaftliche Methodik entwickelt, einen Gedanken, den du hier weiterführst, indem du (fälschlicherweise) annimmst, du könntest außerhalb der von der Diskursgemeinschaft vorgeprägten Begriffe operieren. Ich will jetzt hier nicht den ganzen Positivismusstreit wiederkäuen, aber die Quintessenz, dass auch kritisch-rationale Begründungen sich nicht außerhalb der Gesellschaft und ihrer Perspektiven bewegen, will ich hier nochmal betonen.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Ein Mord ist, was die Diskursgemeinschaft einen Mord nennt. Dem Universum (der "Natur") ist vollkommen gleichgültig, welche Begriffe wir uns ausdenken.
Das mag für die (kollektivistischen) "Diskursgemeinschaften" gelten, die ich genannt habe, nicht aber für denjenigen, der ermordet wird und der was dagegen hat.
Der, der ermordet wird, ist schlichtweg tot. Und der, der etwas dagegen hat, kann sich nicht außerhalb eines Diskurses zu Wort melden, nicht jedenfalls, wenn er Wert darauf legt, verstanden zu werden. Der Bergiff "Mord" und seine Definition erlangen erst Bedeutung innerhalb des diskursorischen Kontextes. Außerhalb dessen ist das, was wir "Mord" nennen, einfach ein unbewerteter, nicht interpretierter, nicht benannter, nicht einmal als solcher erkannter physikalischer Vorgang.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Gandalf hat geschrieben:Aber genausowenig wie es einen Grund gibt ein Krankenhaus deswgen abzuschaffen, weil dort Menschen sterben, gibt es einen Grund an der objektiven Gesetzmäßigkeiten zu zweifeln, nur weil diese nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind.
Aber dank der libertären Propheten wissen wir ja, wo es lang geht. Naja, naturalistischer Fehlschluss, das übliche halt...
Kannst Du auch begründen, worin der Fehlschluss in obiger Aussage bestehen soll? Es geht hier um objektive Gesetzmäßigkeiten, die weder als gut noch als böse definiert sind. Worin besteht die Wertung?
Niemand bezweifelt, dass es objektive Gesetzmäßigkeiten gibt, aber die Frage, ob ein Krankenhaus geöffnet oder geschlossen bleiben soll, ist eine normative. Wenn man das Krankenhaus schließt, werden Menschen an Krankheiten sterben, wenn man es geöffnet lässt, vermutlich erheblich weniger. Und wenn man jemanden erschießt, dann ist die Gesetzmäßigkeit, dass durch das Eindringen eines beschleunigten Metallkörpers in den Körper dieser so manipuliert wird, dass er seine Fähigkeit, die eigene Entropie zu verringern, verliert (d.h. in unseren Begriffen "stirbt"). Das Erkennen solcher Gesetzmäßigkeiten ist wichtig, aber es sagt uns nicht, wie und ob es gut ist, zu leben.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Leicht angreifbarer Text, voll von "das wird doch niemand anzweifeln"- und "wo kämen wir auch hin"-Phrasen. Wenn man mal auch nur ein wenig Diskursanalyse betrieben hat, wird man eher schmunzeln müssen über diese naive Selbstüberzeugtheit.
Du siehst also ein das hier kein unangreifbarer "Gott" oder "Ideologe" spricht, sondern jemand, der Begründung gibt, die man hinterfragen kann und soll?
Ja, das sehe ich, aber ich habe schon überzeugendere Texte gelesen, die man trotzdem hinterfragen konnte. Und mit überzeugender meine ich die Begründungsstruktur, nicht die rhetorische Gewandheit. Denn rhetorisch auf den Putz hauen kann Hülsmann ja offenbar durchaus.
Gandalf hat geschrieben:Ist Dir der Unterschied zwischen einer (rationalen) 'Theorie' und induktiv gewonnen Wertvorstellungen udn Weltanschauungen (Ideologien) geläufig?
Mir scheint, dass du damit deinen Versuch meinst, dein gesellschaftliches Idealbild mit dem kritischen Rationalismus zu kreuzen. Anscheinend willst du moralische Überlegungen durch die Mangel des Falsifikationismus pressen, in der Hoffnung, zu einer objektiven Moral zu gelangen. Und dabei machst du einen zirkulären Purzelbaum: Um prüfen zu können, was richtig ist, muss man alles dem Falsifikationismus unterwerfen, und, weil ja sonst der Falsifikationismus eingeschränkt wird, für maximale Freiheit sorgen, so dass möglichst viele Modelle ausprobiert werden können. Falsifikationismus gelingt nur unter den Bedingungen maximaler Freiheit und nur maximale Freiheit kann zur Verbesserung durch Falsifikationismus sorgen. Aber wenn es tatsächlich nur
eine wahre, rationale Theorie der Gesellschaft gäbe, die sich durch den Falsifikationismus ja früher oder später durchsetzen müsste, wäre es ja mit der Freiheit irgendwie kurioserweise nicht mehr weit her.
Gandalf hat geschrieben:Nein, das war eine Begründung, warum es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Rolle von staatlichen Instanzen gibt. Kontrollinstanzen, die den Herrschenden abgerungen wurden und ständig in Gefahr sind, von Herrschaftssüchtigen für ihre eigenen Zwecke vereinnahmt zu werden. Da in der Historie ein hoher Blutzoll von den Freiheitsfreunden gezahlt wurde, ist eine hohe Sensibilität gegenüber Herrschaftsansprüchen von "Gutmenschen" gerechtfertigt.
Dazu gehört es Mißstände auch manchmal 'wort-gewaltig' beim Namen zu nennen, da dies das einzige (friedliche) Mittel ist, das Freiheitsfreunden bleibt, wenn Vernunft die Oberhand behalten soll.
Ich würde dir niemals unterstellen, Gewalt anwenden auch nur im Ansatz in Betracht zu ziehen, deine Prinzipientreue nehme ich dir ab. Die Frage ist nur, ob du den Staat
wirklich brennen sehen wollen würdest.
Kurzer Exkurs dazu, angelehnt an den Artikel "Unzivile Gesellschaften" von Helmut Dubiel (hab ich hier vor einem Jahr oder so schonmal zitiert):
Ich sehe eine starke Zivilgesellschaft ebenfalls als elementares Gegengewicht zum Staatsapparat. Und mehr noch, je besser diese Zivilgesellschaft funktioniert, desto mehr kann und sollte sich der Staat auch zurückziehen. Allerdings kann sich paradoxerweise eine starke Zivilgesellschaft häufig erst im Windschatten eines starken Staates (aber nicht jedes beliebigen starken Staates) entwickeln, weil der die Sicherheit für Leib und Leben garantiert.
Staatliche Gewalt muss umso härter auftreten, je unziviler eine Gesellschaft ist. In unzivilen Gesellschaften, beispielsweise Nachkriegsgesellschaften nach Bürgerkriegen, muss überhaupt erst mal wieder ein Gewaltmonopol errichtet werden, das zur organisierten Konfliktlösung gebraucht wird. Ist ein Rechtszustand wiederhergestellt und eine gemeinsame Rechtsordnung gefunden, kommt es zur überhaupt erstmals wieder Versachlichung der Konflikte. Es gibt festgelegte und ritualisierte Formen der Streitschlichtung, Fremdzwang muss in Selbstbeherrschung transformiert werden,existenzielle „Feinde“ werden zu strategischen „Gegnern“, ein Krieg der Worte statt ein Krieg der Waffen setzt ein.
Erst in modernen, kulturell und ökonomisch hochgradig differenzierten Gesellschaften kann aber ein wahrhaft ziviler Zustand einsetzen, in dem die Rolle des Staates von der eines Richters sich zurückziehen kann auf die eines Mediators. Eine lange Erfahrung von Sicherheit sorgt durch Vertrauen für die Fähigkeit der Bürger, „bürgerschaftlich“ zu handeln. Die höchste Stufe ist die demokratische Öffentlichkeit, wo die Konfliktführung in Form immanenter Kritik stattfindet. Es herrscht ein permanenter Diskurs über die gemeinsamen normativen Grundlagen und methodisches Vorgehen (also exakt das, was wir hier den halben Tag machen). Der „Dritte“ (der Richter, Herrscher, die Vaterfigur) ist vollständig internalisiert, die Streitparteien können sich selbst einigen → die Interessen und Motive anderer werden von vornherein reflektiert und berücksichtigt.
Ich führe das deshalb mal aus, weil ich gern mal klargestellt haben möchte, dass ich kein Fan eines bevormundenden Staates bin. Aber ich halte ihn als institutionellen Rahmen für den Großgruppendiskurs notwendig, und der ständige Diskurs ist notwendig, damit die Gesellschaft ihren friedlichen Zustand bewahren kann.
Hier würde übrigens auch meine Kritik an manchen Libertären ansetzen, die der Meinung sind, die Ermöglichung des Bildens von Parallelgesellschaften und das private Aufrüsten zur Selbstverteidigung würden Sicherheit und Frieden herbeiführen. Das wäre genau die diskurs- und dialogvermeidende Regression, die in Zustände des gegenseitigen Unverständnis und Bedrohungsgefühls führen würde.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Schon interessant, wie du Anderen vorwirfst, dass sie ihre Meinung der Gesellschaft aufdrücken wollen - das ist ja so gar nicht das, was du gern tun würdest.
Welche Mittel soll ich denn haben, Dir oder jemand anderem hier irgendwas aufzudrücken?
Deinen Alarmismus könnte man manchmal schon als Drohung verstehen.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben: Gandalf hat geschrieben: "Die Angst vor dem (freien) Markt - ist die Angst vor dem Leben"
Erinnert mich an diesen somalischen Rebellenkommandeur, der in Blackhawk Down zu Michael Durant sagt "You Americans live long, dull, uninteresting lives." Aber komischerweise wandern die Leute nicht nach Somalia ein und aus den USA aus.
Und was hat Somalia - ein "Musterbeispiel" für maföse Fanlienclans und Beziehungswirtschaft - mit einer freien Marktwirtschaft zu tun, in der die individuelle Leistung im Rahmen einer Verfahrensgerechtigkeit zählt?
Die Leute gehen da hin, wo Sicherheit herrscht. Der freie Markt, der gewisse Vorteile mit sich bringt, bringt den Nachteil von Beschleunigung, Anpassungsdruck und Selektion mit sich. Wer individuelle Leistung nicht in dem Rahmen erbringen kann, in dem sie nötig wäre, um den Anschluss zu halten, fällt ins Nichts. Alles was ich sagen will, ist, dass nicht jeder auf der Suche nach dem Thrill ist, den ein Leben in der freien Marktwirtschaft mit sich bringen würde, auch wenn das den unabhängigkeitsfreudigen, unternehmerischen Libertarismusanhängern vielleicht seltsam erscheinen mag.
Gandalf hat geschrieben:Ich finde es überhaupt nicht "komisch", das die Leute aus Somalia auswandern - hin zu einer (noch) frei(er)en Marktwirtschaft, in der sie sich einbringen dürfen. Ähnliche Wanderbewegungen dürften uns hier aus Rumänien und Bulgarien unmittelbar bevorstehen. Die ersten sind schon hier. Und die ich kenne sind "hungrig" für sich selbst zu arbeiten und zu leben. (und sie werden jeden Mindestlohn unterbieten um dieses Ziel zu erreichen) Wie gedenkt ihr Planwirtschaftler ihnen ihren Erfolgsstreben und Lebenshunger zu vermiesen? Mehr Gesetze - höhere Steueren? Kriminalisieren?
Ich bin ja für den Fall aller Migrationsschranken und die EU-weite Erlaubnis für jeden EU-Bürger, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (allerdings natürlich verbunden mit den üblichen Pflichtabgaben). Ich bin auch kein übermäßiger Fan des Mindestlohns. Insofern, nein, ich befürworte keinen vorgesetzten gesetzlichen Interventionismus an dieser Stelle.
Gandalf hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Soll vorkommen, oder, dass Kinder an Orten rumlaufen, an denen sie nichts verloren haben?
Eben - sie betrachten das Leben noch als eine Herausforderung und machen sich wenig Gedanken über (ver)planbare (Lebens-)Risiken.
Ja, und das ist das, was sie dann umbringt in Baustellen. Freie Marktwirtschaft mit vollem Körpereinsatz.

Gandalf hat geschrieben:Vielleichst ist die Krankenversicherung der Ansicht, dass sie nicht zuständig ist für die Begleichung von Schäden, die von Dritten verursacht wurden? Gut, das Nötigste wird schon irgendwie gemacht werden, man kann ja nicht seine Kunden sterben lassen, sitzt das Kind halt den Rest des Lebens im Rollstuhl.
In vielen anderen Ländern nicht mal das. - Was änderst Du hier durch diese Feststellung?
Ich impliziere, dass es a) staatliche Abschreckungsmaßnahmen geben muss, die vermeidbare Unfälle auch vermeiden und b) ein Solidarsystem auch dann für Schäden aufkommen muss, wenn die Gemeinschaft nicht Verursacher war.
Gandalf hat geschrieben:typsich induktivistischer Fehlschluss: Je mehr Schilder und Regeln, um so sicherer das Autofahren...
Schonmal in Afrika Auto gefahren?
Das ist eine tolle und beobachtungswürdige Sache, aber eben nicht grenzenlos extrapolationsfähig:
Wikipedia:Shared Space hat geschrieben:Verkehrsplaner diskutieren darüber hinaus den Einsatz in der Stadt. Ein Beispiel ist die umgestaltete Kensington High Street in London. Obwohl Bordsteine, Ampeln und Straßenmarkierungen belassen wurden, sind wesentliche Merkmale des Shared Space erkennbar. So gibt es keine Verkehrszeichen, keine Absperrungen, mehr Platz für den Fußverkehr und provozierte Unsicherheit durch Fahrradstellplätze auf dem Mittelstreifen. Zwei Jahre nach Fertigstellung waren die Unfallzahlen um 44 Prozent geringer, daher streben auch andere Städte ähnliche Lösungen an.
Die Kensington High Street in London zeigt jedoch auch, dass mit größerem Verkehrsaufkommen gewisse Regeln unabdingbar sind.
Und mehr habe ich hier nie gesagt: Komplexität muss durch Regeln beherrschbar gemacht werden.