von Nanna » So 4. Okt 2009, 14:29
Der gesunde Menschenverstand hatte sicherlich seinen Anteil, allerdings sehen wir doch gerade an der derzeitigen Situation, dass er alleine selten ausreicht, sondern dass er eine Machtbasis braucht, die ihm zur Durchsetzung verhilft.
Um nochmal den entscheidenden Unterschied zu skizzieren:
In der islamischen Welt gibt es einen Laien-Klerus, der keinerlei institutionalisierte Hierarchie besitzt - was nicht heißt, dass es keine gibt, aber die Grenzen sind schwammiger und es gibt keinen zentralen Kopf wie den Vatikan. Im Westen dagegen war die Religion schon immer institutionalisierter und damit auch angreifbarer und hatte auch einen anderen machtpolitischen Status, da jeder, der die Kirche angriff auch gleichzeitig - willentlich oder unwillentlich - die Religion attackierte. Dazu kommt, dass es seit dem Investiturstreit vor fast 1000 Jahren eine grundlegende Trennung von Kirche und Staat gab. Das Vorhandensein dieser beiden Sphären führte zwangsläufig zu Machtkonflikten, die das aufstrebende Staatswesen, das seinen Höhepunkt im modernen Nationalstaat fand, letztlich für sich entschied. Man sehe sich nur die Geburtsstunde des Nationalstaats, die französische Revolution an, das war auch ein brutaler Machtkampf gegen die Privilegien der klerikalen Institutionen - die es im Islam so eben nicht gab und die deshalb auch nicht als Feindbild taugten.
Natürlich spielten die Aufklärer eine sehr wichtige Rolle, aber eine politische Idee wie die Säkularisierung hat eben nur Durchsetzungschancen, wenn die Zeit reif für sie ist, genau wie beispielsweise der Kommunismus seine Attraktivität erst entfaltete, als der Manchesterkapitalismus ein großes Proletariat geboren hatte. In einem bayerischen Kuhdorf mit traditionellen Sozialstrukturen wäre Marx folgerichtig wohl kaum auf Resonanz gestoßen. Man darf auch nicht vergessen, dass die Aufklärer anfangs religiös waren und den Prozess zum Naturalismus hin Hand in Hand mit dem Ausgreifen des Nationalstaates auf alle möglichen Bereiche machte. Weder Ideen noch Machtinteressen dürften da alleine der Motor gewesen sein, sondern sich eher in einem dialektischen Prozess gegenseitig angetrieben haben.
Als die echten Totengräber der Kirche und damit langfristig des traditionellen Christentums entpuppte sich daher das aufstrebende Bürgertum, das mit seinem hohen Bildungsgrad einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem alten Adel hatte, in der Wirtschaft und dem Beamtentum aufstieg und schließlich auch politisch Macht einforderte, was zu einer Feindschaft des frühen Nationalstaates (aufgekommen durch den Westfälischen Frieden, der das Ende eines der schaurigsten Religionskriege der Geschichte besiegelte) gegenüber dem Klerus führte. Als Beispiel sei hier nochmal die Französische Revolution, aber auch die Säkularisation (Reichsdeputationsbeschluss 1803) und natürlich als Höhepunkt der sozialistische Staat mit einer extrem etatistischen Ideologie angeführt.
Um jetzt nochmal auf den Islam zurückzukehren: Eine Trennung der Sphären gab es nie und damit auch keinen Machtkonflikt, in dem religiöse und weltliche Führer um die Macht gestritten hätten. Religion und weltliche Politik stehen sich im Islam nicht diametral gegenüber, stattdessen ist die Religion eine Art Überbau, die bis zum Aufkommen des Islamismus (eine gänzlich von modernen westlichen Begriffen durchsetzte Ideologie) auch kaum politisch im Sinne einer Ausgrenzung von Ungläubigen instrumentalisiert wurde. Ideen wie das Gottesgnadentum gab es nicht, Machtkämpfe wurden immer als sehr weltliche Angelegenheit zwischen verschiedenen Dynastien und Stämmen gesehen, weshalb sich eben auch keine stammes- und dynastienübergreifende Institution wie die Kirche ausbilden konnte, die dann durch sozialen Wandel weltliche Ableger wie Städte oder andere öffentliche Institutionen produzierte, also die Keimzellen des modernen bürokratischen Staates legte und somit ihren eigenen Nachfolger heranzüchtete.
Etwas übersichtlicher als ich hat das Malise Ruthven in einem kleinen Reclam-Heftchen "Der Islam" auf S.24ff. im Kapitel "Erfolge und Mißerfolge des islamischen Staates" formuliert, auch sonst ein nettes, gut zu lesendes Überblickswerk über den Islam für alle, die sich dafür interessieren.