provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Es gibt natürlich eine bei den Linken geteilte Abneigung gegenüber hoher sozialer Ungleichheit, aber doch nicht primär und schon gar nicht allein aus Habgier und Missgunst heraus.
Die Missgunst spielt aber schon eine nicht unwesentliche Rolle, auch wenn sie freilich nicht alles erklärt, das wirst auch du zugeben.
Die Frage ist, bei wem sie das tut. Bei den linken, rational argumentierenden Theoretikern wahrscheinlich in der Mehrzahl eher weniger. Bei wütenden Angehörigen der unteren Mittelschicht, die Slogans wie "Wir zahlen nicht für eure Krise" intelligent finden, wohl schon eher. Allerdings kann man natürlich auch missgünstig sein und trotzdem Recht haben, das eine sagt über das andere erstmal nichts aus. Und ist Missgunst nicht letztlich auch eine zentrale Triebfeder des Kapitalismus?
provinzler hat geschrieben:Sich nix dreinreden lassen, aber auch die andern in Ruh lassen. Das ist so in etwa die Lebensphilosophie. Meine Uroma hat ihre Bauernrente komplett an die Kirche gespendet, weil sie es als Beleidigung empfand, Almosen zu kriegen. Für Leute, für die das Private politisch ist, natürlich absolut untragbar.
Als ob deine Uroma damit nicht politisch gehandelt hätte.

Ich finde diese Lebensphilosophie ja persönlich auch erstmal sehr sympathisch. Du gibst aber schon selbst den entscheidenden Hinweis, nämlich dass deine Uroma ein Mensch war, der offenbar sehr gut und standfest in moralischen Kategorien denken und auch danach handeln konnte. Zudem wird sie, wenn ich mal annehme, dass sie über einen bescheidenen Lebensstil auf dem Dorf in festen Sozialstrukturen nicht hinausgekommen ist, wenig Möglichkeiten gehabt haben, durch ihren Lebenswandel die Gesellschaft zu destabilisieren. In urbanen, dynamischeren und schnelllebigeren Kontexten mit um Potenzen größerer Komplexität stößt so eine Form der Lebensführung aber schnell an ihre Grenzen und wird auch nicht von allen gelebt werden können; nicht nur unbedingt übrigens aus Missgunst, Habgier oder Boshaftigkeit heraus, sondern auch weil Einzelne ihr Handeln in komplexen Zusammenhängen schwer überblicken können. Auf dem Dorf mit einer bescheidenen Landwirtschaft mag es ökologisch angehen, Fleisch zu essen, aber wenn in der Stadt jeder jeden Tag ein Pfund Fleisch aus Massentierhaltung in sich hineinschaufelt ohne, anders als der aufmerksame Bauer, zu registrieren, was das mit der Natur macht, entsteht Regelungsbedarf. Und das ist jetzt noch eines der trivialeren, wenig abstrakten Beispiele.
provinzler hat geschrieben:Schließlich wissen überspitzt gesagt, meine lieben Mitmenschen ja besser als ich, welche Unterhosen am besten für mich sind.

So blöd es für dich klingen mag, aber wenn deine Unterhosen aus Asbest wären, hätte ich Verständnis für deine lieben Mitmenschen. Und wir können uns halt nicht alle darauf verlassen, dass du dich vor jedem Unterhosenkauf eingehend über Material, Herstellungsbedingungen und Umweltfreundlichkeit informierst (oder es, allein zeitlich, überhaupt kannst) und es als dein Eigeninteresse ansehen wirst, hier zumindest gewisse Mindeststandards einzuhalten. Da wir täglich mehrere hundert größere Entscheidungen treffen (und Entscheidungen so ziemlich das anstrengste sind, was das Gehirn leisten kann) macht es durchaus Sinn, dass erstmal mit einem grobmaschigen Kontrollnetz diejenigen Unterhosen ausgesiebt werden, bei denen es klare moralische Einwände gegen den Verkauf gibt.
provinzler hat geschrieben:Hier wiederhole ich die Frage, die ich dir an andrer Stelle und in andrem Kontext schon vor 4 Jahren gestellt hatte: Warum zum Henker ist es für manche so schwer zu ertragen, dass ich bin wie bin? Warum meinen dauern Menschen, sie müssten wir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Warum sollte ich irgendwas tun oder meinen müssen, nur weil alle das tun?
Ich bin der Meinung, dass du hier eine gewaltige Herausforderung des menschlichen Zusammenlebens ungerechtfertigterweise auf eine Frage von
fashion reduzierst, so, als ginge es darum, dass deine Klassenkameraden deine Schuhe nicht mögen. Darum "wie du bist" geht es aber gar nicht und wenn du dich dafür permanent angegriffen fühlst, solltest du dich fragen, ob du dich da nicht ein bisschen zu wichtig nimmst. Du hast in deinem Lebenswandel weitgehende Autonomie, deutlich weitergehende wahrscheinlich, als man im Dorf deiner Uroma hatte, wo man sich vermutlich als Mann schwer getan hätte, mit pinkgefärbtem Irokesenschnitt und Silbersteckerchen im Ohr oder ähnlichen eigentlich nur oberflächlichen Extravaganzen nicht der dörflichen Verachtung anheim zu fallen. Und selbst in diesem Fall wäre das alles eine gesellschaftliche Frage, keine staatliche. Auch zwei Sachen, die du manchmal nicht klar genug auseinander hältst, finde ich.
provinzler hat geschrieben:Ich verlange von niemanden, dass er mich mag. Ich verlange aber, dass er mich auch dann in Ruhe lässt, wenn er das was ich tue für falsch hält, solange ich niemanden irgendwas zu Leide tue.
Auf den unterstrichenen Absatz kommt es an. Es ist leiderverdammt schwierig, im dicht besiedelten Mitteleuropa zu leben, ohne irgendjemandem auf die Füße zu steigen, häufig sicherlich unabsichtlich, aber trotz allem mit demselben Ergebnis. Und natürlich behauptet es sich leicht, man habe niemandem geschadet, wenn man 20t CO2 jährlich in die Atmosphäre geblasen hat, weil kein direkt Geschädigter so einfach auszumachen ist. Zusammenleben auf engem Raum erfordert Regeln, das solltest du als familienaffiner Mensch gut wissen. Und diese Regeln können auch nicht permanent offen für Verhandlungen oder Sonderwünsche sein. Wenn fünf Familienmitglieder vier unterschiedliche Urlaubsziele im Blick haben, gibt es nunmal Enttäuschte und man hat nicht immer die Option, ein Familienmitglied einfach zuhause zu lassen, sowohl aus organistorischen Gründen wie auch um des Zusammenhalts der Gemeinschaft willen, der in anderen Situationen vielleicht von größter Wichtigkeit ist. Dann wird halt einer gezwungen, an die Adria mit zu fahren, obwohl er unbedingt nach England wollte. Und auch wenn es im Großen um andere Themen geht, ist das Grundproblem erstmal das gleiche, nämlich dass manchmal weder eine schwarz-weiße Friss-oder-stirb-Lösung möglich ist (à la "mach mit oder hau ganz ab") und aber auch keine Extrawürste gebraten werden können, weil das Regelsystem auch so schon unheimlich komplex ist.
provinzler hat geschrieben:Und das gilt insbesondere auch für dieses komische Gebilde namens Staat, das mir vor einigen Jahren ein höfliches Schreiben zusandte die gesetzlich Renten"versicherung" sei ab jetzt "immer für mich da". Warum zum Henker sollte ich nicht die Freiheit haben, mein Leben ohne die zu verbringen? Das Risiko namens Leben auf die eigenen Kappe zu nehmen? Und ich wär auch niemandem böse, falls ich damit letztlich auf die Schnauze fallen sollte.
Ja, vielleicht können wir aber nicht verantworten, dass wir gescheiterte Mittvierziger einfach dahinkrepieren lassen, wenn sie "auf die Schnauze gefallen" sind. Vielleicht geht das mit unserem Verständnis einer mitmenschlichen Gesellschaft nicht auf dasselbe Blatt Papier. Vielleicht wollen wir nicht, dass wir im Alter dafür sorgen müssen, dass wir dich am Ende doch mitversorgen müssen und für deine Fehlschläge blechen müssen, ohne dass du uns jemals etwas dafür zurückgegeben hast. Vielleicht gibt es die Option "Vollkommener Ausstieg" für dich als Menschen einfach nicht, vielleicht passt das schlichtweg nicht zu unserer Eigenschaft als sozialem Tier. Vielleicht sind wir auch der Ansicht, dass deine Fitness etwas ist, was dir mindestens zu einem Teil durch den Umstand deiner Geburt in einen bestimmten Ort und durch bestimmte Gene zugefallen ist und vielleicht empfinden wir es als unverständlich, dass du die Wahl bekommen solltest, dich auszuklinken, während ein - durch denselben Zufall der Geburt - dummer und schwacher Mensch diese Option nicht besitzt. Vielleicht können wir nicht akzeptieren, dass jemand, der keinerlei Solidarität zeigt, einen Platz in unserer Mitte verdient hat.
Ob das heißt, dass du unbedingt in die gesetzliche Rentenversicherung musst, sei mal dahingestellt. Aber einen minimalen Beitrag musst du als starkes Mitglied der Gemeinschaft einfach leisten und ich bin da durchaus gewillt, von einer mitmenschlichen Pflicht zu sprechen, die zur menschlichen Existenz als sozialem Wesen schlicht und ergreifend dazugehört. Die Diskussion über die Details, wie man das organisiert, wäre sicherlich deutlich einfacher zu führen, wenn du das als Grundlage akzeptieren könntest.
stine hat geschrieben:Deine Ausführung liest sich ja hervorragend, aber linke Machthaber selber machen doch vor, wie es sich gut leben lässt. Natürlich auf Staatskosten und nicht auf Eigenleistung.
Was meinst du damit genau?
stine hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Aber die Zeiten der traditionellen Kernfamilie sind vorbei und kommen aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht wieder. Das Ehegattensplitting wurde damals aus bestimmten gesellschaftlichen Gründen eingeführt, und es wird demnächst aus bestimmten gesellschaftlichen Gründen wieder abgeschafft werden, je nachdem wer die nächste Wahl gewinnt halt ein paar Jahre früher oder später. Und das ist ok so.
Woher willst du das wissen?
Mütter arbeiten aus ihrer guten Laune heraus gerne doppelt so viel? Meinst du das?
Babys werden gerne in die Krippen gebracht, weil sie absolut für Mamas Berufstätigkeit Verständnis aufbringen und der Papa freut sich, weil er abends seine disponierenden Fähigkeiten noch beim Einkauf beweisen kann und am Wochenende die Wäsche waschen darf.

Wie gesagt, die Kita ist für mich kein Schreckensort. Und was das Ehegattensplitting angeht, so hat das mit Müttern und Vätern überhaupt nichts zu tun, sondern nur mit Ehepaaren, unabhängig von der Existenz irgendwelchen Nachwuchses. Dass ich den gefördert sehen will, habe ich eigentlich deutlich gemacht, aber warum wir kinderlose Ehepaare subventionieren sollen, sehe ich nicht ein.
provinzler hat geschrieben:Und wer darf definieren, wie lange oder ob überhaupt Kritik an unterschiedlichen materiellen Verhältnissen "berechtigt" ist?
Unabhängig davon, wie man diese Frage nun beantworten wollte: Du denkst mir zu viel und zu oberflächlich über das "Wer" nach. Das Wer ist irrelevant, wenn die Definition stimmig und anwendbar ist. Es gibt Argumente, die für und gegen die Kritik an materieller (Un)Gleichverteilung sprechen, aber du konzentrierst dich mehr darauf, wer sie äußert, als darauf mit welcher Begründung diese Argumente versehen werden. Und darum sollte es doch eigentlich in einer Diskussion gehen, oder nicht?
Für Gandalfs historischen Exkurs fehlt mir gerade die Zeit, vielleicht die nächsten Tage. Nur das: Ich weiß, dass Marx bürgerlich war, aber seine Lehren haben erst über die Arbeiterschaft ihre Reichweite erlangt. Im Übrigen rede ich hier auch nicht dem Sozialismus das Wort, sondern mache nur darauf aufmerksam, dass die Stilisierung des Sozialismus als Mordmaschine weder mit den Intentionen der Macher noch den Hoffnungen der Unterstützer vereinbar ist. Und ihr würdet euch einen riesigen Gefallen tun, wenn ihr aufhören würdet, Menschen mit linker Einstellung als das personifizierte Böse anzusehen und lieber mal nach Schnittmengen suchen würdet, eben z.B. mal untersuchen würdet, wie viel ihr gemeinsam habt in eurer gemeinsamen Ablehnung von Oligarchien.