pinkwoolf hat geschrieben:1von6,5Milliarden hat geschrieben:Ein "schönes" Leben rechtfertigt keine tödliche Quälerei zum Schluss.
Darüber lässt sich trefflich streiten. Ich als Raucher wähle diese Alternative ganz bewusst; und andere Menschen mit absonderlichen Hobbys tun dieses ebenfalls.
Der Kampfstier verfügt über diese Wahlfreiheit allerdings nicht. Verfügt er überhaupt über irgendeine Freiheit? Ist die Freiheit des Individuums auf Tiere anwendbar?
Ist die Freiheit des Individuums denn auf den Menschen anwendbar? Anders gefragt, wählst du das Rauchen wirklich bewusst oder liegt hier eine Mischung aus genetischer Disposition und äußerer Einflussnahme durch Erziehung, gesellschaftliche Kultur, Marketing usw. vor und du bildest dir deinen freien Entschluss nur ein? Vielleicht wirst du ja von der Tabakindustrie instrumentalisiert?
Aber zum eigentlichen Punkt:
Vielleicht kennen hier einige den Film "Die Insel". Da werden in einer hochtechnisierten Geheimeinrichtung Klone von reichen Menschen als Organersatzteillager herangezüchtet. Die Klone wissen davon nichts, ihnen wird erzählt, sie seien Überlebende einer Umweltkatasptrohe und müssten in dem Gebäudekomplex ausharren. Nur ab und zu dürfen Gewinner einer "Lotterie", in Wirklichkeit nur eine durchgeplante Farce zur Erklärung des Verschwindens der Todeskandidaten, zum Urlaub auf die entkontaminierte Insel, die es in Wirklichkeit natürlich auch nicht gibt. Stattdessen werden die Menschen in OP-Säle gebracht und einige realisieren kurz vor ihrem Tod durchaus noch, was mit ihnen geschehen soll. Den Rest des Films spare ich mir mal, um die Spannung nicht vorwegzunehmen, es geht dann im wesentlichen um den Ausbruchsversuch zweier Klone.
Im Grunde passiert diesen Menschenklonen genau das, worüber wir hier reden: Sie haben ein vergleichsweise angenehmes Leben, glauben durch Hirnmanipulation beim Klonvorgang sogar, sie seien als Individuum etwas ganz besonderes. In einer gewissen Weise sind die meisten von ihnen glücklich - allerdings eben nur bis zu dem Tag, an dem ihre Besitzer einen Gesundheitsschaden haben und ihr Ersatzteillager ausschlachten lassen müssen (die Auftraggeber wissen allerdings zu ihrer Ehrenrettung nicht, dass die Klone Bewusstsein erlangen). Es kann sich jeder mal überlegen, ob er das nur für ansatzweise human hält.
Was also ist entscheidend? Die Freiheit, selbst zu entscheiden, welches Leben man wählt?
Meine Meinung: Jein;
Begründung:
- Erstens ist ja überhaupt nicht gesagt, dass es auch noch andere Möglichkeiten gäbe, nämlich weder das Leben als Fleisch- noch als Kampfrind, sondern z.B. das als braves Milchvieh, das vom Menschen, weil er es sich mittlerweile bei entsprechender Verwaltung seiner Ressourcen eigentlich leisten könnte und ein paar hunderttausend Liter Milch im Gegenzug bekommt, in seinen letzten Lebensjahren bis zu seinem natürlichen Tod noch sein Gnadenbrot erhält.
- Zweitens beinhaltet eine freie Entscheidung für mich, dass man über alle Aspekte jeder Alternative aufgeklärt ist und sie verstanden hat - erst dann kann man wirklich frei, d.h. nach seiner façon, entscheiden und (hoffentlich) selig werden. Da allein das schon quantitativ und qualitativ unrealistisch ist, wird der freie Wille, selbst wenn es ihn gibt, in der Praxis nicht die ideale, da nicht verwendbare, Lösung sein können. Ich gestehe ganz offen, dass mir hier aber auch keine Alternative einfällt.
- Drittens teile ich das Argument nicht, dass Todesart und Todeszeitpunkt gleichgültig seien, da man sowieso eines Tages stirbt. Auf dieser Schiene kann ich auch Auschwitz rechtfertigen (und nein, das ist jetzt nicht die Böser-Nazi-darüber-darf-man-nichtmal-nachdenken-Hau's-tot-Keule, sondern einfach nur eine krasse Verdeutlichung der Konsequenzen einer solchen nihilistischen Denkweise; selbst wenn das aus empirischer und normativ neutraler Sicht absolut richtig ist (dem Universum ist es egal, ob und wie Juden, Stiere, Ketzer oder kleine Kinder sterben), so folgt daraus nicht, dass diese Denkweise das richtige Umfeld für eine stabile, prosperierende und schon gar nicht humane Gesellschaft generiert).
- Viertens teile ich Kurts Meinung, dass die Rinder zwar einerseits evolutionär als Art wohl gut dran sind, dass sich aber innerlich Widerstände gegen diese Quälerei regen: Dazu will ich jedoch folgendes zu überlegen geben:
Ist das Überleben um jeden Preis wünschenswert, auch dann, wenn es in erster Linie aus Qual besteht? Gerade unter Areligiösen scheint es ja eine recht große Offenheit gegenüber Sterbehilfe zu geben, weshalb ich mal davon ausgehe, dass viele eben genau dieser Meinung nicht sind.
Dann: Sind die Rinder wirklich perfekt dran? Im Gegensatz zu ihren robusten wilden Artgenossen sind heutige, auf maximalen Ausstoß getrimmte, Fleisch- und Milchrinder ohne den Menschen nicht mehr überlebensfähig. Sie sind daher von einer anderen Art und deren Weiterentwicklung (und auch deren teilweise irrationaler Entscheidungen, z.B. Massenkeulung bei BSE-Verdacht) viel stärker abhängig, als ihre Vorfahren, je nach Rasse sogar total. Die Symbiose Mensch-Rind ist also nicht ausgeglichen, der Mensch könnte mittlerweile nämlich auch sehr leicht ohne sein Rindvieh. Sie ist noch dazu historisch nicht besonders alt. Man kann daher eigentlich noch gar keine Schlüsse darüber ziehen, ob die Richtung, in die die Rinder sich entwickeln, für ihre Art langfristig einen Erfolg darstellt. Vielleicht werden am Ende eher ein paar Andenrinder überleben, die im Gegensatz zum europäischen Fleckvieh nicht durch den Fleischwolf der Zivilisation gedreht wurden.
Zuletzt: Da Normen rational nicht letztbegründet werden können, muss die Intuition zwangsläufig bei moralischen Entscheidungen eine Rolle spielen. Wenn wir also feststellen, dass eine statistisch signifikante Menge an Menschen Widerwillen gegen unnötige (d.h. nicht dem direkten Überlebendienliche, da angesichts des Hungertodes notwendige) Quälerei von Lebewesen empfindet, sollten wir das nicht beiseitewischen. Ein intuitiver/emotionaler Widerwille ist zumindest ein Indiz dafür, dass irgendwo Sand im Getriebe ist. Beispielsweise lässt sich fragen, ob das rohe Verhalten gegenüber Lebewesen anderer Arten auch das Vertrauen der Menschen ineinander schwächt, à la "Heute töten sie nur einen Stier, aber morgen vielleicht einen Menschen?" Das würde unsere Fähigkeit zur Kooperation untergraben und die ist eines der, wenn nicht das wesentliche Überlegenheitskriterium der Menschheit. Insofern könnte man hier sogar einen evolutionären Nachteil für uns vermuten. Die Hartnäckigkeit der Tradition lässt dann nur darauf schließen, dass andere Faktoren das ausgleichen, beispielsweise der kollektive Aggressionsabbau oder die Stärkung des Gruppengefühls durch die Tötung eines symbolischen Avatars.
Sollten gerade die letztgenannten Gedanken einen Kern Wahrheit beinhalten, also dass sich hier verschiedene Faktoren die Waage halten, von denen wir einzelne vielleicht für sich genommen ablehnen, hätten wir ein vorerst unauflösbares Dilemma. Auflösbar wird es nur durch Veränderung unserer Kultur, also andere Formen der Unterhaltung/Katharsis, Gruppendruck von Vegetariern und Co., Erfindung billigen Fleischersatzes oder vielleicht einfach eine schöne globale Rinderseuche.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit für meinen ersten sachbezogenen Beitrag - für meine Verhältnisse übrigens nicht unbedingt einer der langen Sorte. Man mache mich darauf aufmerksam, wenn ich ZU viel schreibe.
