Der "Fall" Sarrazin

Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon donquijote » Mo 8. Nov 2010, 13:15

stine hat geschrieben: Was wir brauchen ist die Rückführung der Millieus in die Eigenverantwortung.

Ja schön, nur ist das leider nur ein Wunsch. Es wird nicht erklärt, wie das geschehen könnte. Und ob es überhaupt möglich ist.

Der primäre Vorwurf, den man Sarrazin gemacht hat, war, dass er evolutionstheoretisch argumentiert hat. Diejenigen, die in unserer Gesellschaft das Sagen haben, denken jedoch idealistisch. Sie glauben, dass für den Menschen physikalische Gesetze und die Evolutionstheorie nicht gelten. Deren Wirkung beschränke sich auf Flora und Fauna, wozu der Mensch nicht gehöre.

Evolutionstheoretisch würde man dagegen so denken: Lebewesen sind entropiearme Systeme. Wären sie abgeschlossen, würde ihre Entropie ständig zunehmen, d.h. ihr Wissen von der Welt abnehmen. Sie würden folglich dequalifizieren. Also brauchen sie Energie (z. B. Nahrung) und Information, um ihr Wissen zu erneuern. Da sie nicht ewig leben, müssen sie ihr Wissen in die nächste Generation bringen, zum Teil über ihre Gene, zum Teil über kulturelles Wissen. Sarrazins Behauptung war, dass die kulturellen Kompetenzen von Einzelpersonen mit deren genetischen Kompetenzen korrelieren. Gemäß ihm braucht eine menschliche Gesellschaft also nicht nur das kulturelle Wissen der Wissenden, sondern anteilsmäßig auch deren Gene, sonst dequalifiziert sie in der Zukunft. Im Grunde leiten sich seine Aussagen unmittelbar aus Fundamentalsätzen der Physik ab.

Aber wie gesagt: Für die, die in unserer Gesellschaft das Sagen haben (und sich für furchtbar schlau halten), gelten die Fundamentalsätze der Physik nur außerhalb menschlicher Gesellschaften. Die sind der Auffassung, dass es okay ist, wenn Menschen, die Eigenverantwortung zeigen, keine Kinder bekommen. Man müsste dann lediglich die Kinder von denen, die keine Eigenverantwortung zeigen, durch staatliche Einrichtungen zur Eigenverantwortung erziehen. Als Erwachsene würden diese Menschen dann ebenfalls Eigenverantwortung zeigen und jetzt auch wieder keine Kinder haben, da sie nun viel zu wertvoll für Familienarbeit sind. Aber es wird auch dann bestimmt noch immer genügend Deppen ohne Eigenverantwortung geben. Denen überlässt man die Kinderproduktion. So ungefähr stellen sich die Sarrazin-Gegner den Kreislauf der Welt vor, jedenfalls in menschlichen Gesellschaften.
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon stine » Mo 8. Nov 2010, 13:38

donquijote hat geschrieben:Man müsste dann lediglich die Kinder von denen, die keine Eigenverantwortung zeigen, durch staatliche Einrichtungen zur Eigenverantwortung erziehen. Als Erwachsene würden diese Menschen dann ebenfalls Eigenverantwortung zeigen und jetzt auch wieder keine Kinder haben, da sie nun viel zu wertvoll für Familienarbeit sind.
Bingo!
Da gehe ich mit dir konform.

Und nun kommt meine Einschätzung ( "zwinker" ): Der Mensch ist ein Naturprodukt, ein natürliches Wesen, das dazu neigt auszusterben, wenn es zuviel denkt. Ich meine in der Resttierwelt gibt es Beispiele die zeigen, dass Überbevölkerung zum gemeinsamen Suizid führen kann (Lemminge).
Vielleicht ist es natürlich, wenn menschliche Gesellschaften das derzeitiges Niveau halten?
Vielleicht ist es nicht vorgesehen, dass sie noch mehr Recourcen verbrauchen und noch mehr künstliche Intelligenzen erschaffen?
Die Natur behilft sich, indem sie die Reproduktion der intelligenten Eiferer einfach einstellt und die ewig Zufriedenen, die mit Zigaretten, Alkohol und seichter Medienunterhaltung auskommen, sich weiterreproduzieren lässt.

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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon Arathas » Mo 8. Nov 2010, 13:46

stine hat geschrieben:dass Überbevölkerung zum gemeinsamen Suizid führen kann (Lemminge).


Das ist allerdings lediglich ein urbaner Mythos, das mit dem Massenselbstmord. ;-) Es sterben halt viele Lemminge, wenn die Tierchen wegen der Überbevölkerung nach neuen Lebensräumen suchen (müssen). Aber beim Versuch zu Überleben den Tod zu finden ist natürlich kein Selbstmord.
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon donquijote » Mo 8. Nov 2010, 14:04

stine hat geschrieben: Vielleicht ist es natürlich, wenn menschliche Gesellschaften das derzeitiges Niveau halten?


Über Sibirien schreibt Wikipedia:

Russland leidet, wie viele Industrienationen, unter einem Rückgang der eigenen Bevölkerung. Zwar wachsen Ballungsgebiete wie Moskau oder Sankt Petersburg auch heute weiter, doch sehen sich gerade die Regionen wie Sibirien oder der Ferne Osten einem stärker werdenden Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung (in größere Städte oder gar ins Ausland), stagnierende Lebenserwartung und weniger Geburten ausgesetzt.
[MOD](http://de.wikipedia.org/wiki/Sibirien) - Immer Quelle angeben! (Myron)[/MOD]


Ferner:
... die Bevölkerungsdichte liegt im Mittel bei nur 2,9 Menschen pro km².
[MOD](http://de.wikipedia.org/wiki/Sibirien)[/MOD]


In Uganda leben dagegen 110 Menschen pro km². Die Fertilitätsrate beträgt aktuell ca. 6,7 Kinder pro Frau. Meinst du, in Sibirien liegt so etwas wie ein kollektives Bewusstsein (ein Gaia-Bewusstsein) vor, das da sagt: In Uganda vermehren sich die Menschen wie die Lemminge, also lasst uns mal lieber keine Kinder in die Welt setzen???
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon stine » Mo 8. Nov 2010, 16:10

Schwierige Frage.
Sarrazin würde sagen, die Sibierer haben begriffen, wieviel Mensch dem Land guttut und dieses Wissen ist genetisch verankert.
Vielleicht müsste man Ugandeer (oder wie sie heißen) nach Sibieren umsiedeln und schauen, ob sie sich da auch munter weitervermehren und die Sibierer in Unganda als Bremser einsetzen.
Wahrscheinlich macht das warme Wetter die Menschen in Uganda populationsfreudiger. Jedenfalls sind die Menschen in Uganda keine Energieverschwender, da kommen viele mit wenig aus, wogegen in Sibirien eingeheizt werden muss.
Würden die Ugandeer reicher werden und mehr Recourcen nutzen, würden sie sich eventuell auch zurückhalten mit der Fortpflanzung. Wer weiß das schon.

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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon donquijote » Mo 8. Nov 2010, 23:22

stine hat geschrieben:Würden die Ugandeer reicher werden und mehr Recourcen nutzen, würden sie sich eventuell auch zurückhalten mit der Fortpflanzung. Wer weiß das schon.


Ja, das ist alles denkbar. Wenn Frauen dort gleichberechtigt wären, Bildung erlangen könnten und Kontrazeptiva in den Bedarfsmengen erhältlich wären (was aktuell nicht der Fall ist), dann würden dort weniger Kinder in die Welt gesetzt werden. Davon gehen sehr viele Fachleute aus.

Nur ist das halt eine ganz andere Argumentation, die du davor gebracht hast, nämlich dass es mehr oder weniger die Bevölkerungsdichte sei, weswegen Menschen weniger Kinder wollen. Eine solche Hypothese gibt es in den Wissenschaften auch, aber sie lässt sich leicht widerlegen. In Sibirien ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Marktwirtschaft eingekehrt und seitdem haben die - als entwickeltes und gebildetes Land - wenige Nachkommen.

Ich finde, man sollte sich bei diesen Diskussionen an die Fakten halten: Der Hauptmotor für eine Absenkung der Geburtenzahlen ist:
- Wohlstand
- Bildung, insbesondere auf Seiten der Frauen
- Gleichberechtigung
- Leichte Verfügbarkeit von Kontrazeptiva
- Rentenversicherung

Die Familie war dafür nicht konstruiert. Die klassische Familie aus Papa, Mama, Kindern geht davon aus, dass der Vater arbeiten geht und die Mutter die Kinder aufzieht. Dann kann eine größere Familie auch dem sich beruflich weiterentwickelnden Mann folgen. Die Vorstellung aber, dass sie und er beide Karriere machen, und dann trotz der dabei geforderten Flexibilität ("das Management hat sie als neue Leiterin unserer Geschäftsstelle in Singapur vorgeschlagen") auch noch drei Kinder haben, ist eine sonnige. Sie ist nicht realisierbar, und zwar mit und ohne Krippen nicht. Für die größeren Familien sind deshalb in Zukunft neue Konzepte erforderlich (jedenfalls sofern die Anliegen von Kindern und Menschen generell noch zählen sollten).

Man würde auch überall sonst in die gleichen Probleme hineinlaufen. Wenn ein Paar ein Restaurant betreibt, er kocht, sie bedient, dann mag das gehen. Wenn beide beides gleichzeitig (paritätisch aufgeteilt) machen, dann wird der Laden ineffizient. Das wusste schon Adam Smith. Bei wenigen Gästen ("1 Kind") könnte es gehen, bei viel Betrieb ("3 Kinder") jedoch nicht mehr.
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon stine » Di 9. Nov 2010, 07:46

donquijote hat geschrieben:... geforderten Flexibilität ("das Management hat sie als neue Leiterin unserer Geschäftsstelle in Singapur vorgeschlagen") auch noch drei Kinder haben, ist eine sonnige. Sie ist nicht realisierbar, und zwar mit und ohne Krippen nicht.
Wieviele Frauen beträfe das?
Machen wir uns doch nichts vor: Die vielzitierte Karrierefrau hat doch mit ihrem Nachwuchs (sofern sie ihn nicht verhindern wollte oder konnte) noch die wenigsten Sorgen. Da sitzen das Kindermädchen, die Haushaltshilfe und der Privatlehrer längst im Beiboot.
Was wir brauchen, und darin gebe ich Sarrazin recht, ist, dass die Menschen zur Eigenverantwortung erzogen werden müssen. Gesunde Ernährung, Kochen, sowie Kinder- und Familienpflege, sollten ganz selbstverständliche menschliche Eigenschaften sein.
Die Gründung von Vorzeigefamilien, die die Unterschichtskinder gegen Bezahlung mit aufnehmen, könnte höchstens eine Zwischenlösung sein. Übrigens gibt es das in ganz argen Fällen längst.

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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon donquijote » Di 9. Nov 2010, 11:09

stine hat geschrieben: Die Gründung von Vorzeigefamilien, die die Unterschichtskinder gegen Bezahlung mit aufnehmen, könnte höchstens eine Zwischenlösung sein. Übrigens gibt es das in ganz argen Fällen längst.


1. Was sollte das sein?
2. Wer schlug das vor?
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon musicman » Di 9. Nov 2010, 11:39

stine hat geschrieben: Die Eltern aus bestimmten Millieus haben es verlernt, Verantwortung zu übernehmen und sind in der x.Generation schon unfähig, sich um das primitivste Wohl ihrer selbst zu sorgen. Man muss doch mal zur Kenntnis nehmen, dass all die kostenlosen Mittagstische und zusätzlichen Angebote für sozial Schwache das Dilemma nur verstärken.

LG stine



So ist es, die Armut steigt, je mehr Geld der Staat in soziale Transferleistungen pumpt. Das wird nicht gerne gehört, kommt es doch der Bankrotterklärung linker Ideologien gefährlich nahe.
Aber es nützt nichts, die Zahlen sind nicht bestechlich, schön zu sehen am Beispiel Bremen, seit Ewigkeiten links regiert, entläßt es 40% der Neugeborenen direkt von der Wiege in Hartz 4.

Das mit den Hilfsorganisationen stimmt ebenfalls, übrigens auch auf internationaler Ebene. Zahlreiche afrikanische Ökonomen fordern deshalb, hört endlich auf uns zu helfen. Sämtliche Gelder versickerten dort in der Vergangenheit nicht nur in den Taschen korrupter Politiker sonder auch in denen der Helfer, während die Leute in Lethargie verharrten.

Einen ähnlichen Effekt ziehen die massiven staatlichen Sozialtransfers bei uns nach sich, man sehe sich unvoreingenommen die Fakten an und man kommt an dieser Feststellung nicht vorbei.

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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon stine » Di 9. Nov 2010, 13:18

donquijote hat geschrieben:
stine hat geschrieben: Die Gründung von Vorzeigefamilien, die die Unterschichtskinder gegen Bezahlung mit aufnehmen, könnte höchstens eine Zwischenlösung sein. Übrigens gibt es das in ganz argen Fällen längst.
1. Was sollte das sein?
2. Wer schlug das vor?
Das ist die Geschichte mit der Familienmanagerin und die schlugst du selbst vor.
Aber das gehört in einen anderen Thread, da hast du recht! :mg:

Lg stine
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon El Schwalmo » Di 9. Nov 2010, 16:07

stine hat geschrieben:
donquijote hat geschrieben:
stine hat geschrieben: Die Gründung von Vorzeigefamilien, die die Unterschichtskinder gegen Bezahlung mit aufnehmen, könnte höchstens eine Zwischenlösung sein. Übrigens gibt es das in ganz argen Fällen längst.
1. Was sollte das sein?
2. Wer schlug das vor?
Das ist die Geschichte mit der Familienmanagerin und die schlugst du selbst vor.
Aber das gehört in einen anderen Thread, da hast du recht! :mg:

wenn ich es richtig in Erinnerung habe, zieht eine Familienmanagerin eigene Kinder groß. Es sei denn, die eigenen Kinder sind schon aus dem Haus und die arme Frau findet keinen besseren Job mehr, als für erkrankte Familienmanagerinnen einzuspringen oder in deren Ausbildung tätig zu sein.
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Re: Der "Fall" Sarrazin

Beitragvon donquijote » Di 9. Nov 2010, 17:17

stine hat geschrieben: Das ist die Geschichte mit der Familienmanagerin und die schlugst du selbst vor.


Nö, das ist etwas anderes. Eine Familienmanagerin ist normalerweise die Mutter ihrer eigenen Kinder. Und für deren Aufziehen wird sie bezahlt. Sollte sie vorher mal "Unterschicht" gewesen sein, ist sie es dann gewiss nicht mehr.
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