Twitternde Politik, Jammernde Journalisten

Twitternde Politik, Jammernde Journalisten

Beitragvon Lumen » Do 7. Apr 2011, 11:43

Die Situation um den twitternden Regierungssprecher erhält mit dieser Pressekonferenz eine sehr erheiternde Note, die ich euch nicht vorenthalten wollte. Kurzer Hintergrund: Der Regierungssprecher nutzt seit kurzem den Internet-Dienst Twitter um über die aktuelle Situation zu informieren. Journalisten sehen das eher nicht so gerne, da sich somit jeder direkt informieren kann und Journalisten ihren Wissensvorsprung einbüßen. Die Fragen und Kritik die sich in der Pressekonferenz zeigen, wirken eher putzig aber die Situation ist bei einem zweiten Blick nicht ganz so trivial. Die Medien sollen eigentlich als „4. Gewalt“ neben den drei staatlichen Gewalten (Exekutive, Judikative und Legislative) als Kontrollinstanz wirken, die bei der Meinungsbildung hilft—beispielsweise indem Fehlentwicklungen bekannt werden und Wähler dieses Wissen in ihre Wahlentscheidung einbeziehen können.

Wie aber bereits in manchen anderen Threads hier deutlich geworden, scheinen Journalisten, ähnlich wie Politiker an Ansehen verloren zu haben. Ich möchte in dem Thread daher weniger auf Meinungsmache, oder Bildzeitung eingehen, sondern vielmehr den Schwerpunkt bei der „neuen Öffentlichkeit“ durch Internet, Blogger und Twitter setzen. Wenn wir annehmen, Medien sind wirklich so schlecht, manipulativ, propagandalastig wie sie häufiger gesehen werden: Welche Effekte haben Foren und Blogs insgesamt? Ist es nicht so, dass Menschen nach wie vor das lesen, was tendentiell ihre vorgefassten Ansichten bestätigt (gemäß Bestätigungsfehler)? Wie seht ihr eine twitternde Regierung, eine pod-castende Kanzerlin und bloggende Politiker? Geht eventuell kritische Distanz (beim Bürger) verloren? Können Medien überhaupt als 4. Gewalt funktionieren oder ist das nur eine Übertreibung der Medienschaffenden, oder sind Blogger da besser geeignet? Meine Fragen sind aber nur Anknüpfpunkte, zwitschert drauf los, was euch in den Sinn kommt.
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Re: Twitternde Politik, Jammernde Journalisten

Beitragvon 1von6,5Milliarden » Do 7. Apr 2011, 12:39

Da sehe ich zwei Fragen: 1. wie Einflussreich ist die Presse tatsächlich und 2. kann Twitter die freie Presse ersetzen.

Zweiteres ist m.E. leichter zu beantworten: Nein.
Was ein Politiker "twittert" oder "blogged" oder twittern/bloggen lässt, ist ja bis auf kleine Ausnahmen/Ausrutscher ja nichts außer Propaganda.
Aber Journalisten könnten recherchieren, nachhorchen, Plausibilitäten durchleuchten, Indiskretionen aufschnappen (die - wie auch Guttenberg relativ sicher gezeigt hat - natürlich auch verlogenen Propaganda sein kann).
Dazu ist ein Twitter- oder Blog-Leser im Durchschnitte nicht fähig und wohl auch nicht unbedingt willens.
Dass Journalisten selber auch nur verlängerte Arme oder gar selber Ursprünge von Propaganda sein können, dies ist "natürlich" auch gegeben. (Feller, Löwenthal, Bild, Schnitzler etc.)

Die erste Frage, nach der Macht der Medien ist schon schwerer zubeantworten. Zwar hat die SPD auch gegen Springer, Feller und Löwenthal mal den Kanzler gestellt, aber danach nicht mehr. Auch Schröder wurde wohl von der Bild-Zeitung gemocht. Aber ist dies Beweis? Noch kräftiger rührt wohl die Sun für oder gegen einzelne Politiker/Parteien die Wahltrommel, aber ist es Bewis? Oder springt dieser Boulevard nur sehr früh auf das richtige Gleis? Schließlich hat bei der letzten britsichen Unterhauswahl nicht nur Brown verloren und Cameron gewonnen (so wie es die Sun gewollt hat), sondern auch die Liberaldemkraten haben kräftig gewonnen. Trotzdem scheint die Sun auf jeden Fall durchaus ein gehörige (und m.E. "schlechte") Macht zu haben, die Springer mit RTLSAT1Pro7 zusammen und zum Glück (noch) nicht hat.
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Re: Twitternde Politik, Jammernde Journalisten

Beitragvon Nanna » Do 7. Apr 2011, 19:03

In besagtem Spiegelartikel stand, dass die Wahlwerbung der BILD-Zeitung sich wohl recht wenig in tatsächlichen Wählerzahlen niederschlägt. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass die BILD ein Gossenblatt ist, das vermutlich einen überdurchschnittlichen Anteil an Nichtwählern in der Leserschaft besitzt.

Ich halte BILDs Macht für beschränkt, sieht man mal von der vielgenutzten Fähigkeit ab, über das Ausplaudern intimer, oft sogar erfundener, Details ganze Privatleben zu ruinieren. Im Bezug auf das politische System hängt meiner Meinung nach sehr viel von den Rezipienten ab. BILD lebt, denke ich, mehr von seinem Mythos als Kanzlermacher und dem Ruf seiner medialen Vernichtungsmaschinerie, als von der tatsächlichen Reichweite ihrer politischen Slogans. Wenn natürlich Leute schon kuschen, weil sie BILD fürchten, erreicht das Blatt auch sein politisches Ziel, allerdings eben nicht über Wählermobilisierung.

Was ich bei BILD neben der Missachtung persönlicher Rechte für am gefährlichsten halte, ist die Macht, falsche Tatsachen in die Welt setzen zu können oder Stimmungen zu kreieren, die sich dann für Ewigkeiten nicht aus der Welt kriegen lassen. Man denke beispielsweise an die Berichterstattung zur sich abzeichnenden Klemme Griechenlands.

edit:
So, jetzt habe ich ja doch zum falschen Thema geschrieben.

Deshalb schnell noch was substantielles zum Thema hinterdrein: Ich halte weder Blogs noch Twitter für irgendeine Form von Ersatz für die klassischen Medien. Erste Auswertungen der Einbindung des Like-Buttons von facebook in die Seiten mehrerer Zeitungen haben wohl ergeben, dass um die 70-80% der konsumierten und weiterempfohlenen Artikel Boulevardthemen behandeln. Ich denke, dass sich das verlustfrei auf Twitter und die Blogosphäre übertragen lässt. Zudem sind Blogs natürlich von Leuten gemacht, die grundsätzlich erstmal keine Ahnung, sondern nur eine Meinung haben müssen. Das ist bei den klassischen Medien schon besser, nicht jeder kann für den Spiegel schreiben. Gerade in der Auflösung der klassischen Zeitung mit vorgefertigter Reihenfolge und dadurch ausgedrückter Artikelrelevanz sehe ich auch die Gefahr, dass viele Leute gar nicht mehr mit bestimmten Themen konfrontiert werden. Das dürfte zur Steigerung des Bestätigungsfehlers (schöner Ausdruck) beitragen.

Was ich im Bereich der neuen Medien eher interessant finde, sind kollektive Investigativarbeiten, z.B. Guttenplag oder Influence Networks (ZEIT Open Data Blog: Influence Networks – Masse macht Einfluss).
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Re: Twitternde Politik, Jammernde Journalisten

Beitragvon stine » Fr 8. Apr 2011, 07:04

Da unsere Gesellschaft hoffnungslos überaltert ist und die Mehrheit der "Alten" noch keinen Zugriff auf die so selbstversändliche Medienwelt der Jugend hat, glaube ich nicht, dass Twitter oder Ähnliches den Printmedien derzeit das Wasser abgraben könnte.
Das Journal der Zukunft wird die die Internetseiten 1:1 abdrucken, um sie dem computerlosen Rest der Welt auch nahe zu bringen.
Die Journalisten sollen nicht jammern, sondern die Gegenwart nutzen, um ihren Lesern/Zuhörern die Zukunft zu erläutern. Noch ist Butter bei die Fische.

LG stine
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