Also diese Mode, unser Regierungssystem für völlig mies zu halten, obwohl Staatsrechtler und Politikwissenschaftler es für eines der besten der Welt halten (die deutsche Verfassung gilt als das beste Verfassungsdokument der Welt neben der amerikanischen Verfassung), geht mir ja schon etwas auf den Senkel. Klar, verbesserungswürdig ist immer etwas, aber es ist etwas anderes, ob man sich für Optimierung ausspricht oder so tut, als lebten wir in einem völlig maroden Staatswesen.
mat-in hat geschrieben: es gibt dann für 4 Jahre keinerlei kontrollorgan, man kann schalten und walten wie man möchte, vollkommen ohne rücksicht auf das, was man auf dem wahlplakat stehen hatte.
Natürlich gibt es Kontrollorgane. Wir haben ein rechtsstaatliches repräsentativ-demokratisches System mit Gewaltenteilung! Es gibt das unabhängige Bundesverfassungsgericht, die anderen Bundesgerichte (Bundesverwaltungsgericht z.B.), es gibt den Bundestag mit nicht grundsätzlich garantierter Mehrheit für Regierungsvorhaben, es gibt den Bundesrat mit wechselnder Konstellation auch während der Wahlperiode und es gibt die Medien und die Öffenlichkeit, die sich nicht derart alles bieten lassen, wie du es hier implizierst. Schraub mal die Apokalyptik ein bisschen zurück.
Die meisten Regierungen würden übrigens gerne verwirklichen, was sie bei der Wahl versprochen haben, schließlich ist das einerseits im Groben das, was die Parteimitglieder selbst als gesellschaftlichen Zustand wünschen, andererseits sichert es die Wiederwahl wie nichts sonst. Dass die Erwartungen häufig enttäuscht werden, liegt nicht zuletzt daran, dass Regieren nicht so einfach ist und so viel Gestaltungsspielraum lässt. Regieren ist nicht Agieren im god-mode, es ist Austarieren unzähliger Partikularinteressen unter den Bedingungen von Zeitdruck, lückenhaftem Wissen, Mehrdeutigkeit und begrifflicher Unschärfe (beispielsweise "bessere Lebensbedingungen schaffen", was heißt das nun konkret?), kurz, unter der Knappheit aller Ressourcen (Geld, Zeit, Kraft, Kompetenz).
Politik ist schmutzig, dynamisch, unfertig und kompromissreich, der politische Betrieb kann mit heutigen Mitteln nie in eine schnurrende Zufriedenheitsmaschine verwandelt werden und daran ist genuin weder der Wähler schuld, der die falsche Partei wählt (de facto sind alle der vier relevanten Parteien halbwegs guten Gewissens wählbar, die Linkspartei mit größeren Abstrichen auch noch), noch moralisch verkommene Politiker. Es würde auch nicht besser, wenn die Wahlperiode verkürzt, ein Rätesystem eingeführt oder der "gute König" das Land übernimmt.
Auch deine "Wahl von Themen und Aufgaben" bleibt völlig im Ungefähren. Was soll das für ein Kontrollorgan sein, das eine offenbar eine dicke Machtkonzentration haben soll und dann auch noch der Regierung die Handlungsfreiheit nimmt? Wir leben in einer dynamischen Umwelt, die Wahlversprechen von gestern können heute schon wieder von der Realität überholt sein (Krieg, Finanzkrise, Umweltkatastrophe), wie soll das dann geregelt werden? Da schimmert nur wieder die nächste Erlösungsutopie durch und die Sehnsucht nach einer statischen Welt, wo ein Organ überwacht (und realistischerweise überwachen kann), dass das Land auch nicht vom rechten, guten Weg abkommt.
Weißt du, woher ich das kenne? Aus dem Iran. Da heißt es "Wächterrat", daneben gibt es auch den "Expertenrat", beides Organe, die andere Organe überwachen und deren Arbeit auf Konformität mit dem Islam überprüfen. Gebracht hat es nichts, der Iran liegt wirtschaftlich darnieder und selbst unter konservativen islamischen Gelehrten setzt sich teilweise langsam die Meinung durch, dass der Iran kein wahrhaft islamisches System sei. Diese Räte (demokratisch legitimiert, ohne Witz!) haben also keines der gesteckten Ziele erreichen können. Das mag nicht 1:1 auf die Idee der Piraten umsetzbar sein, weißt aber darauf hin, dass wir es hier nicht gerade mit einer Selbstläuferidee zu tun haben. Und überhaupt, Überwachungskomitees, was ist mit deinem Vertrauen in die kritische Öffentlichkeit? Brauchen wir jetzt auch noch jemand, der die Kontrolle der Regierung für uns übernimmt, weil wir nicht mehr in der Lage sind, als politisch interessierte Bürger die Zeitung zu lesen? Das ist doch Selbstverachtung.
Falls du ein paar Euro und ein wenig Zeit zum lesen übrig hast, kauf dir "Das politische System der Bundesrepublik Deutschland" von Wolfgang Rudzio. Man muss seinen Gegenstand kennen!