von Nanna » So 4. Dez 2011, 23:28
@Lumen:
Danke für die Ausführung, die fand ich nämlich recht sinnvoll. Das zentrale Problem scheint tatsächlich darin zu bestehen, wo man die Grenze zwischen einer notwendigen Mindesthomogenität und der aus der Inanspruchnahme persönlicher Freiheit resultierenden Vielfalt zieht - und, was man mit Milieus macht, in denen kulturelle Homogenität erwartet wird, was sowohl Konflikte mit den Abweichlern innerhalb der Gruppe erzeugt als auch mit der liberalen Außenwelt, die sich von harten Parallelkulturen möglicherweise bedroht sieht.
@stine:
Religion und der Umgang mit ihr sind Kultur, da gibt es keinen Grund, diese außenvor zu lassen. Ich bin aber, da sind wir vielleicht mehr auf einer Linie, nicht der Meinung, dass man Religion per se als ursächliches Übel in kulturbezogenen Konflikten ausmachen kann. Eher ist es so, dass Religion sich aus ihrem historischen Anspruch heraus, totale Welterklärungssysteme anzubieten, als besonders effizienter Brandbeschleuniger eignet, weil ihre Symbole eine starke Massenintegrationskraft besitzen und sich daher leicht für ingroup-outgroup-Definitionen hernehmen lässt. Von daher muss man Religion unbedingt einbeziehen, sollte sich aber vor allzuschnellen Pauschalisierungen hüten.
@Teh Asphyx:
Ich kenne Corinne Maier nicht. Mich erinnert der selbstgerechte Stil irgendwie an einen frustrierten Außenseiter, der seinen Mangel an Gemeinschaftsgefühl dadurch kompensieren muss, dass er sich feixend in die Ecke stellt und seine überlegene Individualität zelebriert. Ich bin kein übermäßiger Gruppenmensch und ich fürchte die Dumpfheit der Masse, aber sich auszuklinken und so zu tun, als ginge einen das eigentlich alles gar nichts an, so wie es im Zitat irgendwie mitschwingt, halte ich auch für wenig produktiv.
Persönliche Lebenserfahrung ist halt immer eine Statistik mit Stichprobe n=1 (Zitat ujump). Du bestätigst im Grunde meine Bedenken gegenüber dem zentralen Fluch der Kulturalismusdebatte, nämlich dass jeder seine stark emotional gefärbte Privatdefinition in den Ring wirft und sich hinterher alle wundern, dass alle aneinander vorbeireden. Das ist natürlich gerade in diesem sensiblen gesellschaftspolitischen Feld fatal.
Dein Appell an die gegenseitige Aufmerksamkeit gefällt mir zwar sehr gut, aber gieß das mal in ein integrationspolitisches Programm. Sobald du mit größeren Gruppen als deinem persönlichen Umfeld operieren musst, kommst du schnell um simplifizierende Aussagen und Symbolpolitik nicht mehr herum, weil die Masse nunmal so gut wie immer dumm ist. Das ist nicht die Schuld der Masse; Komplexität muss nunmal reduziert werden, wenn das Individuum sich zurechtfinden soll, also geschieht ein automatische Drift zu einem gemeinsamen Zentrum, die ein natürlicher Prozess ist und nichts mit Repression oder Lüge zu tun hat, auch wenn eigenwillige Abweichler, die im Übrigen ein notwendiges Korrektiv und häufig der Träger von Innovationen sind, das anders sehen mögen.
Auch hier will ich nochmal den Organspende-Thread als Beispiel anführen: Die einen halten den Zwang zur Entscheidung über die Spendenbereitschaft für Repression, die anderen für eine aufgrund des hohen Streitwerts (Menschenleben) zumutbare Konfrontation, die z.T. mit kulturellen Argumenten (Humanismus, Menschenrechte, christliche Ethik) begründet wird. Der Konflikt entsteht aber im System, ohne von irgendjemandem beabsichtigt worden zu sein. In sozialen Zusammenhängen findest du solche Betriebsprobleme, die häufig eben über die Externalisierung auf kulturelle Leitbilder gelöst oder zumindest eingedämmt werden, sehr häufig. Die gemeinsamen kulturellen Ideen dienen hier als soziales Schmiermittel und zur kommunikativen Eichung, so dass halbwegs sichergestellt ist, dass unter ähnlichen Symbolen auch ähnliche Dinge verstanden werden und überhaupt Kommunikation möglich ist. Und natürlich dienen sie letztlich auch der Disziplinierung, die für ein funktionierendes Zusammenleben nunmal erforderlich ist.
Was mir missfällt, ist, dass du die sozialtechnische Dimension von Kultur völlig außenvor lässt und rein normativ argumentierst. Wenn alle Kultur menschenverachtend ist, dann kann ich nur lapidar feststellen, dass eine menschenachtende Existenz in diesem Universum wohl nicht möglich ist. Um es mal wieder mit Feynman zu sagen: "You don't like it here? Go somewhere else... where the rules are simpler!" Du magst das als Resignation sehen, ich sehe es als Pragmatismus, der die notwendige Grundlage für erfolgreiches Handeln ist. Und ich bin nicht depressiv oder mutlos deshalb. Nur vielleicht etwas, wie stine sagen würde, demütig.
@Darth Nefarius:
Siehst du, wir mögen es beide nicht, wenn man unser Gesagtes ignoriert. Also in medias res:
Was du zum Problem der Monokultur sagst, kann ich so weitgehend unterschreiben, auch wenn ich die Verkürzung von Personen, die irgendetwas mit Religion zu tun haben, auf Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben, ziemlich ungelungen finde. Nur Fundamentalisten definieren sich ausschließlich über eine singuläre kulturelle Eigenschaft und ihre jeweiligen Symbole (z.B. den Schleier). In einer modernen Zivilgesellschaft findest du stattdessen überall das Phänomen der Mehrfachidentitäten vor, d.h. Personen fühlen sich zu verschiedenen Milieus, Weltanschauungs- und Symbolsystemen hingezogen und scheuen sich meist nicht, dies auch äußerlich zu zeigen. Daher siehst du in der Fußgängerzone auch Frauen, die Schleier und Minirock gleichzeitig tragen und das als Einheit und nicht als Widerspruch begreifen. Deshalb halte ich die Diagnose, dass "man" sich über die Kultur (was auch immer das sein mag, und wieder grüßt das Definitionsproblem) definiert, auch für eine Phantomfeststellung. Die meisten Leute sind nicht derart auf ein Kennzeichen versteift und selbst diejenigen, die sich für die Vertreter einer reinen kulturellen Lehre halten (Islamisten beispielsweise), nehmen häufig eine Menge Anleihen bei anderen kulturellen Gedankensystemen (so ist der Islamismus beispielsweise eine lupenreine, genuin moderne jakobinische Ideologie, die der historische Mohammed nichteinmal verstanden hätte, wenn man sie ihm erklärt hätte). Ungewollt oder nicht sind wir sowieso nach Jahrtausenden menschlicher Entwicklung alle Produkte multikultureller Traditionen, die zentrale Frage ist, wie wir, nachdem uns das langsam bewusst wird, mit der ganz vielgestaltigen Soße umgehen.
Natürlich kommen wir immer wieder zum selben Punkt zurück, den auch Teh Asphyx angesprochen hat, nämlich, dass man irgendwie aufeinander achten muss. Aber ich sehe das eigentlich als Ausgangs- und nicht als Endpunkt der Multikulturalismusdebatte an. Man hat festgestellt, dass man gesamtgesellschaftlich mit dem ganzen Pluralismus irgendwie umgehen muss, gut, schön, dass wir soweit mal sind, aber jetzt wird es doch erst richtig interessant. Was tun wir mit den ganzen heißen Eisen, die sich daraus ergeben? Zwingen wir Einwanderer zum Erlernen unserer Sprache, müssen muslimische Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen, dürfen religiöse Schüler in der Schule oder Uni beten, erlauben wir Homeschooling, dulden wir Nazis, nach welchem Familienrecht werden Einwanderer behandelt, wenn Eheschließung etc. im Ausland unter anderen Rechtsbedingungen erfolgten, bekämpfen wir Gentrifizierung, verbieten wir Minarette und nächtliches Kirchengeläut, das Wort zum Sonntag, die Rundfunkräte, dulden wir Punks am Bahnhof und Bettler in der Innenstadt... usw.? Was tun wir denn konkret bei widerstrebenden kulturellen Normen?
Im Rahmen irgendwelcher Salonphilosophie lässt sich ja bequem irgendeine normativ reine Position beziehen, aber der Witz an der Sache ist ja, dass eine pluralistische Gesellschaft widersprüchliche, hässliche Realität in Reinform ist. Und in dieser Realität leben eben viele Menschen, die keine philosophisch gebildeten Leute sind und mit extremindividualistischen Konzepten, wie sie viele hier sympathisch finden, wohl nichtmal unbedingt etwas anfangen könnten. Das Faktum, dass Kleidung für viele Leute Ausdruck der persönlichen Identität ist und dann doch jedes Jahr fast alle dasselbe tragen, ist ein anschaulicher Beleg dafür.
Ich halte eine pauschale Beantwortung der Multikulturalismusfrage, wie schon gesagt, ohne penible Begriffsdefinition für unmöglich, aber wenn ich ein kurzes persönliches Fazit ziehen soll, dann würde ich sagen: Ich sehe durchaus Wert in einer lose verbindlichen Allgemeinkultur, einem gewissen Set an normativen und ästhetischen Vorgaben, das wie ein Gerüst stabilisierend auf die Gesellschaft wirkt. Ich halte einen kulturellen Rahmen, der über die in Gesetzen formulierten Mindestanforderungen hinausgeht für durchaus sinnvoll. In den meisten o.g. Beispielen würde ich für eine vorsichtige Mittelposition stimmen, die zwar kulturelle Eigenheiten respektiert, aber nicht das Primat des demokratischen Staates verletzt, also z.B. habe ich kein Problem mit dem Wort zum Sonntag oder Kirchengeläut, aber lehne Homeschooling oder rituelle Gebete an Bildungseinrichtungen ab.