Ist unsere Welt esoterischer geworden?

Re: Ist unsere Welt esoterischer geworden?

Beitragvon Vollbreit » Do 8. Mär 2012, 10:02

Celtic hat geschrieben:Meiner Beobachtung nach besteht grundsätzlich ein Trend zur Patchwork-Religion, nicht nur im Bereich der Esoterik: Da heute jeder schnell und unkompliziert übers Internet Informationen zu anderen Kirchen/Religionen/Glaubensgemeinschaften einholen kann und es in der Praxis keinen dogmatischen Druck mehr auf die Gläubigen gibt, kann sich ganz einfach seine eigene Religion und Weltsicht aus einem schier unbegrenzten Reservoir selbst zusammenbasteln.


Kann gut sein, es würde zum gegenwärtigen Trend passen.

Celtic hat geschrieben:Selbst "evangelikale" Christen, die sich selbst als "bibeltreu" bezeichnen, picken sich Bibelstellen, die zu ihrem Weltbild passen heraus - und relativieren bzw. ignorieren den Rest.


Da kann ich Nanna nur zustimmen, alles ist Interpretation, ohne geht gar nicht.

Celtic hat geschrieben:Im Katholizismus glaubt kaum noch jemand das "volle Programm", wie es im Kathechismus steht. Auch da suchen sich die Gläubigen einen Aspekt des christlichen Glaubens heraus, der zu ihnen paßt.
Ich habe einen mehrjährigen theologischen Kurs gemacht, auch da war die Bandbreite des persönlichen Glaubens ungemein groß. Vor ein paar Jahrhunderten wären die meisten Teilnehmer (und auch einige Dozenten) als Ketzer öffentlich verbrannt worden. :wink:


Ja, so erlebe ich das auch, dass die Meinungen der Gläubigen sehr abweichend sind und von fundamental bis sehr liberal alles zu finden ist.
Celtic hat geschrieben:Darüber hinaus gibt es die Tenzenz, Lehren anderer Religionen mit einzubauen. Nicht wenige Christen glauben an eine Wiedergeburt, Lichtwesen, Magie, Astrologie oder den üblichen Aberglauben (schwarze Katzen, Glückspfennige, kosmische Energien, linksrum gerührte Suppe oder vergleichbaren Blödsinn). Auch hier ist die Auswahl schier unerschöpflich. :clairvoyance:

Es ist ungemein spannend, wenn jemand etwas über seinen ganz persönlichen Glauben und sein Bild von der Welt erzählt... man muß einfach nur zuhören.


Ich finde es immer interessant zu sehen, was daraus folgt und was nicht.
Die Einstellung sich seine Religion selbst zu basteln hat einfach den Nachteil, dass die Heilskraft flöten geht. Wenn ich alles aus meinem Weltbild streiche, was beschwerlich und unangenehm ist also keine Opfer bringe, welcher Art auch immer und mein Gott der große Wellnessgott ist, dann bringe ich mich um den Effekt, den Verzicht, Beschränkung usw. für mich hätten.
Ironischerweise hätte man das gerade von der Esoterikbewegung lernen können.
Wer sich meinetwegen mit Astrologie beschäftigt, wird das Urprinzip Saturn (Steinbock) kennen, der das Prinzip der Reduktion, des Verzichts, der Beschränkung repräsentiert.
Astrologieanhänger hatten aber nichts Besseres zu tun, als möglichst auch hier, Wege zu finden, den bösen Saturn zu umfahren, so wurde auch daraus wieder eine Nullnummer.
Man hätte es bei Goethe, der Motivationspsychologie oder der Hirnforschung finden können, es ist einfach so, dass wenn man sich Ziele setzt und diese auch erreicht, das ein besserer Weg zum Glück ist, als wenn man vollversorgt und in Watte gepackt wird.
Die ritualisierte Mischung verschiedener Prinzipien, verschiedene Arten des Verzichts, aber auch des Dankes, der Ekstase, der Verrücktheit, des Lebens und des Todes mit einzubeziehen und rituell zu zelebrieren ist eigentlich sehr intelligent, schon die alten Tragödieninszenierungen sollen darauf abgezielt haben, leider sind unsere Massenveranstalungen oft sehr uniform gestaltet.
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Re: Ist unsere Welt esoterischer geworden?

Beitragvon stine » Do 8. Mär 2012, 11:39

Beim Lesen deines Beitrags @Vollbreit, fällt mir auf, dass wir als Gesellschaft zwar das "Glück" und das "Wohlergehen" anstreben, zur Ablenkung aber genau das Gegenteil suchen. Computerspiele, Aktionfilme, auch der Sonntagskrimi uvm, sprechen nämlich eine andere Sprache. Der Mensch sucht anscheinend doch die persönliche Herausforderung, aber nur, wenn es ihm selbst nicht weh tut.
Traumschiff und Volklore sind intellektuell so verpönt, dass sich unsere Großeltern verstecken müssen, wenn sie das abends vor dem Fernseher genießen wollen.
Wo ist jetzt der Unterschied?
Die Großeltern hatten ihren Streß mit der Wirklichkeit, die finanziell gesicherte Generation der Kriegsdienstverweigerer nicht.
Aber vielleicht ist das wieder ein anderes Thema.


LG stine
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Re: Ist unsere Welt esoterischer geworden?

Beitragvon Celtic » Do 8. Mär 2012, 13:38

Vollbreit hat geschrieben:Die Einstellung sich seine Religion selbst zu basteln hat einfach den Nachteil, dass die Heilskraft flöten geht. Wenn ich alles aus meinem Weltbild streiche, was beschwerlich und unangenehm ist also keine Opfer bringe, welcher Art auch immer und mein Gott der große Wellnessgott ist, dann bringe ich mich um den Effekt, den Verzicht, Beschränkung usw. für mich hätten.


Was in Religionen als "Heilskraft" vorhanden ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Oder meinst Du mit dem Begriff den inneren Zusammenhalt einer Religionsgemeinschaft?

Beim Thema Opfer wird die Sache heikel: In der Bibel bringen die Israeliten Gott Opfer dar, um ihn gnädig zu stimmen. Ob das sinnvoll ist, bezweifle ich aus meiner heutigen Sicht. Wer dagegen z.B. aus humanitären Gründen Geld für die Opfer einer Naturkatastrophe spendet, handelt i.d.R. aus einer anderen Motivation heraus. Und dann gibt es noch die Gruppe derer, die ganz bewußt auf Dinge wie z.B. Fleischkonsum oder einen aufwendigen Lebensstil verzichten, weil sie einsehen, daß das ökologisch oder gesundheitlich sinnvoll ist. Der Sinn eines Opfers variiert je nach Blickwinkel des Betrachters.

Und Du hast natürlich vollkommen recht, daß die rituelle Verarbeitung von leidvollen Erfahrungen wie Tod und Krankheit schon eine intelligente Sache sind. Das ist ein Punkt, den die "Wellnessreligion" nie und nimmer abdecken kann. Leider verspielt das Christentum gerade diese Kompetenzen, indem nahezu die gesamte Kirche an Glaubwürdigkeit verliert und sich sehr viele Menschen enttäuscht abwenden.
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