*seufz*
Du merkst gar nicht, was für eindimensionalen Schwärmereien du da anhängst und dass das, was du da vorhast, nicht nur unproduktiv in dem Sinne ist, dass es nicht zu dem Zustand führen wird, den du dir erhoffst, sondern auch noch schlichtweg gefährlich ist.
Dissidenkt hat geschrieben:Herrschaft des Volkes.
Das ist eine Phrase. Es beginnt schon damit, dass es kein "Volk" als handelnden Akteur gibt oder geben kann. Vielleicht hört sich das wie Haarspalterei in deinen Augen an, aber das ist es nicht. Im Gegenteil steckt genau hier schon eine grundfalsche Erwartungshaltung drin, nämlich dass es ein "Volk" gibt, das besser als "die Politiker" weiß, was gut für es ist. Wie ich gleich zeigen werde, kann eine derart umfassende Volksherrschaft aber nichtmal theoretisch zufriedenstellend konstruiert werden.
Ich habe genau darum nach klaren Definitionen gefragt, weil sich diese basisdemokratischen Fantasien immer nur gut anhören, solange man ein sehr simplifiziertes Bild von Politik hat. Sobald man in die Details geht, merkt man, dass diese Ideen hinten und vorne nicht aufgehen.
Dissidenkt hat geschrieben:Jeder Bürger muss das Recht haben, an allen gesellschaftlichen Entscheidungen, die sein Leben betreffen, direkt teilhaben zu können.
Das klingt toll, bringt aber gar nichts:
Es kann nicht
jeder Bürger an den ihn betreffenden Entscheidungen teilhaben:
- Das hieße, dass grundlegende gesellschaftliche Fragen permanent neu verhandelt werden müssten. Das werden sie natürlich, sogar jetzt schon, aber man ist zu Recht vorsichtig damit, permanent dieselben Fragen neu zu behandeln, weil das keinerlei Verlässlichkeit mehr bieten würde.
- Du unterschätzt die rein numerische Gesamtzahl an Entscheidungen, die im parlamentarischen Betrieb getroffen werden. Das Einarbeiten in nur
einen Gesetzentwurf benötigt so viel Zeit, dass entweder nicht
jeder Bürger an
allen Entscheidungen teilhaben kann, es also aus pragmatischen Gründen entweder eine Enthaltung in über 99% der Fälle geben muss oder doch ein Repräsentationssystem.
Dissidenkt hat geschrieben:Der politische Diskurs muss raus aus Hinterzimmern und rein in die Öffentlichkeit und zwar derart, dass alle Entscheidungen transparent und demokratisch herbeigeführt werden. Gesetze dürfen nicht von Lobbyisten geschrieben und einer Handvoll Politiker abgenickt werden, sondern Gesetzesvorhaben müssen in öffentlicher Konkurrenz von Interessengruppen formuliert und von einer einfachen Mehrheit angenommen werden.
Der politische Diskurs findet nicht in den Hinterzimmern statt, sondern öffentlich im Bundestag und in den Medien. Vielleicht kommt das deiner persönlichen Rezeptionsweise von Information nicht entgegen, es ändert aber nichts an der Tatsache. Die Formulierung von Gesetzesvorhaben findet bereits genauso statt, wie du es schilderst: Sie werden in öffentlicher Konkurrenz (jeder Bürger, Politiker und Journalist kann diese Vorhaben einsehen!) von Interessengruppen (Parteien, vielleicht etwas altmodisch, aber immer noch das beste Modell einer transparenten (!) Interessenvereinigung, in Deutschland übrigens mit der Verpflichtung zu innerparteilicher Demokratie, was bei sonstigen Lobbygruppen nicht der Fall wäre) formuliert und müssen mit einer einfachen Mehrheit der gewählten Repräsentanten angenommen werden.
Es hat einen simplen Grund, warum vieles wie Hinterzimmerpolitik wirkt, siehe nächsten Absatz:
Dissidenkt hat geschrieben:Beispiel: Schusswaffen
Die Sportschützenlobby kann selbstverständlich einen eigenen Gesetzentwurf formulieren. Genauso können dies Opfergruppen oder andere, die an einem umfassenderen Verbot oder Kontrolle von Schusswaffen interessiert sind. Die Gruppen bekommen Zeit ihre Gesetze zu formulieren und die Akzeptanz im voraus in Umfragen zu testen. Schlussendlich werden alle Initiativen zur Abstimmung gebracht und die Mehrheit des Volkes entscheidet.
Ist dir eigentlicht auch nur annähernd klar, über was für eine Anzahl von Gesetzen wir reden? Es gibt jährlich allein im Bundestag etwa 250 Gesetzesvorhaben (
siehe bundestag.de). Das bedeutet, dass die Bürger im Schnitt alle eineinhalb Tage über ein Gesetz auf Bundesebene abstimmen müssten, ungeachtet der Landesgesetze und Kommunalverordnungen, die sicher nochmal ähnliche Größenordnungen haben. Und wir reden hier nicht über Zweizeiler, sondern über Gesetze, an denen häufig kiloweise Schriftsätze dranhängen.
Der simple Grund, warum sich schon heute kein Mensch für das Gesetzgebungsverfahren interessiert, ist, dass es langweilig, kompliziert (und zwar nicht wegen des Verfahrens, sondern wegen der Fülle der zu bearbeitenden Fragen) und für den Laien überfordernd ist. Wenn Phoenix durchschnittliche Einschaltsquoten von unter 1% hat, dann brauchen wir nicht zu spekulieren, wieviel Leute das
Parlamentsfernsehen ansehen. Das tut - effektiv - niemand, obwohl da genau die Öffentlichkeit stattfindet, die du einforderst. Es gibt auch keinen Grund, anzunehmen, dass sich das ändern würde, wenn die Bürger plötzlich selbst entscheiden könnten. Empirische Beispiele gibt es genug, ich ziehe meine aus der SZ vom 06.06. heran:
Beim Bonner "Bürgerdialog zum Haushalt" haben sich dieses Jahr 1740 Personen beteiligt, das sind etwa 0,5% der Einwohner. Im Vorjahr hatten sich wenigstens noch 12.000 Personen beteiligt, aber offenbar haben viele das Interesse an einer langfristigen politischen Beteiligung verloren, obwohl der Prozess ziemlich offen gestaltet ist. Ähnlich mies sieht es bei Liquid Feedback der Piratenpartei aus oder bei Adhocracy der Bundesregierung. Man kann ja argumentieren, dass diese Projekte noch nicht genug sind oder dass sie zu kompliziert in der Handhabung wären oder was weiß ich. Aber die extrem schlechten Mitmachzahlen sprechen nun auch nicht gerade dafür, dass das Bedürfnis nach Mitbestimmung derart extrem ist, sonst würden selbst die kompliziertesten Plattformen engagierter genutzt oder wäre zumindest der Schrei nach ihrer Verbesserung lauter.
Das Problem liegt, und das lässt sich empirisch zeigen, nicht in den Präsentationsformen, sondern woanders und - für dich unglücklicherweise - in der Natur der Sache. Der Politikwissenschaftler Markus Linden, der zur Repräsentation und Partizipation forscht, hat festgestellt, dass sich die Menschen bei direkter Partizipation sehr schnell zurückziehen, wenn die Themen zu komplex werden, und zwar egal, bei welchem Thema und egal, wie die Partizipation technisch organisiert ist! Was ebenso auffällt, ist, dass Lobbygruppen solche Partizipationsformen nutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, etwa in Bürgerhaushalten für ihre Projekte Gelder freizusetzen, indem sie die schlecht besuchten Haushalte mit ihren eigenen, über Mailinglisten organisierten Mitgliedern überschwemmen, die dort alle einseitig abstimmen. Deshalb sind solche offenen Veranstaltungen häufig deutlich weniger repräsentativ für die Wünsche, Bedürfnisse und Sozialstruktur der Bevölkerung als das Parlament. Da die Einarbeitung in die Themen einen irren Zeitaufwand bedeutet, wird sich daran auch nichts ändern. Aufmerksamkeit ist begrenzt. Nur weil du den Bürgern plötzlich Zugriff auf alles mögliche gibst, heißt das nicht, dass sie anfangen sich dafür zu interessieren - oder dass sie deshalb bessere Entscheidungen treffen würden.
Der Einfluss von Lobbygruppen, um das auch noch anzusprechen, ist darüberhinaus im freien Wettbewerb viel problematischer als unter der Käseglocke des Parlaments, auch wenn du das subjektiv wohl anders einschätzen würdest. Empirisch zeigt sich dieser Effekt aber beispielsweise in Gestalt der Super-PACs in den USA, die sich nach der Entscheidung des Supreme Courts letztes Jahr gebildet haben, die zum Inhalt hatte, dass Privatpersonen und Konzerne beliebig viel Geld an Wahlkampfteams spenden können, sofern diese nicht direkt mit dem Kandidaten kooperieren. Die Folge ist, dass der amerikanische Wahlkampf immer mehr zu einer Marketingveranstaltung derjenigen wird, die das nötige Kleingeld haben, die immensen Kampagnen anzuschieben. Und so wie viele Leute Markengetränke oder Markensüßigkeiten kaufen, weil ihnen dies von der Werbung eingetrichtert wird, wählen sie am Ende auch die Leute, deren Gesicht von früh bis spät über sämtliche Bildschirme flimmert. Glaubst du wirklich, dass die milliardenschwere Waffenlobby in einem freien Spiel der Kräfte von den "vernünftigen" Bürgern in die Schranken gewiesen würde?
Dissidenkt hat geschrieben:Wir brauchen keine Politiker.
Wir sprechen in der Sozialforschung im Zusammenhang mit Politikern von einer sogenannten Funktionselite. Dazu sind zwei Dinge zu sagen:
1. Der Verzicht auf eine Funktionselite, am konsequentesten durchgesetzt bislang in der Attischen Demokratie mit ihren strikten Rotationsprinzipien, ist in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft nicht durchzuhalten. Mehr noch, der Verlust von verlässlichen Bezugspersonen und professionellem Personal führt dazu, dass Deutschland im internationalen Politikbetrieb und auch in der Wirtschaft mit ernsten Problemen konfrontiert wäre. Dein Vorschlag bedeutet für die Politik ja nicht weniger, als dass sie einen zuverlässigen Motor ausbauen soll und dafür zehn Leute bitten, doch, wenn sie Lust haben, zwischendurch mal das Auto zu schieben.
2. Ironischerweise führen Formen direkter Demokratie zu neuen, anderen Formen von Elitenbildung. Die neue Elite sind dann eben diejenigen, die die direkten Partizipationsformen besonders gut beherrschen oder besonders gut Leute mobilisieren können (und wenn du glaubst, dass die Leute schon nachdenken und sich nur für "gute" Sachen mobilisieren lassen werden, liegst du so daneben wie es nur geht). Ich werfe deshalb auch der Piratenpartei vor, dass sie kein Projekt verfolgt, das wirklich zum empowering der Massen beiträgt, sondern letztlich - sicherlich bei vielen ungewollt - die Machtstrukturen an die Bedürfnisse der eigenen Avantgarde anpassen will.
Dissidenkt hat geschrieben:Dieses Volk muss mündig werden und das geschieht nur, wenn es Verantwortung für die eigene Zukunft übernimmt.
MIt dieser Phrasendrescherei könntest du es ja mal im Bundestag versuchen...
Dissidenkt hat geschrieben:Mir geht es aber auch nicht um Dummheit, sondern Mündigkeit, Eigenverantwortung und vor allem um eine dynamische selbstregulierende Gesellschaft. Nur eine solche dynamische Gesellschaft ist dauerhaft stabil und verspricht die besten Bedingungen für die größte Anzahl an Mitgliedern.
Ähm... mal ganz vorsichtig angefragt: Hast du irgendeine substantielle Ahnung von den Begriffen, die da von dir gibst (und ich meine damit mehr, als mal einen Wikipediaartikel überflogen zu haben, z.B. einen einschlägigen Hochschulabschluss, entsprechende Berufserfahrung o.ä.), oder findest du einfach, dass "dynamisch selbstregulierend" irgendwie sexy klingt?
Das gefährliche an solchen Phrasen ist, dass sie so klingen, als könnte man alles viel einfacher und intuitiver organisieren, als im jetzigen für Laien schwer durchschaubaren Betrieb. Dabei reguliert sich die heutige Gesellschaft ja auch schon effizient selbst, über Wahlen, Umfragen, die Medien, Demonstrationen, Abstimmungen mit den Füßen, Experimentieren mit neuen Lebensentwürfen, neuen Technologien, Gerichtsverfahren usw. Und alle diese Reglationsprozesse sind kaum durchschaubar und werden es auch nicht werden, indem man das politische System radikal vereinfacht (irgendjemand soll Steve Jobs mal posthum eins auf den Deckel geben dafür, dass er das simplifizierende Denken derart sakralisiert und universalisiert hat). "Selbstorganisierend" ist nicht gleichbedeutend mit überschaubar oder einfach zu verstehen, meistens sogar eher das Gegenteil. Biologische Gleichgewichte sind z.B. auch selbstorganisierend, aber ist ein Wald deshalb ein übersichtliches System?
Dein Problem ist, sorry, aber das offene Wort muss sein, dass du offenbar den großen Teil des politischen Prozesses nicht verstanden hast und ihn aus diesem Unverständnis heraus ablehnst. Das erinnert mich an die Mode in den 90ern, dass Leute, die nie einen Computer bedient hatten, sich über das neumodische Zeug aufregten - weil sie es nicht verstanden hatten, es kompliziert und mächtig aussah und ihnen dadurch Angst machte. Anstatt etwas darüber zu lernen, machst du jetzt denselben Fehler, ziehst du ein paar poppige Phrasen aus der Tasche und plädierst für die Abschaffung des Betriebs und die Ersetzung durch irgendwas simples, einfach zu verstehendes, und glaubst intuitiv zu wissen, dass dann auch die Entscheidungen besser werden. Das wird nichtmal annähernd funktionieren. Auf einem Abakus kann man nunmal nicht
Civilization V spielen...