Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Di 21. Mai 2013, 15:07

Andilein hat geschrieben:Als Atheist sage ich: Gleiches Recht für alle.
Die meisten Atheisten sind der Meinung, dass Religion, wo immer sie auftritt, zu machthaberischen Auseinandersetzungen führt.

Andilein hat geschrieben:Die westliche Welt hat keine klaren Werte.
Auch das kann ich so nicht stehen lassen. Wenn ich als Frau die Wahl hätte, würde ich sicher nicht den Islam für das Leben meines Lebens wählen.

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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Gitterin » Di 21. Mai 2013, 21:21

Schaut doch auf die Länder in denen der Islam Staatsform ist, da möchte doch niemand leben. Deswegen haben wir hier auch so viele Islamisten, weil sie dann doch mal die Freiheit schmecken wollen...
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Nanna » Di 21. Mai 2013, 22:37

Öhm... nein. Einfach nein. Das ist nicht das, was passiert. Sorry. Um es in den Worten von H.L. Mencken zu sagen: "For every complex problem there is an answer that is clear, simple, and wrong." ("Für jedes komplexe Problem gibt es eine Antwort, die klar, einfach und falsch ist.")

Der Islam ist keine Staatsform, sondern eine Religion und dazu noch eine höchst heterogene. Religionen sind nie Staatsformen. So viel Zeit muss sein.
Islamisten rennen auch nicht aus islamisch geprägten Staaten weg, weil sie Freiheit wollen. Islamisten sind überhaupt ziemlich freiheitsfeindlich. Die Gründe für die Anwesenheit von Islamisten in Europa sind vielfältig, fehlende Freiheit den Islam in nahöstlichen Ländern zu leben gehört definitiv nicht dazu. Es ist auch fraglich, ob es hier "viele Islamisten" gibt, wer überhaupt ein Islamist ist und ob diese Leute hier mehrheitlich als Islamisten ankommen oder durch den Kulturschock es erst werden.

Mehr als irgendein "Charakter des Islam" spielen Unterlegenheitsgefühle gegenüber dem fortschrittlicheren Rest der Welt und eine sehr ungesunde, egozentrische und übermäßig stolze Art und Weise, damit umzugehen, im Nahen Osten eine Rolle bei der Hartnäckigkeit des Islamismus. Das war nicht immer so, gerade in der Anfangszeit des Islams war die Lernbereitschaft der Muslime viel höher, teilweise wurden Bibliotheken als wertvollste Kriegsbeute angesehen. "Der Islam" ist, wie jede andere große Religion auch, eine so entleerte Projektionsfläche, dass man darauf so ziemlich alles malen kann, was irgendwie denkbar ist, vom bösen Dschihadisten, der Musik verabscheut, bis hin zum tanzenden Derwisch, der Gott in der Musik sucht. Und das ist alles irgendwie verbunden mit dem Islam.

Die Frage ist daher nicht, ob der Islam zu den "westlichen" (philosophisch deutlich korrekter: "universalen") Werten passt, sondern welcher Islam zu diesen Werten passt.
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon provinzler » Mi 22. Mai 2013, 09:31

Nanna hat geschrieben:Mehr als irgendein "Charakter des Islam" spielen Unterlegenheitsgefühle gegenüber dem fortschrittlicheren Rest der Welt und eine sehr ungesunde, egozentrische und übermäßig stolze Art und Weise, damit umzugehen, im Nahen Osten eine Rolle bei der Hartnäckigkeit des Islamismus.

Ich glaube, dass selbst das eine zu eindimensionale Erklärung ist. Seit über 100 Jahren führt sich der sogenannte Westen in dieser Region auf wie der Elefant im Porzellanladen, führt Krieg, stiftet Unfrieden untereinander, stürzt unbotsame Machthaber, verjagt auch schon mal Leute, um einen neuen Staat für eine andre Religionsgruppe zu schaffen, und die Verjagten anschließend in Lager einzupferchen, stützt grausame Machthaber, solange sie kuschen, und wer sich gegen all das zur Wehr setzt, ist ein Terrorist. Der einzige westliche Staat, der in den letzten 2 Jahrhunderten phasenweise auf Kooperation mit der Region gebaut hat, war das willhelminische Deutschland. Das führt zu Hass und Verbitterung, der je nach Betroffenheit in den einzelnen Ländern mehr oder weniger stark ausgeprägt ist, aber auch zu einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl untereinander ("Die da" gegen "uns").
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Mi 22. Mai 2013, 09:57

Interessant hierzu: Nachrichten von vor 25 Jahren, eine Serie von BRalpha.
Fast in jeder Sendung kann man die Konflikte im nahen Osten verfolgen. Wenn man die Nachrichten hört, denkt man teilweise, sie sind aktuell. Es haben sich eigentlich nur die Namen verändert, die Berichte sind ansonsten die gleichen wie heute. Für mich stellt sich die Frage: Wann war denn eigentlich jemals Frieden im nahen Osten?
Weiß das wer?

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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Nanna » Mi 22. Mai 2013, 11:54

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben:Mehr als irgendein "Charakter des Islam" spielen Unterlegenheitsgefühle gegenüber dem fortschrittlicheren Rest der Welt und eine sehr ungesunde, egozentrische und übermäßig stolze Art und Weise, damit umzugehen, im Nahen Osten eine Rolle bei der Hartnäckigkeit des Islamismus.

Ich glaube, dass selbst das eine zu eindimensionale Erklärung ist. Seit über 100 Jahren führt sich der sogenannte Westen in dieser Region auf wie der Elefant im Porzellanladen...

Ja und nein. Der Imperialismus als Erklärungskategorie ist sehr beliebt, führt aber letztlich zu einem gewissen Grad in die Irre. Es gibt gerade in den arabischen Ländern eine antiwestliche Opfermentalität, die meines Erachtens weit über das hinaus geht, was man rein aus der kolonialen Vergangenheit ableiten kann. Es gibt genug andere Länder, die ähnliche imperialistische Schocks verdauen mussten, und ihre Probleme nicht laufend mit westlicher Sabotage erklären, darunter Indien, China und überhaupt viele Ex-Kolonien in Südostasien. Selbst die Vietnamesen, die allen Grund hätten, die USA zu hassen, beginnen mittlerweile mit einer erstaunlich unproblematischen Kooperation. Abgesehen davon sind die arabischen Länder jetzt ausnahmslos schon für viele Jahrzehnte unabhängig. Es wäre lang genug Zeit gewesen, auch mal selbst was zu ändern und das Ruder herumzureißen. Stattdessen hat - bei einer Minderheit zwar, aber einer viel zu großen - eine radikale Abkehr in die Religion stattgefunden, offenbar, um sich der eigenen Identität zu versichern. Das Problem ist, dass man dadurch jeden Fortschritt abwürgt und sich noch mehr in die Lage manövriert, wo man nichts hat, auf das man stolz sein kann, außer die Religion, die dann noch mehr verkrustet. Übrigens standen weite Teile des heutigen Saudi-Arabiens, das es mit am allerschlimmsten treibt, nie unter kolonialer Herrschaft.

Es gibt im Wesentlichen keine intellektuelle Innovation in den arabischen Ländern momentan. Meine Professoren klagen in egal welchem Fachbereich, dass sie extrem selten etwas neues zu lesen bekommen. Wenn intellektuell, egal ob theologisch, juristisch, polittheoretisch oder im Bereich von Technik und Naturwissenschaften etwas gerissen wird, dann von den arabischen Exilanten in Europa und den USA, die die nötige Denkfreiheit zugestanden bekommen. Wenn man sich die Jugendproteste von 2011 ansieht, merkt man, dass es schon viele junge Leute gibt, gerade aber nicht nur aus der Mittelschicht, die tatsächlich etwas verändern wollen. Auf den Protestbannern war nirgendwo etwas von antiwestlichen oder islamistischen Sprüchen zu lesen, da ging es tatsächlich ausschließlich um die Diktatur und die generelle Fehlentwicklung der Länder.

Ich sehe die imperialistische Erklärung des Nahostproblems mittlerweile eher kritisch. Man entmündigt die Leute dort dadurch ja auch irgendwie. Man sollte sich überlegen, ob die Aussage "Ihr seid unsere Opfer" nicht irgendwo genauso kulturimperialistisch ist wie "Ihr müsst unsere philosophischen Konzepte übernehmen". Beides sagt ja letztlich, dass wir die Steuerungsgewalt über diese Gesellschaften haben. Das stimmt aber nicht, auch empirisch nicht. Die kochen da schon ihr eigenes Süppchen, und das müssen sie auch selber auslöffeln.

Wenn du aber für historische Erklärungen suchst, wie es zu dem massiven Abstieg der arabischen Kultur gekommen ist, würde ich dir empfehlen, dir mal die Mongolenstürme unter Tamerlan und Dschinghis Khan anzusehen, die haben dort nämlich weite Teile der Infrastruktur zerstört. Manche Bewässerungsanlagen im Irak waren vor dem Mongolensturm leistungsfähiger als die heutigen im 21. Jahrhundert - kein Witz. Die Kreuzzüge und die Requoncista haben da vergleichsweise deutlich weniger kaputtgemacht, da war das Unterlegenheitsgefühl eher ideell, wobei auch das heute teilweise etwas arg aufgepustet wird. Entscheidend für den Untergang war aber noch etwas ganz anderes, und zwar das Steuersystem im Osmanischen Reich. Anders als in Europa, wo die Nobilität erbliches Land für ihre Dienste erhielt und dann über Generationen in den Landstrich investierte, gab es im Osmanischen Reich ein Rotationsprinzip. Das Militär wurde so finanziert, dass die Offiziere als Belohnung die Herrschaft über bestimmte Landstriche erhielten und dort die entsprechenden Truppen ausheben und durch Steuern finanzieren mussten. Allerdings wurden sie nach einigen Jahren in eine andere Provinz versetzt, damit sie keine lokale Machtbasis errichten und der Hohen Pforte gefährlich werden konnten. Das wurde über Jahrhunderte so betrieben und führte letztlich dazu, dass jeder Offizier aus einer Provinz herausqetschte, was ging, Investitionen in die Infrastruktur, die sich für ihn ja nicht lohnten, unterließ, und so das Land langsam heruntergewirtschaftet wurde. Das hat viel mehr als alle Kriege und äußeren Aggressionen kaputt gemacht. Als die Kolonialmächte im 19. Jahrhundert dort einmarschiert sind, waren die Länder schon ruiniert, da gab es für "uns" nicht mehr viel kaputt zu machen.

Es gibt also sowohl mehrere äußere Aggressionen, die viel zerstört haben, aber der Todesstoß kam definitiv von innen durch ein System, das über Jahrhunderte den Wiederaufbau der Infrastruktur gebremst hat (kannst du dir gleich neben den Kommunismus in die Reihe der Beispiele stellen, was falsche Anreizsysteme anrichten können). Und die kulturelle Antwort des Nahen Ostens darauf, sich in eine Mentalität aus Fatalismus und Traditionalismus zu flüchten, hat seit den Anfängen des Islamismus im späten 19. Jahrhundert (davor waren die arabischen Länder von einem sehr reformwilligen intellektuellen Diskurs geprägt, sollte man an der Stelle auch mal sagen, weil es wahrscheinlich kaum einer weiß!) zu zusätzlichen kulturellen Hemmnissen dem Fortschritt gegenüber geführt. "Der Islam" ist deshalb genauso wenig schuld wie "der Westen". Beide haben ihre unrühmliche Rolle gespielt, keine Frage, aber es kommt immer drauf an, was man kulturell draus macht, und da sollten die Araber sich lieber mal am chinesischen Pragmatismus und der chinesischen Zukunftsorientierung eine Scheibe abschneiden, als sich laufend einzureden, dass ausländische Saboteure eine sadistische Freude daran empfänden, ihnen zu schaden und die Lösung in größerer Frömmigkeit zu suchen wäre.
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon provinzler » Mi 22. Mai 2013, 13:06

Nanna hat geschrieben:Ja und nein. Der Imperialismus als Erklärungskategorie ist sehr beliebt, führt aber letztlich zu einem gewissen Grad in die Irre. Es gibt gerade in den arabischen Ländern eine antiwestliche Opfermentalität, die meines Erachtens weit über das hinaus geht, was man rein aus der kolonialen Vergangenheit ableiten kann.

Es geht doch nicht nur um die Vergangenheit, sondern ganz erheblich auch um die Gegenwart. Saddam wurde von den Amis aufgebaut und dann abgeschossen. Das gleiche gilt für die Taliban, Mubarak, Gaddafi, diverse Machthaber im Iran und anderswo. Die Bevölkerung und ihre Rechte gingen seit jeher all den geopolitischen Mitspielern der Region komplett am Arsch vorbei, solang die Herrscher sich bequemten billiges Öl ranzuschaffen. Früher warens die Briten, heute halt die Amis und vereinzelt die Russen. Die dortigen Eliten haben kein Interesse an Veränderungen, der Westen auch nicht, also arbeitet man Hand in Hand zusammen.


Nanna hat geschrieben: Es gibt genug andere Länder, die ähnliche imperialistische Schocks verdauen mussten, und ihre Probleme nicht laufend mit westlicher Sabotage erklären, darunter Indien, China und überhaupt viele Ex-Kolonien in Südostasien.

Ja, aber all diesen Ländern ist gemein, dass sie schon vor geraumer Zeit für die Geostrategen uninteressant wurden, und Zeit hatten, sich unbemerkt und ungestört selbst zu erneuern. Für die Ölstaaten im Nahen und Mittleren Osten hingegen gilt das nicht. Wenn ich dich in der Vergangenheit ständig gepiesackt habe, und jetzt aber das Interesse verloren habe, dann kannst du dich irgendwann wieder selbst sortieren. Bist du aber in einer Position in der du mir nichts entgegensetzen kannst, nicht entkommen kannst, weil ich dich festhalte, und ich dich weiter piesacke und dich durch aushungern schwach genug halte, dass ich weiter im Vorteil bin, wird das massive psychische Auswirkungen haben, vermute ich mal. Wenn wir Pech haben, induzieren wir neue Täter-Opfer-Kreisläufe, wenn du deinen Unmut über dann an andren auslässt.
Diese Staaten sind ungefähr so unabhängig wie Labormäuse. SObald einer nicht spurt (und etwa wie Saddam Öl gegen Euro statt Dollar verkaufen will), wird das Land zum Zentrum des Terrorismus erklärt und platt gemacht.
Das gilt auch für den Satellitenstaat Saudi-Arabien, dessen Herrscherhaus sich massiv selbst bereichert, aber für "den Westen" die Drecksarbeit erledigt.
Wirklich unabhängige Staaten gibts weltweit kaum eine Handvoll, die allermeisten hängen am Rockzipfel irgendeiner Großmacht oder sind Freiwild.
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Nanna » Mi 22. Mai 2013, 15:38

provinzler hat geschrieben:Es geht doch nicht nur um die Vergangenheit, sondern ganz erheblich auch um die Gegenwart. Saddam wurde von den Amis aufgebaut und dann abgeschossen. Das gleiche gilt für die Taliban, Mubarak, Gaddafi, diverse Machthaber im Iran und anderswo.

Das ist die Theorie des Nahen Ostens als sog. penetrated system, das zwar nicht formal unter kolonialer Herrschaft steht, aber über eine Kooptierung der Eliten informell imperial durchdrungen ist. Da ist zumindest teilweise sicher etwas dran, keine Frage. Allerdings ist das meines Erachtens auch eine etwas bequeme Antwort. Gerade die Misserfolge in Afghanistan und im Irak zeigen, dass es eben doch nicht so einfach ist für eine westliche Macht, einfach mal neue Machthaber "aufzubauen". Länder und Gesellschaften haben ein Eigenleben, da drehen auch die angeblich übermächtigen USA nichts dran. Klar war gerade Saddam Hussein in den 1980ern stark von den USA gelenkt, aber das betraf sicher nicht die Frage, ob das Bildungssystem zu reformieren sei. Zudem ist das Öl nicht immer der einzige Grund. Der Iran beispielsweise wurde in den 1960ern und 70ern ja v.a. als Puffermacht gegen die Sovjetunion aufgebaut und wurde dann nach 1979 zum Risiko, das man dann versuchte, mit Hilfe des Iraks zu bekämpfen. Das hat viel unsägliches Leid verursacht, keine Frage. Jetzt aber zu behaupten, die USA seien schuld daran, dass im Iran die Verrückten regieren, halte ich dennoch für zu kurz gegriffen. Das entlässt die dortige Gesellschaft aus der Pflicht, sich selbst zu reformieren, zumal die Frage ist, was der Westen denn heute tun soll. Eine Normalisierung der Beziehungen wird ja permanent von iranischer Seite abgelehnt. Im Irak kämpfen Sunniten gegen Schiiten, daran mag der Westen seinen Anteil haben, aber es zwingt die nun momentan wirklich keiner dazu, das zu tun.

Ich sage hier nicht, dass der Westen nicht gehörig mitgespielt hat, aber es ist auch bequem, sich auf Schuldzuweisungen nach außen hin auszuruhen. Genau dieses Zelebrieren der Opfermentalität führt ja zu nichts. Es wird niemand für diese Gesellschaften aufräumen, dass müssen die schon selbst hinkriegen. Die Flüchtlingscamps der Palästinenser, die seit Jahrzehnten in erbärmlichen Zuständen sind und im wesentlichen durch westliche (!) Gelder zusammengehalten wurden und werden, sind so etwas, wo man sich fragt, warum die arabischen Bruderstaaten da nicht schon längst etwas getan haben. Und das hat der Westen, für dessen Verbündeten Israel diese Camps ein massives Problem darstellen, sicher nicht sabotiert, das ist eines der vielen Beispiele, wo sich diese Länder selbst aus dem Sumpf ziehen könnten und es einfach nicht tun.

provinzler hat geschrieben:Die Bevölkerung und ihre Rechte gingen seit jeher all den geopolitischen Mitspielern der Region komplett am Arsch vorbei, solang die Herrscher sich bequemten billiges Öl ranzuschaffen. Früher warens die Briten, heute halt die Amis und vereinzelt die Russen. Die dortigen Eliten haben kein Interesse an Veränderungen, der Westen auch nicht, also arbeitet man Hand in Hand zusammen.

Wenn man der Hegemon ist, kann man sich sowieso irgendwie nicht richtig verhalten. Exportiert man Demokratie, macht man's falsch, lässt man es bleiben, macht man's genauso falsch. Klar ist die aggressive Geopolitik ein Teil des Problems da, aber 15 Jahre Bürgerkrieg im Libanon beispielsweise zeigen, dass die Region es auch so hinkriegt, sich intern abzuschlachten, ohne dass irgendwelche geopolitischen Interessen im Spiel wären. Afghanistan hatte seine kriegerische Kultur auch schon vor dem Einmarsch der Sovjets. Weiter südlich, in Afrika, treten Kriege immer wieder in Gegenden auf, wo der Westen kein nennenswertes Interesse oder keinen ausreichenden Zugriff auch nur für theoretische Interventionen hat, Darfur oder Somalia etwa, aber auch Zentralafrika.

Es verwundert mich, dass gerade du, der immer so auf Eigenverantwortung setzt, bereit bist, den dortigen Gesellschaften so weitreichende Entschuldigungen auszustellen.

provinzler hat geschrieben:
Nanna hat geschrieben: Es gibt genug andere Länder, die ähnliche imperialistische Schocks verdauen mussten, und ihre Probleme nicht laufend mit westlicher Sabotage erklären, darunter Indien, China und überhaupt viele Ex-Kolonien in Südostasien.

Ja, aber all diesen Ländern ist gemein, dass sie schon vor geraumer Zeit für die Geostrategen uninteressant wurden, und Zeit hatten, sich unbemerkt und ungestört selbst zu erneuern.

Das stimmt so nicht. Indien, in geringerem Maße auch China, haben sich der Imperialherrschaft durch eigenes Tun entledigt, nicht weil sie uninteressant geworden wären. Was sicherlich nachteilig für den Nahen Osten war, ist die geografische Nähe zu Europa, die einen Zugriff auch nach dem Zweiten Weltkrieg einfacher gestaltete. Trotzdem hat der arabische Raum nie in dem Maße gegen die Imperialherrschaft revoltiert, wie es in anderen Teilen der Welt der Fall war, u.a. eben in Indien. Keine Kolonialmacht kann sich halten, wenn das Volk geschlossen den Aufstand probt. Und ich erinnere daran, dass auch Indien kulturell und religiös äußerst zersplittert ist.

provinzler hat geschrieben:Für die Ölstaaten im Nahen und Mittleren Osten hingegen gilt das nicht. Wenn ich dich in der Vergangenheit ständig gepiesackt habe, und jetzt aber das Interesse verloren habe, dann kannst du dich irgendwann wieder selbst sortieren. Bist du aber in einer Position in der du mir nichts entgegensetzen kannst, nicht entkommen kannst, weil ich dich festhalte, und ich dich weiter piesacke und dich durch aushungern schwach genug halte, dass ich weiter im Vorteil bin, wird das massive psychische Auswirkungen haben, vermute ich mal. Wenn wir Pech haben, induzieren wir neue Täter-Opfer-Kreisläufe, wenn du deinen Unmut über dann an andren auslässt.

Ich denke, dass man vorsichtig sein sollte, Gesellschaften wie Personen zu behandeln. Natürlich ist die Ohnmachtserfahrung ein prägendes Erlebnis in der Geschichte dieser Länder.

Wie ich aber schon sagte, sind die Entwicklungen, die dorthin geführt haben, historisch auch zu einem signifikanten Teil selbstverschuldet. Man muss sich als Gesellschaft auch fragen, warum man überhaupt in die Lage gekommen ist, so unterlegen zu werden. Das war ja nicht zu allen Zeiten so. Der Niedergang der Wissenschaft und des rationalen Islams (Mu'tazila) begann in der islamischen Welt schon um die vorletzte Jahrtausendwende herum. Seitdem ist der Nahe Osten im Griff hanbalitischer, sprich äußerst dogmatischer und traditionalistischer, Einflüsse. Das wurde im 19. Jahrhundert nochmal etwas besser, als der Westen als Vorbild angesehen wurde, änderte sich aber, wie gesagt, zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu kamen die erwähnten Jahrhunderte von Misswirtschaft, die zur selben Zeit der Infrastruktur den Todesstoß gab, als in Europa die Aufklärung den Turbo einlegte.
Was ich damit sagen will: Die traditionalistische, fortschrittshemmende Kultur geht teilweise deutlich weiter in der Geschichte des Nahen Ostens zurück als der westliche Einfluss überhaupt eine Rolle spielt. Ich leugne gar nicht, dass wir den Nahen Osten, wie den Rest der Welt, ganz schön ausgenommen haben.
Der krass-konservative wahhabitische Einfluss stammt aber aus Saudi-Arabien, das, wie ich bereits erwähnte, nie kolonial durchdrungen war und bis heute politisch und ökonomisch unabhängig ist. Der Wahhabismus stammt aus dem 18. Jahrhundert und hatte mit dem europäischen Imperialismus rein gar nichts zu tun, wenn überhaupt, wendete er sich gegen die osmanische Herrschaft. Das ist ein arabisches Eigengewächs.

provinzler hat geschrieben:Diese Staaten sind ungefähr so unabhängig wie Labormäuse. SObald einer nicht spurt (und etwa wie Saddam Öl gegen Euro statt Dollar verkaufen will), wird das Land zum Zentrum des Terrorismus erklärt und platt gemacht.
Das gilt auch für den Satellitenstaat Saudi-Arabien, dessen Herrscherhaus sich massiv selbst bereichert, aber für "den Westen" die Drecksarbeit erledigt.
Wirklich unabhängige Staaten gibts weltweit kaum eine Handvoll, die allermeisten hängen am Rockzipfel irgendeiner Großmacht oder sind Freiwild.

Saudi-Arabien ist kein Satellitenstaat, es ist reich, ökonomisch unabhängig, hat eine schlagkräftige Armee und die wahhabitische Herrschaft stützt sich nach wie vor auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Ölmilliarden kommen ja nicht nur dem Herrscherhaus zugute, die Saudis profitieren alle davon und nennenswerte Wünsche zur Reform der Gesellschaft gibt es da auch nicht. Bloß weil es eine Diktatur ist, muss sie nicht immer von Westens Gnaden sein.

Schau andersherum mal nach Südamerika: Jahrzehntelanger US-Einfluss, massive soziale Probleme, Drogen- und Bandenkriege... die haben den Hintern hochgekriegt und sich selber rausgekämpft, trotz Diktaturen und US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftsinterventionen. Keiner bestreitet die schwierige Situation des Nahen Ostens, aber das Problem dort ist mehr eines der kulturellen Zersplitterung und einer Unfähigkeit, mal über den eigenen Schatten zu springen und mit den Andersdenkenden und Andersreligiösen zu reden. Es geht viel zu schnell nur darum, was man für die eigene Familie, den eigenen Stamm, die eigene Religionsgruppe rausschlagen kann. Gesamtgesellschaftlichen Frieden als Ziel... Fehlanzeige. Und das ist auch ein Versagen der dortigen Gesellschaften.
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon provinzler » Mi 22. Mai 2013, 16:48

Nanna hat geschrieben:Gerade die Misserfolge in Afghanistan und im Irak zeigen, dass es eben doch nicht so einfach ist für eine westliche Macht, einfach mal neue Machthaber "aufzubauen". Länder und Gesellschaften haben ein Eigenleben, da drehen auch die angeblich übermächtigen USA nichts dran.

Klar ist aber unter solchen Bedingungen aber auch, dass es nicht zu Stabilität kommen kann, sofern nicht eine Macht ans Ruder kommt, die den wichtigen Playern genehm ist. Ist übrigens auch in Deutschland in Ansätzen so. Schau dir mal an wie lange sich Leute in Ämtern halten können, wenn sie auf den Marschbefehl der "NATO" (besser USA) nicht gehorsam die Hacken zusammenschlagen. Die sind oft erstaunlich schnell weg vom Fenster (Vom SPD-Irakverweigerer Schröder bis zum Libyenneutralen Westerwelle). Einfach mal in den Raum gestellt.


Nanna hat geschrieben:Klar war gerade Saddam Hussein in den 1980ern stark von den USA gelenkt, aber das betraf sicher nicht die Frage, ob das Bildungssystem zu reformieren sei.

Das ist schon klar. Bleibt halt die Frage, welcher Typ Mensch von solchen "Jobs" angezogen wird.

Nanna hat geschrieben:Das hat viel unsägliches Leid verursacht, keine Frage. Jetzt aber zu behaupten, die USA seien schuld daran, dass im Iran die Verrückten regieren, halte ich dennoch für zu kurz gegriffen.

Abgesehen davon, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, im Iran zu leben, glaube ich nicht, dass Ahjmadinedjad verrückt ist. Die meisten seiner Aussagen sind wohl kalkuliert, und wie mir persisch sprechende Freunde versichern, oft genug stark verzerrt in der hiesigen Öffentlichkeit übersetzt, um ein bestimmtes Bild zu zeichnen. Welche Ansichten "verrückt" sind, ist eine wertende subjektive Aussage. Man darf nicht unterschlagen, dass Außenpolitik immer auch eine innenpolitische Komponente hat. Solange ich kein adäquates und unverzerrtes Bild des Innenlebens des Irans kriege, werd ich mich einer Beurteilung jedenfalls enthalten.

Nanna hat geschrieben: Eine Normalisierung der Beziehungen wird ja permanent von iranischer Seite abgelehnt.

Was nicht zuletzt an den Bedingungen liegt, mit denen die "Normalisierung" von westlicher Seite verknüpft wird. Kernenergie ist für Entwicklungsländer die billigste und sauberste Stromerzeugungsmöglichkeit, weshalb China und Indien Unmengen dieser Reaktoren hinstellen. Mit welchem Recht verweigern wir das den Persern?


Nanna hat geschrieben: Die Flüchtlingscamps der Palästinenser, die seit Jahrzehnten in erbärmlichen Zuständen sind und im wesentlichen durch westliche (!) Gelder zusammengehalten wurden und werden, sind so etwas, wo man sich fragt, warum die arabischen Bruderstaaten da nicht schon längst etwas getan haben.

Das fragst du angesichts der Tatsache, dass teilweise selbst die Einfuhr von notwendigen Medikamenten torpediert wird? Dass ständig neue Besiedlungswellen stattfinden, wie weiland in den USA auf Kosten der dortigen Ureinwohner? Der Staat Israel hat so wie er heute existiert ein dogmatisches Grundsatzproblem. Denn durch die Geburtenzahlen sind die Juden dort absehbar minorisiert, obwohl er sich ja als demokratischer Judenstaat versteht und als solcher gegründet wurde. Ich sehe derzeit keine Option, diesen Gegensatz friedlich aufzulösen. Denn eine Zweistaatenlösung will ja offenbar auch keiner.

Nanna hat geschrieben:Wenn man der Hegemon ist, kann man sich sowieso irgendwie nicht richtig verhalten. Exportiert man Demokratie, macht man's falsch, lässt man es bleiben, macht man's genauso falsch. Klar ist die aggressive Geopolitik ein Teil des Problems da, aber 15 Jahre Bürgerkrieg im Libanon beispielsweise zeigen, dass die Region es auch so hinkriegt, sich intern abzuschlachten, ohne dass irgendwelche geopolitischen Interessen im Spiel wären. Afghanistan hatte seine kriegerische Kultur auch schon vor dem Einmarsch der Sovjets.

Klar, das war mit den Briten schon vorher nicht anders. Allerdings neigen Hegemonen grundsätzlich dazu, sich in alles und jedes einzumischen, wenn du dir die Geschichte anguckst. Kriegerische Auseinandersetzungen sind leider in der Menschheitsgeschichte eine der wenigen echten Konstanten, was sich vermutlich (leider) niemals ändern wird.


Nanna hat geschrieben:Weiter südlich, in Afrika, treten Kriege immer wieder in Gegenden auf, wo der Westen kein nennenswertes Interesse oder keinen ausreichenden Zugriff auch nur für theoretische Interventionen hat, Darfur oder Somalia etwa, aber auch Zentralafrika.

Überall dort herrschen seit Ewigkeiten extraktive Strukturen und es gab bisher noch keine Konstellationen, die eine strukturelle Veränderung zugelassen hätten. Es wurde immer nur ein Machthaber durch den nächsten ersetzt.

Nanna hat geschrieben:Es verwundert mich, dass gerade du, der immer so auf Eigenverantwortung setzt, bereit bist, den dortigen Gesellschaften so weitreichende Entschuldigungen auszustellen.

Man sollte eine Erklärung und eine Rechtfertigung unterscheiden. Natürlich sind die Menschen dort gehalten, ihre eigene Lage in die Hand zu nehmen. Solange sich der "Westen" aber anmaßt, über jede Entscheidung, beliebig jederzeit den Daumen zu senken und intervenieren zu dürfen und dabei seine militärische Überlegenheit ausspielt, dürfte dieser Prozess reichlich frustrationsgeladen sein.

provinzler hat geschrieben:Das stimmt so nicht. Indien, in geringerem Maße auch China, haben sich der Imperialherrschaft durch eigenes Tun entledigt, nicht weil sie uninteressant geworden wären. Was sicherlich nachteilig für den Nahen Osten war, ist die geografische Nähe zu Europa, die einen Zugriff auch nach dem Zweiten Weltkrieg einfacher gestaltete.

Und Indien und China waren mit Beginn des Ölzeitalters schlicht unwichtiger, als die Erdölstaaten des Nahen Ostens. Die vom Zweiten Weltkrieg erschöpften Länder mussten ihre Ressourcen deshalb auf diese Länder konzentrieren und zogen sich unter Randscharmützeln zurück. China hatte zudem das Glück, dass sein Hegemon (die Sowjetunion) selber in massive Schwierigkeiten kam und zerbröselte. Diese Übergangsphase nutzte China für seinen phänomenalen (Wieder-)aufstieg.


Nanna hat geschrieben:Saudi-Arabien ist kein Satellitenstaat, es ist reich, ökonomisch unabhängig, hat eine schlagkräftige Armee und die wahhabitische Herrschaft stützt sich nach wie vor auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Ölmilliarden kommen ja nicht nur dem Herrscherhaus zugute, die Saudis profitieren alle davon und nennenswerte Wünsche zur Reform der Gesellschaft gibt es da auch nicht. Bloß weil es eine Diktatur ist, muss sie nicht immer von Westens Gnaden sein.

Du glaubst in Saudi-Arabien würde die Regierung eine Provokation a la Saddam oder Gaddafi Öl nur noch in Euro zu fakturieren überleben? Ich hab da so meine Zweifel...

Nanna hat geschrieben:Schau andersherum mal nach Südamerika: Jahrzehntelanger US-Einfluss, massive soziale Probleme, Drogen- und Bandenkriege... die haben den Hintern hochgekriegt und sich selber rausgekämpft, trotz Diktaturen und US-amerikanischen Militär- und Wirtschaftsinterventionen.

Wenigstens einige Länder haben das ( vor allem Mexiko und Brasilien). Das einstmals zu den weltweit reichsten Ländern der Erde gehörende Argentinien wurde von den Sozialisten heruntergewirtschaftet, da können die Amis mal so gar nix dafür (wie auch Venezuela, da wirds aber vom hohen Ölpreis kaschiert).

Die Einflüsse und Hintergründe sind vielschichtig. Ich halte es aber für zu zynisch, alle möglichen Fortschritte vorab zu hintertreiben und dann die Schuld dafür diesen Ländern in die Schuhe zu schieben...
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Re: Passt der Islam zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Mi 19. Jun 2013, 07:39

Gerade gefunden:
http://www.neinens.de/islam.htm

Ich muss zugeben, ich habe zuerst die Feedbacks gelesen und fand sie sehr interessant:
http://www.neinens.de/Feedback.htm

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