provinzler hat geschrieben:Diese Frage ist deswegen schwer zu beantworten, weil die Sozialstaaten in ihrer heutigen Ausprägung eine historische Anomalie sind. Normalerweise beschränkte sich das auf die Versorgung von Witwen und Waisen.
Das ist ungefähr so sinnvoll, wie zu sagen, dass der Mensch eine evolutionäre Anomalie ist. Der Begriff "normalerweise" ist hier nicht sinnvoll, weil ein naturalistischer Fehlschluss. Bei Sozialstrukturen gibt es keinen natürlichen Normalfall, der "so sein soll", es gibt nur unterschiedliche Konzepte, die ihre eigenen Dynamiken entfalten, die sich in bestimmten historischen Kontexten negativ, positiv oder, wie meistens, beides zugleich, auswirken.
provinzler hat geschrieben:Ein Punkt, der aus meiner Sicht mit reinspielt, ist die Anonymität des modernen Sozialstaates. Ich muss dem, von dem ich die Kohle abpressen lasse nicht in die Augen schauen, ein anonymes Kreuzchen in der Wahlkabine reicht. Das schafft ungesunde Anreizstrukturen.
Na, da ist jetzt aber verdammt viel Subjektivismus und eine ganz unrealistische Frontenstellung drin. Denn die Leute, die wirklich mehr Hilfen bekommen, als sie an Steuern an den großen Topf abführen, wählen zum einen unterdurchschnittlich häufig und sind zum anderen klar in der Minderheit. Die politisch aktive Mittelschicht zahlt deutlich mehr Steuern, als sie an direkten Hilfen wieder einstreicht (und bevor jetzt das Beamtenbashing kommt: Auch Lehrer und Verwaltungspersonal erfüllen eine für die Gesellschaft produktive Aufgabe, etwa indem sie für die Unternehmen qualifizierten Nachwuchs und Rechtssicherheit bereitstellen). Dass da die eine Seite einer wehrlosen anderen etwas "abpressen" würde, ist also schonmal eine grobe Verzerrung der Faktenlage. Eher ist es so, dass die meisten Wähler geben und nehmen und sich je nach sozialer Position die Verhältnisse verschieben.
Weiterhin ist gerade die Anonymität des Sozialstaates ein Vorteil wenn es um faire Behandlung geht. Stellen wir uns den Fall vor, dass ein Mensch in einem kleinen Dorf Hunger leidet und auf die Hilfe der anderen Dorfbewohner angewiesen ist. Nicht nur ist er dann der Gefahr ausgesetzt, Teil patrimonialer Strukturen zu werden, etwa indem er bei dorfinternen Zwisten diejenigen unterstützen muss, die ihm sein Brot schenken, er wird u.U. auch weniger engagiert Hilfe erfahren, wenn er in der Vergangenheit unangenehm aufgefallen ist, sei es durch eine abweichende politische Meinung, unkonventionelle sexuelle Orientierung, abweichende religiöse bzw. nichtreligiöse Ansichten o.ä., also alles Sachen, die erstmal bei der Frage seiner Hilfsbedürftigkeit überhaupt keine Rolle spielen dürften, die aber bekanntlich idealer Nährboden für den kleingeistigen Tratsch ist, der in überschaubaren Communities meist irgendwie dazugehört. Es gibt gerade da immer irgendwelche Lästermäuler, die Stimmung gegen irgendwen oder irgendwas machen, einfach, weil sie es können. In einem institutionell gereiften Sozialstaat kann man solchen Tendenzen effektiver aus dem Weg gehen und hat im Zweifel rechtliche Ansprüche, die man vor einem im Vergleich zum Dorfältesten deutlich unvoreingenommeren Gericht einklagen kann.
provinzler hat geschrieben:Wir Menschen sind darauf ausgelegt Gruppen zu überschauen, die vielleicht aus ein paar hundert Leuten, also der eigenen Sippe und der unmittelbaren Nachbarschaft bestehen, alles andre geht uns tendenziell im Zweifel ziemlich am Arsch vorbei. Sobald ein Konstrukt über diese Größenordnung hinausgeht, kann unter bestimmten Umständen die gegenseitige soziale Kontrolle massiv abnehmen. Der Sozialstaat versucht, Grundüberlegungen aus einer Familienstruktur (gegenseitige Hilfe) in ein viele Dimensionen größeres System zu übertragen, was aus meiner Sicht zum Scheitern verurteilt ist, weil die soziale KOntrolle fehlt.
Hochgefühle beim Sex haben sich evolutionär erstmal aufgrund wahrscheinlicherer Nachkommenproduktion entwickelt, dass man einfach aus Spaß an der Freude miteinander schlafen kann, war ursprünglich nicht "Sinn" der Sache - trotzdem tun wir es mittlerweile zum übergroßen Teil deshalb und sind, wenn man sich z.B. Bonobos ansieht, nichtmal die einzigen, die ein evolutionär entwickeltes Werkzeug zweckentfremdet und in seiner Nutzung stark erweitert haben. Übrigens sind auch deine Beine eigentlich nicht so richtig für den aufrechten Gang geeignet und, wenn ich mich recht erinnere, ist unser Mund entwicklungsgeschichtlich eigentlich unser Hint... aber lassen wir das. Entscheidend ist, dass es evolutionär völlig normal ist, dass bestimmte Fähigkeiten für andere Zwecke benutzt werden, als denen, denen sie zu einem früheren Zeitpunkt dienten. Zu sagen, dass wir es gleich bleiben lassen sollen, weil wir evolutionär dafür nicht gemacht sind, ist eine Missachtung der Dynamik der Evolution. Würde die Natur tatsächlich so statisch funktionieren, hätten wir heute noch nichtmal schwere Atome im Universum.
Natürlich ist die soziale Kontrolle in einer Gesellschaft nicht mehr mit der in einer Kleingruppe zu vergleichen. Das ist aber auch nicht so schlimm, weil sie zum einen dennoch existiert, nur eben anders funktioiert, und weil Kleingruppen zum anderen nicht automatisch gesündere Strukturen aufweisen, sondern anfällig für andere Dysfunktionalitäten sind, in einer Weise übrigens, die manchmal das Eingreifen höherer Instanzen erfordert, etwa, wenn "die Gesellschaft" einem prügelnden Elternpaar das Kind wegnehmen muss, damit es nicht stirbt. Soziale Kontrolle hat viele Dimensionen, die direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht ist eine wichtige Form davon, aber eben nicht die einzige, und schon gar nicht setzt sie automatisch das gegenseitige Kennen voraus. Manchmal ist soziale Kontrolle durch eine neutrale Drittperson sogar wesentlich effektiver.
provinzler hat geschrieben:Dann wird normalerweise versucht, die fehlende soziale Kontrolle durch bürokratische Vorschriften zu ersetzen, wodurch eine Art "Helferindustrie" entsteht, die ihre eigene Existenz rechtfertigen muss, weshalb immer neue Probleme erfunden werden müssen.
Jetzt mal etwas bissig gesagt: Als weißer mitteleuropäischer Mann aus einer wirtschaftlich prosperierenden Region, gesegnet mit Bildung, Intelligenz und einem vielversprechenden Karrierepfad, tust du dich schon eher leicht, solche Sachen zu behaupten. Ist es nicht ein bisschen engstirnig zu behaupten, dass gesellschaftliche Probleme nur eingebildet und aus raffgieriger Absicht erfunden sind, wenn man selbst von kaum einem dieser Probleme betroffen war? Wie willst du z.B. ernsthaft sagen können, dass Frauen nicht beruflich benachteiligt werden, wenn du als Mann in einem männerlastigen Studiengang und aus einer konservativ geprägten Region kommend im Prinzip keinerlei persönliche Erfahrung mit dem Problem hast, weil es weder in deiner Alltagsrealität noch im Denken deiner Herkunftscommunity existiert (bzw. vielleicht sogar: "existieren darf")?
Probleme gehen, egal, was du sagst, nicht dadurch weg, dass man Menschen mit ihnen alleine lässt und behauptet, mit genug Druck würden sie sich schon veranlasst sehen, diese Probleme selbst zu lösen. Wir hatten diesen Streitpunkt schon öfter: Du schließt hier viel zu sehr von dir auf andere. Die Tatsache, dass du in einer problematischen Situation lösungsorientiert und besonnen handeln würdest, hat mehr damit zu tun, dass du durch deinen Grips und deine soziale Herkunft zu solchem Denken befähigt bist. Damit sage ich nicht, dass Druck zur Eigenverantwortung bei Hilfsbedürftigen nicht fruchten kann, aber wenn dieser Druck unreguliert und unzielgerichtet auf die Betroffenen trifft, entstehen nicht zwangsläufig soziale Verantwortung und soziale Kontrolle, sondern genauso gut auch Chaos, Kriminalität und Entsolidarisierung. Die verbreiteten mafiösen Strukturen in den Elendsvierteln der Welt sind ein gutes Beispiel.
Es existieren soziale Probleme, die in einer Gesellschaft eben nicht dadurch weggehen, dass man alles seinen "natürlichen" Gang gehen lässt, schon deshalb nicht, weil es diesen natürlichen Gang ja gar nicht gibt. Und es ist sicher nicht immer das produktivste, die Lösung dieser Probleme Leuten zu überlassen, die am kompletten Verschwinden des Problemkomplexes kein wirtschaftliches Interesse haben, aber es ist schonmal deutlich weiter als die Haltung, die Probleme zu verleugnen.
provinzler hat geschrieben:Vor die Wahl gestellt, werden die meisten Menschen (nehme mich da nicht im Geringsten aus) also immer dazu tendieren, sich Geld von denen zu holen, die irgendwie eine anonyme Masse bilden (der Staat). Fällt das weg, steigt automatisch wieder die Notwendigkeit und Bereitschaft an direkter Unterstützung innerhalb der lokalen sozialen Netzwerke.
Beides sind mögliche Versorgungssysteme, aber so automatisch besser ist das kleine Netzwerk nicht zwangsläufig, auch ökonomisch nicht. Je nach Sozialstruktur können auch in kleinen Communities die Reibungsverluste extrem sein, etwa, wenn diejenigen, die über die Fähigkeit zum Helfen verfügen, den Hilfsbedürftigen als Bedingung für die Hilfsgewährung ökonomisch unsinnige Bedingungen auferlegen. Das kann natürlich auch im Sozialstaat geschehen, aber das Entscheidende ist, dass keines der beiden Netzwerke dem anderen gegenüber einen natürlichen strukturellen Vorteil besäße, was das Produzieren kluger Entscheidungen angeht. Auch das Umsteuern ist in kleinen Netzwerken nicht zwangsläufig einfacher. Wie viele kleine Familienbetriebe sind schon kaputtgegangen, weil der Patriarch selbstzufrieden meinte, in seinem fortgeschrittenen Alter würde seine Erfahrung jede technische Innvation ausstechen? Und wie viele Leute versauern recht freiheitslos in erstarrten Familienstrukturen vor sich hin, weil sie von der wirtschaftlichen Unterstützung der Verwandten abhängig sind? Gerade da, wo der Staat eben dem Individuum eben nicht anonym und neutral weiterhilft, gibt es solche sozialen Erscheinungen (einfach mal in die arabische Welt schauen, wo der Staat meist schwach und die Familie stark ist und wo Freiheit allenfalls als frommer Wunsch gebildeter Demonstranten existiert, die im staatlichen (!) Universitätssystem sozialisiert wurden). Anonymität macht eben auch frei. Dass "ihr" Libertären derart auf diese verkrustungs- und nepotismusanfälligen Clanstrukturen setzt, deren soziale Kontrollmechanismen nicht selten im overdrive arbeiten und krass freiheitseinschränkend wirken, war mir wirklich schon immer ein Rätsel. Und mit Voluntarismus haben familiäre Zwangsstrukturen ungefähr so viel zu tun wie staatliche Zwangsstrukturen: Gar nichts.