Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Do 20. Dez 2012, 08:31

@fopa: Schon zu meiner Zeit nannte sich der (katholische) Religionsunterricht: Religionslehre und man erfuhr in dieser Stunde alles über die Religionen dieser Welt. Das ist mE unablässig. Ein Ethikunterricht, in dem man über Verhaltensmuster philosophiert, kann das nicht bringen. Er ist bestenfalls ein Erziehungsberater im Sinne der Selbsterkenntnis.

Die Verhaltensregeln aus der Bibel, oder was wir heute die 10 Gebote nennen, sind doch nichts anderes, als Wertfeststellungen/Verhaltensregeln die Menschen schon vor über 2000 Jahren festgezurrt haben, weil sie gesehen haben, dass ohne Gebote das Zusammenleben nicht funktioniert. Und man muss sie nicht in Frage stellen, denn offensichtlich funktioniert der Umgang miteinander, wenn man sich daran hält. Die humanistischen Werte unterscheiden sich doch in Nichts. Ich frage mich, warum man das Rad ständig neu erfinden muss, nur weil das Auto ein anderes Chassis hat.
Für Atheisten streichst du meinetwegen im ersten Gebot die Worte "andere" und "neben" und schon heißt es: Du sollst keine Götter haben. Das beinhaltet auch, dass man weder Satan noch Talismänner anbeten soll. Ein ganz wichtiges Gebot, wie mir scheint, gerade für spirituelle Atheisten.

@Lumen:
Lumen hat geschrieben:Genausowenig wie Atheisten emotional oder meinetwegen auch spirituell unfähig sind. Das sind Menschen mit Interessen und Hobbies. Das sind Mütter, Ruderer, Zahnärztinnen, Musiker, Leser, Beinamputierte, Künstler, Brillenträger und so weiter und so fort. Wie Dawkins treffend notierte, Atheisten und Theisten sind in fast allen Dingen gleich.
Hier sind wir uns doch einig.
Der einzige Unterschied ist doch, dass Theisten ihre spirituellen Gefühle an einem Punkt (Gott ist alles) festmachen, während der Atheist keinen Fixpunkt hat, sondern sich alles vorstellen kann.

Lumen hat geschrieben:Dabei bleibt es aber nicht zwangsläufig, denn wer von religiösen Angeboten überhäuft wird und sie bewusst ausschlägt, hat bestimmte Gründe und Einstellungen. Das kann auch Kommunismus sein, es kann auch Skepzisismus sein, oder Humanismus, oder weniger pompös einfach eine kritische Haltung.
Genau: Und deswegen musst du den Religionsstaat mit einem Staatsystem anderer Art vergleichen. Der Theist per se, muss nicht unbedingt ein Befürworter eines Religionsstaates sein. Genausowenig, wie der Atheist Kommunist sein muss.
Ein freies System erlaubt Atheisten und Theisten nebeneinander. Niemand muss seinem Glauben abschwören müssen, nur weil sich das System verändert und umgekehrt.

Auf deine Raucher bezogen würde es heißen: Einige Raucher bestehen auf einen Raucherstaat, während sich die meisten Raucher in einem Nichtraucherstaat wohler fühlen, sich aber trotzdem gerne mal eine Zigarette anzünden wollen. Der Nichtraucherstaat müsste das aber akzeptieren können. Ein striktes Verbot der Zigarette ist keine Lösung und die Ächtung der Raucher ist inhuman.

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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon fopa » Do 20. Dez 2012, 09:19

Entschuldige, stine, aber mein Standpunkt ist wohl noch nicht deutlich geworden.

Das Problem ist eben nicht, dass Nicht-Christen sich nicht an Werten orientieren wollten, die in etwa den 10 Geboten entsprechen. Das Problem ist die Begründung dieser Gebote, die nämlich nicht weltlich, sondern göttlich ist, womit sie absolut und unabänderlich wird. Sich als Nicht-Christ danach zu richten, kommt dann einer Unterwerfung gleich. "Der Herr hat es geboten" statt "Wir einigen uns darauf".
Vergleiche es meinetwegen mit absolutistischer Monarchie vs. Demokratie. Unter einem absolutistischen Herrscher muss es den Menschen nicht per se schlecht gehen. Aber wenn jemand Mitbestimmung fordert, hat er schlechte Karten. Der Unterschied ist geht m.E. viel tiefer als der Austausch eines Chassis beim Auto.

stine hat geschrieben:Für Atheisten streichst du meinetwegen im ersten Gebot die Worte "andere" und "neben" und schon heißt es: Du sollst keine Götter haben. Das beinhaltet auch, dass man weder Satan noch Talismänner anbeten soll. Ein ganz wichtiges Gebot, wie mir scheint, gerade für spirituelle Atheisten.
Und eben das ist nicht gemeint. Jeder soll glauben wie er will. Entscheidend ist, dass man dem anderen diesen Glauben nicht aufzwingt. Ebenso soll niemand dazu gezwungen werden, an Nichts zu glauben.

Noch zum Religionsunterricht: Ja, sicher wird auch über Judentum und den Islam vermittelt. Wenn's hochkommt, sogar über Buddhismus oder Hinduismus. Auch ein Philosophie- oder Ethikunterricht muss dies zum Inhalt haben. Doch es dürfen eben nicht nur Inhalte vermittelt werden, sondern auch Konzepte:
  • Wie kann ich mir eine eigene Meinung bilden?
  • Wie kann ich zu einer Entscheidung finden? / Wie verläuft ein Entscheidungsprozess?
  • Wie trete ich Menschen gegenüber, die eine andere Auffassung, andere Werte vertreten?
  • Sind meine Wertvorstellungen prinzipiell anders zu bewerten als die meines Gegenübers?
usw. usw.
Das ist etwas, das ein nicht-neutraler Unterricht (Religionsunterricht) nicht leisten kann, weil diese Fragen keine religiösen Fragen sind. Die Fragen sind neutral, und Religionen geben konkrete Antworten. Wenn man aber nur Antworten liest/hört, stellt man keine Fragen mehr, stellt keine Konzepte auf.
Ein Unterricht muss beides leisten: 1. die Fragen und Konzepte aufstellen, und danach 2. mehrere mögliche Antworten vorstellen.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Do 20. Dez 2012, 17:39

fopa hat geschrieben:[*]Sind meine Wertvorstellungen prinzipiell anders zu bewerten als die meines Gegenübers?[/list]

Das wäre nach meiner Meinung schon die falsche Frage und das ist auch der Unterschied zu den Geboten: Eine Regel braucht juristisch für jede Ausnahme eine neue Regel. Deshalb sind Regeln keine Gebote, an denen man sein Gewissen festmacht.
An Regeln hat man sich zu halten, sonst wird man bestraft, außer es war eine der vielen Ausnahmen der Regel zu befolgen.

fopa hat geschrieben:Das ist etwas, das ein nicht-neutraler Unterricht (Religionsunterricht) nicht leisten kann, weil diese Fragen keine religiösen Fragen sind. Die Fragen sind neutral, und Religionen geben konkrete Antworten. Wenn man aber nur Antworten liest/hört, stellt man keine Fragen mehr, stellt keine Konzepte auf.
Ein Unterricht muss beides leisten: 1. die Fragen und Konzepte aufstellen, und danach 2. mehrere mögliche Antworten vorstellen.
Du siehst es doch an dir selber: Du hast irgendwann mal im Religionsunterricht von den Geboten gehört und suchst nun nach Alternativen im Humanismus. Das heißt - ohne gehts wohl nicht!
Du hast das schon richtig gesagt: Die Fragen sind neutral und Religionen geben konkrete Antworten. Nach meiner Meinung ist das aber auch der richtige Weg, weil: Alles was anzuzweifeln ist, wird auch angezweifelt!
Und deswegen gibt es zur göttlichen Weisheit leider (immer noch) keine Alternative. Ich habe schon lange vergeblich danach gesucht...

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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Fr 21. Dez 2012, 09:56

@mat-in
mat-in hat geschrieben:Ja, eine echte Glanzleistung, nachdem man ja auf dem 2. Laterankonzil 1139 schon beschlossen hat, das mit einer Armbrust nicht auf christenmenschen zu schießen sei.


2. Laterankonzil hat geschrieben:Das Konzil erließ auch eine schwer verständliche Bestimmung betreffend den Einsatz der Armbrust. Die häufig anzutreffende Behauptung, der Gebrauch der Armbrust sei für den Kampf von Christen gegen Christen untersagt worden, findet im Wortlaut des Beschlusses (Nr. 29: "artem ballistariorum et sagittariorum adversos Christianos et catholicos exerciti sub anathemate prohibent") keine Stütze, da die sagittarii (normale Bogenschützen) zusammen mit den ballistarii (Armbrustschützen) genannt sind und ein Verbot auch des Bogenschießens unmöglich gemeint sein konnte. Außerdem fehlt die ausdrückliche Erlaubnis, die Armbrust gegen die Feinde des Christentums einzusetzen. Die Bestimmung bleibt somit schwer verständlich. Da von "artem" (der Kunst) die Rede ist, könnte ein Kunst- oder Wettschießen auf Menschen gemeint sein.[2].


jeder erzählt die Geschichte halt anders.....

Kannst du deine Behauptung, der Apostolische Stuhl habe die Menschenrechtskonvention von 1948 noch nicht ratifiziert, durch kirchliche, offizielle Verlautbarungen belegen? Dachte ich mir. Mal abgesehen davon, dass die UN Charta kein Vertrag zwischen Staaten ist und daher der Ausdruck "ratifiziert" falsch ist: Die Enzyklyka "pacem in terris" von Johannes XXIII. sagt wohl mehr zur Haltung der Kirche zu der Charta als deine Vermutungen. Es ist nicht nur so, dass die Katholische Kirche die Menschenrechte anerkennt, sondern an ihrer Ausarbeitung aktiv mitgearbeitet hat, z.B. in Gestalt von Jacques Maritain:

Jacques Maritain hat geschrieben:Er sollte die Leitung der Delegation übernehmen, die Frankreich bei den UNESCO-Sitzungen in Mexiko-Stadt vertrat, wo es einen Entwurf für einen global geltenden Katalog von Menschenrechten auszuarbeiten galt. [...] Sein Einfluss auf die Beratungen in Mexiko kam schließlich darin zum Ausdruck, dass sich 22 der 26 von ihm vorgeschlagenen Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederfanden, die die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedeten.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Dez 2012, 11:14

Jedenfalls hat nicht zuletzt Dein mehrfacher Hinweis auf die Geschichte bei mir dafür gesorgt, dass ich mich mit diesem Thema mal näher befassen werde. Habe mir zu Weihnachten Angenendts „Toleranz und Gewalt“ gewünscht, ein ziemlich dicker Schinken, der in einer Besprechung der ZEIT lobend erwähnt wurde.

Angenendt scheint kompetent zu sein,
http://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Angenendt
aber kein Hofberichterstatter, wie man hier lesen kann:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/debat ... -1.1057311

Mir geht es auch zunehmend auf die Nerven, dass jeder übers Christentum, wie es vor 800 Jahren war, genauestens Bescheid zu wissen glaubt und in Wirklichkeit werden immer nur die gleichen Geschichten, aus den immer gleichen Quellen wiederholt. Ich stecke da selbst im tiefen Tal der Ahnungslosen.
Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, wie die Macht der Gewohnheit und der Sozialisiation dafür sorgen kann, dass jeder der im Chor nicht mitsingt wie jemand betrachtet wird, der alle Tassen im Schrank hat, verbunden mit dem aufrichtigen inneren Gefühl, dass das tatsächlich so ist.

Davon zu abstrahieren und sich wirklich mal den historischen Erkenntnissen (ich sage bewusst nicht den „Fakten“) zuzuwenden, erscheint mir dann doch mal nötig.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Fr 21. Dez 2012, 11:54

@Vollbreit

danke für die Literaturempfehlung
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon mat-in » Fr 21. Dez 2012, 12:27

stine hat geschrieben:Die Verhaltensregeln aus der Bibel, oder was wir heute die 10 Gebote nennen, sind doch nichts anderes, als Wertfeststellungen/Verhaltensregeln die Menschen schon vor über 2000 Jahren festgezurrt haben, weil sie gesehen haben, dass ohne Gebote das Zusammenleben nicht funktioniert. ... Die humanistischen Werte unterscheiden sich doch in Nichts.
Da ist ein sehr grundlegender Unterschied, schon beim 1. Gebot!!!
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Fr 21. Dez 2012, 12:35

Das hatte ich aber weiter oben schon entschärft. Nochmal nachlesen, bitte!

:wink: stine
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Lumen » Fr 21. Dez 2012, 13:09

Vollbreit hat geschrieben:[...] Mir geht es auch zunehmend auf die Nerven, dass jeder übers Christentum, wie es vor 800 Jahren war, genauestens Bescheid zu wissen glaubt und in Wirklichkeit werden immer nur die gleichen Geschichten, aus den immer gleichen Quellen wiederholt.[...]


Damit du auf deine Kosten kommen kannst, musst die die Geschichte schon umfassend umdeuten. Ständegesellschaft, Reformation und Doktrin hat es gegeben. Glaube und Aberglaube sind bestens dokumentiert. Noch heute glauben streng religiöse Menschen an die Heilungskraft des Gebetes, noch heute glauben sie an Gottes Plan. Wenn ein Unglück geschieht, äußern sich die gläubigen Wortführer in den USA aller Coleur zu Wort. Höre ihnen zu, dann wirken geschichtliche Darstellungen auch nicht mehr wie eine Verschwörungstheorie, sondern du erkennst ihre Handlungen in ihr wieder. Damit ich euch, dir und laie, folgen könnte, müsste ich gleichsam einen totalen Realitätsverlust erleiden. Leute wie Mike Huckabee vergessen, Reformation komplett umdeuten und so weiter.

Meine Sichtweise braucht keine Hexenverfolgung. Die ist nur nachgewiesen, weshalb es einfacher ist, darauf zu verweisen. Gehen wir ins theologische, in das, was die Leute glaubten (und sich entsprechend verhielten), wird es weit unübersichtlicher und auch deutlich finsterer. Das Verbrechen der Christen ist nicht Krieg oder Mord (da hat sich jede Demokratie auch einiges zu Schulden kommen lassen), sondern Seelenfolter und Psychoterror bislang unerreichter Dimension.

Jedenfalls reicht das Inventar dick aus, um "christliche Werte" komplett zu diskreditieren und das ist der einzige Zweck der Argumentation. Hexenverfolgung, oder Kreuzzüge — geschenkt.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon stine » Fr 21. Dez 2012, 15:00

Lumen hat geschrieben:Gehen wir ins theologische, in das, was die Leute glaubten (und sich entsprechend verhielten), wird es weit unübersichtlicher und auch deutlich finsterer. Das Verbrechen der Christen ist nicht Krieg oder Mord (da hat sich jede Demokratie auch einiges zu Schulden kommen lassen), sondern Seelenfolter und Psychoterror bislang unerreichter Dimension.

Da ist es schon wieder @Lumen: :rollsmile: Alles hat zwei Seiten! :rollsmilie3:
Es gibt aber auch Menschen, die aus dem Glauben/Religion/Christentum Trost und Hoffnung schöpfen und Liebe, Gemeinsamkeit und Geborgenheit finden.

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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Vollbreit » Fr 21. Dez 2012, 15:52

Lumen hat geschrieben:Damit ich euch, dir und laie, folgen könnte, müsste ich gleichsam einen totalen Realitätsverlust erleiden.


Da Dein teilweiser Realitätsverlust durchaus lesenswert und ertragreich ist, wollen wir uns alle nicht wünschen, dass er in einen totalen übergeht.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Fr 21. Dez 2012, 16:32

Lassen wir die Polemik (auch wenn's manchmal Spass macht). Ich denke die Diskussion hat gezeigt, dass das Verhältnis des Katholizismus zu den "westlichen" Werten nicht so eindeutig ist. Auf der einen Seite ist es m.E. ein Irrtum, dem Katholizismus einen gewichtigen Beitrag für die Entwicklung der allgemeinen Menschenrechte abzusprechen, auf der anderen Seite ist der Vatikan keine parlamentarische Demokratie.

Was wir nicht ausser acht lassen dürfen ist das unmittelbare Verhältnis von Kirche und Staat. Die Gräueltaten gegen Andersgläubige, Hexen usw. hatten da ihren Höhpunkt, wo der Staat einen Angriff auf die Religion als Angriff auf sich selbst betrachtete. Daher waren die Hexenverfolgungen vor allem durch weltliche Organe und Personen getragen; die kirchlichen Institutionen hatten seit der Renaissance nicht mehr die Befugnis, jemanden auf den Scheiterhaufen zu schicken. Gleichwohl haben sie wohl das theoretisch-juristische Argumentationsmuster geliefert, welches dann von weltlichen Institutionen instrumentalisiert wurde.

Daraus folgt, dass es in einem Staat, in welchem die Menschenrechte gelten sollen, keine Staatsreligion geben darf. Das muss unbedingt auch im Sinne der Kirchen sein: sie dürfen sich nie wieder so stark dem Staat anbiedern wie dies seit dem 17.Jahrhundert geschehen ist. Nur dann ist die Gefahr einer Instrumentalisierung geringer. Das gilt selbstredend für jedes Gedankengut: auch für die "neuen Atheisten" sollte es eine Warnung sein, wie staatliche Interessen vom Ansatz her eigentlich gute Ideen wie den kommunistische Ideale und Religiosität vereinnahmen und pervertieren können.

Wie muss also ein Staat beschaffen sein, um dauerhaft die Menschenrechte aufrechterhalten zu können?
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon Zappa » Fr 21. Dez 2012, 17:15

laie hat geschrieben: Daher waren die Hexenverfolgungen vor allem durch weltliche Organe und Personen getragen ...

In dem Sinne, dass diese weltliche Institutionen religiös kontaminiert waren, nehme ich an?

laie hat geschrieben: Wie muss also ein Staat beschaffen sein, um dauerhaft die Menschenrechte aufrechterhalten zu können?

Streng säkular und auch in anderen Bereichen sehr zurückhaltend. Der Staat sollte nur das Notwendige organisieren und sich ansonsten zurückziehen.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Fr 21. Dez 2012, 17:38

Zappa hat geschrieben:In dem Sinne, dass diese weltliche Institutionen religiös kontaminiert waren, nehme ich an?


Ja, in dem Sinne wie auch die DDR, China, Kambodscha usw. kommunistisch verseucht waren und es noch sind.

zappa hat geschrieben:Der Staat sollte nur das Notwendige organisieren und sich ansonsten zurückziehen.


Grundsätzlich stimme ich mit dir überein. Allerdings ist staatlicher Rückzug nur eine denkbare Position. Aber auch diese Doktrin folgt bestimmten Ansichten und Werten. Die Briten arbeiten immer noch die Thatcher-Jahre auf, da hat sich der Staat aus vielem zurückgezogen und privatisiert, gleiches in den USA.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon mat-in » Fr 21. Dez 2012, 19:49

laie hat geschrieben:@mat-in
Kannst du deine Behauptung, der Apostolische Stuhl habe die Menschenrechtskonvention von 1948 noch nicht ratifiziert, durch kirchliche, offizielle Verlautbarungen belegen? Dachte ich mir.
Was 1948 verfaßt wurde ist keine Konvention, sondern eine von der UN-Vollversammlung verabschiedete Erklärung. Die zu unterschreibenden Konventionen sind jüngeren Datums. Die Kinderrechtskonvention ist nicht unterschrieben, die Menschenrechtskonvention nicht unterschrieben (kann man auf der Seite der UN mit Begründung nachsehen).

Was der vatikan aktuell davon hält kann man z.B. in "CARITAS IN VERITATE" (2009) nachlesen.
Kommentar dazu der schon alles sagt: http://www.concordatwatch.eu/showtopic. ... r_id=47307
(kurz: Menschenrechte müsse man sich verdienen, Menschenrechte gelten nicht uneingeschränkt, ...)

Und auch das neue recht auf sauberes Wasser als Menschenrecht boykottiert der Vatikan. (Siehe: Rio20+)
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon fopa » Sa 22. Dez 2012, 08:22

laie hat geschrieben:Wie muss also ein Staat beschaffen sein, um dauerhaft die Menschenrechte aufrechterhalten zu können?
Erstmal müsste man sich die Frage stellen, was wir unter dem Staat verstehen wollen. Heutzutage verstehen viele Menschen unter dem Staat ja eine Art unterdrückerisches Regime, das bloß an ihrem Geld interessiert ist.
Die zweite Frage wäre, wie das Wertesystem einer Gesellschaft zustande kommt und wie es (vom Staat) gesichert wird. Dazu habe ich ja schon meine Vorstellung geschrieben: Demokratie, Gewaltenteilung, so viel Freiheit wie möglich und dabei so viel Einschränkung wie für Stabilität nötig. Was das bedeutet - darauf muss sich die Gesellschaft einigen.
Eine dritte Frage wäre, wie veränderlich man ein staatlich gesichertes Wertesystem gestalten möchte. Zum Beispiel, ob sich ein demokratisches System selbst in eine andere Staatsform überführen dürfte (was ja laut unserem Grundgesetz für Deutschland unmöglich ist). Dasselbe Problem bezüglich der Menschenrechte: eine Gesellschaft könnte ja durchaus zu der Ansicht kommen, dass die Menschenrechte nicht das Gelbe vom Ei sind. (Was nicht meine persönliche Meinung ist.)

laie hat geschrieben:Allerdings ist staatlicher Rückzug nur eine denkbare Position. Aber auch diese Doktrin folgt bestimmten Ansichten und Werten. Die Briten arbeiten immer noch die Thatcher-Jahre auf, da hat sich der Staat aus vielem zurückgezogen und privatisiert, gleiches in den USA.
An der momentanen Ausrichtung der FDP sieht man ja, dass Wirtschaftsliberalismus nicht zwingend einhergeht mit Sozialliberalismus. Deswegen muss man schon differenzieren zwischen staatlichem Rückzug aus Wirtschaftssystemen und der Gewährung persönlicher Freiheiten jedes Einzelnen.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Sa 22. Dez 2012, 12:06

@mat-in

ich kann mich der Deutung von concordat watch nicht anschliessen. Die Enzyklika "Caritas in veritate" ist ein komplexer Aufsatz, in dem der Papst theologische Begriffe verwendet und auf frühere Enzykliken verweist, deren Bedeutung man genau kennen muss, wirklich genau kennen muss, ehe man sich zu dümmlichen Urteilen der Art: "Der Papst verneint die Menschenrechte" oder "Der Papst möchte die Menschenrechte abschaffen" hinreissen lässt.

Im Grunde sagt der Papst, dass es eine Beziehung zwischen Liebe und Wahrheit gibt

Benedikt XVI. hat geschrieben:Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum an Werten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden. Denn die Wahrheit ist „lógos“, der „diá-logos“ schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt.
(Also: wer liebt, tut etwas wahres und wer etwas wahres tut, der schafft Gemeinschaft.)

und dass menschlich gesetzte Rechte (und dazu gehören nun einmal auch die Menschenrechte) ohne "Caritas" nichts wert sind.

Benedikt XVI. hat geschrieben:Jede Gesellschaft erarbeitet ein eigenes Rechtssystem. Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus


Was deine Behauptung angeht, die Kirche behindere den Zugang zu Wasser, bitte ich um mehr Belege als "Rio20+". Du stellst einfach mal unerhörte Behauptungen auf. Kein "Beleg" ist dir zu dämlich, als dass du ihn nicht aufhebst. Du bist einer von der Sorte, die früher behauptet haben, die Juden haben die Brunnen vergiftet.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon fopa » Sa 22. Dez 2012, 12:22

Ich habe mir den Artikel von Concordat Watch nicht durchgelesen. Dennoch möchte ich die päpstliche Logik noch einmal in die Reihenfolge bringen, wie sie sich mir darstellt:

  1. Es gibt eine Beziehung zwischen Liebe und Wahrheit, nämlich
    Benedikt XVI. hat geschrieben:Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum an Werten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden. Denn die Wahrheit ist „lógos“, der „diá-logos“ schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt.
  2. Menschlich gesetzte Rechte, und dazu gehören auch die Menschenrechte, sind ohne "Caritas" nichts wert.
    Benedikt XVI. hat geschrieben:Jede Gesellschaft erarbeitet ein eigenes Rechtssystem. Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus
  3. Deus Caritas est: Gott ist die Liebe
  4. Ergo: Solange ein Recht auf weltlichem Fundament steht, ist es nichtig. Nur göttliche Gesetze haben Gültigkeit.
Damit hätten wir wohl die Frage des Threads endgültig beantwortet.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon laie » Sa 22. Dez 2012, 12:45

Nein haben wir nicht. Denn es gibt keine "göttlichen Gesetze". Ich weiss nicht, warum Leute nicht von diesem dümmlichen, unreflektierten Ausdruck "göttliches Gesetz" lassen können. Es gibt nur das Wissen darum, dass Gesetze menschengemacht sind und wenn sie nicht von der Liebe durchdrungen sind, sie furchtbar sein können.

Ich denke, wir sollten einen eigenen thread aufmachen, um über die Enzyklika zu diskutieren. Ich habe ja längst nicht alles gelesen und vollends verstanden. Ich denke aber, es gibt hier Leute, die mir gleich sagen können, um was es darin eigentlich geht...

@fopa: ich fand deine Überlegungen zu Demokratie und Staat ganz interessant. Ich denke grundsätzlich kann man mitnehmen, dass es nicht einzelne Wertekomplexe sind, die das Leben der Menschen vergiften, sondern es die Macht, die das tut. Ich beginnen mich zu fragen, ob nicht das Konzept des Nationalstaats, das immer noch leitend ist, nicht überholt ist. Jeder Staat, auch der laizistischste, gründet sein Selbstverständnis und seine Macht auf bestimmte Wertvorstellungen, die er sich so zu eigen macht, so daß ein Angriff auf diese Werte ein Angriff auf ihn selbst sind. In diesen Wertvorstellungen muss jeder erzogen werden, daher ist Schule auch ein Element staatlichen Zwangs. Ich habe keine Vorstellung, wie eine Alternative aussehen könnte.
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Re: Passt der Katholizismus zu den "westlichen" Werten?

Beitragvon fopa » Sa 22. Dez 2012, 13:45

Auch dazu (Autokratie und Nationalstaat) sollten wir einen eigenen Thread aufmachen. Werde ich in Kürze tun. Habe allerdings in heute noch Termine.
Was die Enzyklika angeht, könnte eine DIskussion dadurch erschwert werden, dass man als Unkundiger (wie ich) erstmal sehr, sehr viel Text aufzuarbeiten hat. Aber man kann ja auch voneinander lernen. :boxen: :wink:
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