Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Vollbreit » Do 10. Jan 2013, 18:04

Ganz aktuell und exemplarisch:
mat-in hat geschrieben:Stimmt. Und wenn wir 100000 Stunden Glühlampen bauen können bin ich mir fast sicher, daß da ein "Höchsthaltbarkeitsdatum" eingebaut ist. So ähnlich wie Nylonstrümpfe auch, die ohne UV Schutz verkauft werden damit sie an der Sonne schnell kaputt gehen und man neue kaufen muß.


1von6,5Milliarden hat geschrieben:Nimm eine 60-Watt-Glühlampe und betreibe sie so, dass sie nur 4 Watt konsumiert. Nutzt dann halt nicht mehr viel, dafür wird sie 100 Jahre lang Energie verbrauchen und immer noch brennen, zumindest wenn sie nie aus- und eingeschaltet wird. Aber zur Erklärung der Weltverschwörung und der Nostalgie an die gute alte Zeit wird es reichen.


mat-in hat geschrieben:Also ich würde real existierende, Gerichtlich bekannte und rechtskräftig verurteilte Kartelle nicht ins Land der Märchen und Verschwörungstheorien verbannen... :motz: http://de.wikipedia.org/wiki/Phoebuskartell


Das Thema ist nicht so wahnsinnig brisant, insofern eignet es sich gut für die Fragestellung.
Wann ist man einfach ein Kritker der sich gut auskennt und wann kippt Kritik in Verschwörungsdenken?
Der Kritiker muss sich ja besser auskennen (oder es sich einbilden) als der Mainstream und dieser (oder „Experten“) muss dann das Thema zurückweisen, dann man zum Verschwörungstheorertiker wird.
Aber gibt es etwas, was den Verschwörungstheoretiker entlarvt?

Wann ist man Moralist, Träumer, Kirtikaster, Dauernörgler, Querulant, wann weiß man einfach mehr, sieht mehr Zusammenhänge, antizipiert Probleme und so weiter?
Welche typischen Elemente machen den Verschwörungstheoretiker aus, welche den guten Kritiker?

Oder macht erst die Mischung den Reiz aus, braucht eine Gesellschaft auch den Nörgler, als festen Bestandteil?
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Zappa » Do 10. Jan 2013, 20:45

Vollbreit hat geschrieben: Welche typischen Elemente machen den Verschwörungstheoretiker aus, welche den guten Kritiker?

Der gute Kritiker hat eine fundierte Sach- und Methodenkenntnis, ist am Objekt der Kritik hochgradig interessiert, hat aber darüber hinaus keine Agenda. Der Verschwörungstheoretiker hat zuallererst eine Agenda, ist am Objekt allenfalls zufällig/exemplarisch interessiert und hat kaum oder keine Methodenkenntnis. Sachkenntnis kann der Verschwörungstheoretiker haben, muss er aber nicht.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon provinzler » Do 10. Jan 2013, 22:44

Verschwörungstheoretiker ist hierzulande, wer nicht glaubt, dass die Regierung immer und ausnahmslos die Wahrheit erzählt. :lachtot:
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Nanna » Do 10. Jan 2013, 23:22

Für jemanden, der sich schwer tut, das Wort "Staat" ohne Wörter wie "Lüge", "Steuerraub" und "Ausbeutung" im selben Satz zu verwenden, mag das so aussehen. ;-)
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon provinzler » Do 10. Jan 2013, 23:34

Du wirst lachen, aber es gab mal ne ganz lustige Dokumentation, wo Verschwörungstheorien zu 9/11 widerlegt werden sollten. Was ich so lustig fand, war die Art der Widerlegung. Die begannen fast immer so: "Aus dem Regierungsbericht geht eindeutig hervor, dass..."
Anders formuliert heißt das doch: "Die Regierung sagt die Wahrheit, das hat die Regierung eindeutig festgestellt"
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Nanna » Do 10. Jan 2013, 23:47

provinzler hat geschrieben:Du wirst lachen, aber...

Ne, im Keller war ich heute schon. ;-)

provinzler hat geschrieben:...es gab mal ne ganz lustige Dokumentation, wo Verschwörungstheorien zu 9/11 widerlegt werden sollten. Was ich so lustig fand, war die Art der Widerlegung. Die begannen fast immer so: "Aus dem Regierungsbericht geht eindeutig hervor, dass..."
Anders formuliert heißt das doch: "Die Regierung sagt die Wahrheit, das hat die Regierung eindeutig festgestellt"

Die Frage ist, ob das nun gegen die Regierung oder gegen die Macher der Dokumentation spricht. Es wird ja auch nicht jeder für einen Verschwörungstheoretiker gehalten, der sagt, dass die Regierung falsches behauptet. Verschwörungstheoretiker ist ein Ruf, den man sich dann einfängt, wenn man unterstellt, die Regierung würde im Geheimen genauso denken wie man selbst bzw. so handeln, wie man erwarten würde - ziemliche Hybris und Egozentrik übrigens - und die Diskrepanz zwischen der eigenen Vorstellung, also Imagination, dessen was passiert und was nach außen dargestellt wird, könne und müsse nur so erklärt werden, dass die Regierung das wirkliche Geschehen über eine riesige Desinformationskampagne verschleiern würde - wobei übrigens, um der Absurdität die Krone aufzusetzen, meist dieselben Leute der Regierung die präzise Ausführung gigantischer Desinformationskampagnen zutrauen, die den Leuten im Regierungsapparat in allen anderen Kontexten nicht mal zutrauen, während der Arbeitszeit durchgehend wach zu bleiben. Dass man dann als jemand mit vorsichtig ausgedrückt leicht verschobener Wahrnehmung rüberkommt, sollte einen nicht verwundern.

Zappas Definition finde ich übrigens sehr gelungen.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon provinzler » Fr 11. Jan 2013, 00:49

Die beste Verschwörungstheorie der letzten Jahre stammt übrigens von unserer Bundesregierung. Finstere Spekulationsschwarzmächte haben sich mit bösen Ratingagenturen verschworen, die Einheit Europas zu sabotieren, indem sie Griechenland und Co. kein Geld für lau mehr leihen...
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Nanna » Fr 11. Jan 2013, 00:52

Ja, das war schwach, das gebe ich unumwunden zu.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Lumen » Fr 11. Jan 2013, 00:58

Neben dem, was Zappa aufgeführt hatte, würde ich noch hinzufügen, dass klassische Verschwörungstheorien nicht falsifizierbar sind und zusätzlich einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte anbieten. Dabei ist immer eher die Ursache einfach, die vielen Fakten müssen durch umständliche Erklärungen zurecht gerückt werden.

Es ist aber auch wieder leicht, bei allem "Verschwörungstheorie!" zu rufen, was nicht genehm ist. Es gilt bei manchen Leuten als Verschwörungstheorie, dass die USA seit dem 2. Weltkrieg die politische Landkarte der Welt nach eigenen Bedürfnissen umgestaltet und dabei auch keine moralischen Bedenken gezeigt hat. Demokratisch gewählte Vertreter, vor allem in Mittel- und Südamerika wurden genauso aus dem Weg geräumt, wie unliebsame Diktatoren. Anderswo wurden Demokraten oder Diktatoren ins Amt gehievt, ganz wie es gefiel. Interessanterweise wurde nie jemand wirklich zur Rechenschaft gezogen, nicht einmal Henry Kissinger (Hitchens der Tausendsassa hat sich auch mal dafür eingesetzt).
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Vollbreit » Fr 11. Jan 2013, 08:12

Danke, für die rege Beteiligung.

@ Zappa:

Ich glaube, dass auch ein guter Kritiker eine Agenda haben darf.
Man kann ja ideologisch aus dem konträren Lager kommen und dennoch den schwachen Punkt genau benennen können.

Meines Erachtens macht die Art der Kritik den Unterschied aus, ob man reden oder abrechnen will.
Und vor allem, ob das Weltbild des Kritikers grundsätzlich Korrekturen zulässt.
Ich finde man kann ruhig mit der Überzeugung in eine Recherche reingehen, dass in dem Bereich x nur Verbrecher sitzen, wenn man am Ende auch den Mut hat, zu sagen, dass es nicht so ist.


@ provinzler:

Genau um diese Punkte geht es mir. Man wächst mit einem irgendwie selbstverständlichen guten Glauben an und bestimmten Überzeugungen auf. Manche kommen zu dem Punkt, wo sie diese Überzeugungen bezweifeln, aber bei einigen scheint dieser Zweifel irgendwie chronisch zu werden und sie sehen überall (typerischerweise mit Ausnahme vielleicht einer kleinen Gruppe, zu der sie in den meisten Fällen selbst gehören) Verschwörung, Trickserei und so weiter.

Auf der anderen Seite, kann man diesen Eindruck tatsächlich manchmal haben, wenn es z.B. um die Machenschaften von Datenkraken im Internet geht. Vielleicht ist der geübte Paranoiker sogar besonders gut geeignet solche Machenschaften tatsächlich aufzudecken, frei nach dem Motto, dass man auch paranoid sein und trotzdem verfolgt werden kann. Einer renommierter und wohl auch Internetkritiker hat eine paranoid schizophrene Mutter, ihm dürften zumindest die Demkmuster nicht fremd sein, Recht hat er wohl dennoch.


@ Nanna:

Da ist eben auch was dran. Es gibt eine gewisse Wurschtigkeit, die sich positiv gewendet damit anfreunden und abfinden kann, dass es sowas wie willenlose und anaonyme Systeme und Systemzwänge gibt, ohne dass es geheime Strippenzieher und von langer und längster Hand geplante Verschwörungen gibt, die so geheim sind, dass jährlich mehrere 1000 Seiten Bücher über die ultrageheimen Machenschaften gedruckt werden.

Ich glaube auch, dass Du Recht damit hast, dass neben dem moralisierenden Element immer ein gewisse Egozentrik mit Größenwahn zur Verschwörung gehört.
„Es sagt den Leuten ja keiner, wie es wirklich ist und wenn ich es nicht tue, wer sonst...?“

Man muss auch sehen, dass solche Einstellungen sexy sind. Wer das versteht und durchschaut, gehört von jetzt auf gleich zu den Durchblickern, die anderen als Herdenvieh zurücklassend, so billig ist das selten zu haben.

Wiederum ist die notwendige Kehrseite der investigative Journalismus, der vermutlich ähnliche Typen braucht, die biestig sind, sich nicht abspeisen und einschüchtern lassen und um jeden Preis, wenn sie mal Blut geleckt haben, ihr Ziel verfolgen.

Ich meine, dass die Präsentation der gesammelten Daten viel verrät.
Verschwörer geben gerne den selbstgefälligen Bescheidwisser und ihre Sprache ist dunkel und voll Geraune und sehr gerne generalisierend: „Wie man bekanntlich weiß, ….“ das sind so typischen Wendungen, die schon unausgesprochen suggerieren („und wer es nicht weiß, ist ein Idiot“).
Oder gerne auch: „Ist es nicht merkwürdig, dass...?“
Da wird mehr an die Affekte als an den Verstand appelliert, wobei es auch diejenigen gibt, die beteuern nur logisch vorzugehen und meinen Wahrheit wäre das, was sich in simple Kosten-Nutzen Rechnungen pressen lässt. Das „Cui bono?“ ist in der Verschwörungsindustrie allgegenwärtig.

Auch die Wortwahl ist hier ein Indiz: Werden eher affektive - und dort vor allem idealisierende und entwertende - Begriffe verwendet oder wird tatsächlich argumentiert? Erscheinen Polemiken, die ein probates Stilmittel sein können, angemessen oder schießen sie übers Ziel hinaus und diskreditieren die/den ganze(n) Person/Institution/Staat.


@ Lumen:

Lumen hat geschrieben:Neben dem, was Zappa aufgeführt hatte, würde ich noch hinzufügen, dass klassische Verschwörungstheorien nicht falsifizierbar sind und zusätzlich einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte anbieten. Dabei ist immer eher die Ursache einfach, die vielen Fakten müssen durch umständliche Erklärungen zurecht gerückt werden.


Ja, das scheint auch mir ein wichtiger Punkt zu sein.
Das Ergebnis steht fest, die Begründung wird noch gesucht. Gar nicht mal immer umständlich, sondern hier und da durchaus virtuos, Verschwörer können sehr gut Bescheid wissen, die Unkorrigierbarkeit ihres Weltbildes, ist m.E. ein springender Punkt.

Lumen hat geschrieben:Es ist aber auch wieder leicht, bei allem "Verschwörungstheorie!" zu rufen, was nicht genehm ist. Es gilt bei manchen Leuten als Verschwörungstheorie, dass die USA seit dem 2. Weltkrieg die politische Landkarte der Welt nach eigenen Bedürfnissen umgestaltet und dabei auch keine moralischen Bedenken gezeigt hat.


Ich glaube, dass kann man durchaus auch diskutieren, aber der Befund, dass die USA seine moralische Autorität verspielt hat, ist heute kaum mehr von der Hand zu weisen. Ob das nicht ein schleichender Übergang war, da würde ich dann eher noch mal hinschauen wollen, aber das wären Details ist hier nicht so wichtig sind.

Lumen hat geschrieben:Demokratisch gewählte Vertreter, vor allem in Mittel- und Südamerika wurden genauso aus dem Weg geräumt, wie unliebsame Diktatoren. Anderswo wurden Demokraten oder Diktatoren ins Amt gehievt, ganz wie es gefiel. Interessanterweise wurde nie jemand wirklich zur Rechenschaft gezogen, nicht einmal Henry Kissinger (Hitchens der Tausendsassa hat sich auch mal dafür eingesetzt).


Was mich immer wundert, ist, wenn es jemanden wundert, dass Staatsführer primär nationalistische Interessen haben, dazu sind sie in den meisten Fällen per Gesetz verpflichtet. Deutschland ist da eher zurückhaltend, was auch historische Gründe haben wird.

Aber genau darum soll es ja gehen, zu versuchen, Kriterien zu finden, die Verschwörungen von berechtigter Kritik unterscheiden lassen.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon stine » Fr 11. Jan 2013, 09:55

Ein toller Film zum Thema:
A Beautiful Mind
Wer ihn noch nicht kennt, unbedingt anschauen!

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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Vollbreit » Fr 11. Jan 2013, 12:22

Mich interessieren schrullige Typen auch immer (den Film kenne ich übrigens nicht) und auch der Zusammenhang zwischen Psychopathologie und irgendwelchen besonderen Leistungen.

Ich habe früher schon mal was über Dopaminmangel/-überschuss geschrieben, ich zitier' das noch mal, weil es gut zu dem verrückten Wissenschaftler und dem Thema passt.:

Vollbreit hat geschrieben:Dopamin steht neurobiologisch in einem engen Zusammenhang mit dem Erkennen von Mustern. Parkinsonpatienten, die entweder zu wenig Dopamin herstellen können oder zu wenig oder geschädigte Rezeptoren haben, haben große Schwierigkeiten Neues zu behalten. Kinder die wenig Dopamin haben, lernen schlechter, können ebenfalls Prinzipien weniger gut , Muster erkennen.
Am anderen Ende des Spektrum stehen Halluzinationen die u.a. dann auftauchen, wenn der Körper zu viel Dopamin zugeführt bekommt. Man sieht dann Muster und Zusammenhänge die gar nicht da sind und nichts anderes ist ein Kriterium der Paranoia. Überall sieht man geheime Muster und Zusammenhänge, auch da wo eben keine sind.

Oder anders gesagt: Wo andere keine sehen.
Und genau hier wird es kompliziert. Wo genau ist die Grenze zur Pathologie?
Klar, wenn mich Monster verfolgen, die niemand sieht, der Fernsehsprecher mir geheime Zeichen gibt, die mich vor der Weltverschwörung von Al Kaida und dem Papst warnen sollen, dann steht der Verdacht im Raum, dass da was nicht stimmt.
Aber wusstest Du, dass es bei Mathematikern überdurchschnittliche viele Schizophrene gibt (und psychotische Paranoia ist eine Untergruppe der Schizophrenie)? Die sehen, mindestens mal statistisch, auch Muster, wo keine sind. Bzw., wo andere keine sehen. Aber sind sie deshalb schon gaga? Genau deshalb sind sie ja gute Mathematiker. Die sehen was, was andere nicht sehen, nicht erkennen können. Und ein anderes Kriterium für Pathologie haben wir gar nicht. Wenn ich einen strahlend schönen Engel sehe, aber außer mir niemand, habe ich eine Halluzination. Warum? Weil ihn außer mir niemand sieht. Wenn ich einen Zusammenhang sehe, den sonst keiner sieht, bin ich suspekt, wenn ich ihn öffentlich mache.

Das differenziertere Kriterium ist darum auch, ob ich verstehen kann, dass es anderen merkwürdig vorkommen muss, dass ich diese Gedanken habe oder Dinge sehe, die andere nicht sehen. Ist das gewährleistet, bin ich nicht psychotisch. Also Vorsicht mit Pathologiesierungen und „Heilungen“ von Bewusstseinszuständen. Wenn Du mal siehst, welche Geistesgrößen, die wir heute verehren, salopp gesagt schwer einen an der Waffel hatten und zwar quer durch den Garten: Politiker, Künstler, Philosophen, Wissenschaftler, Du würdest vermutlich staunen.
Die alle gesund zu normieren, hieße der Welt viele Erkenntnisse und Impulse zu nehmen.

Was da richtig und falsch ist, wo die Grenze liegt, sagt einem niemand, es gibt keine Normwert für Dopamin, in dem Sinne, dass man sagt, dass es hier pathologisch wird. Obendrein ist Dopamin einer einer von 15 oder mehr Neurotransmittern, deren Wirkung und vor allem Wechselwirkungen mit den anderen Neurotransmittersystemen höchstens in groben Ansätzen erforscht ist.

Es gibt da so eine Achse von der paranoiden Persönlichkeitsstörung bis hinunter zur paranoiden Schizophrenie und Verschwörungstheoretiker haben eigentlich immer eine Krankheit aus dieser Kategorie. Nur, kann man eben krank und genial sein, das schließt sich nicht aus.

Ich glaube, was einen Unterschied ausmacht, zwischen einem Kritiker auf der Höhe und einem Paranoiker oder Verschwörungstheoretiker, ist die Tatsache, wie er das Weltbild darstellt, das er kritisiert. Wie Lumen schon sagt, meistens wird bei Verschwörungstheoretikern vereinfacht und zwar vor allem und charakteristisch, die Motive der „Gegenseite“.

Die Gegenseite ist zumeist, mächtig (oder wird zumindest so dargestellt), vor allem aber gerissen, verlogen und boshaft. Eine differenzierte Weltsicht oder vor allem differenzierte (ambivalente) Motive zu haben, kann der Verschwörungstheoretiker seinem Gegenüber nicht zuschreiben. Das ist mir immer wieder aufgefallen.

Nicht die Brillanz der eigenen Interpretation sondern die Darstellung des Gegenüber ist ein entscheidender Punkt.
Daraus folgt aber ein Problem: Was mache ich, wenn mein Gegenüber (vor allem wohl eine Einzelperson) tatsächlich durchtrieben und gerissen ist und recht eindeutige, negative Absichten hat? Hier muss man wohl verstärkt auf den Kontext schauen, wie der Befund präsentiert wird, ob entwertend oder empathisch.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon stine » Fr 11. Jan 2013, 13:09

Passt vielleicht nicht ganz zum Thema, aber was unterschiedliche Denkweisen betrifft, ist das Thema Hochbegabung auch immer wieder interessant. Zwischen Genie und Wahnsinn, eben.
Das Video habe ich schon mal reingestellt, aber das war vor einem halben Jahrhundert, da waren einige Forenmitglieder noch gar nicht geboren :mg: . Und andere sind leider nicht mehr da.

Das Viedeo lässt sich aber immer noch anklicken.

LG stine
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Nanna » Fr 11. Jan 2013, 13:32

@Vollbreit:
A Beautiful Mind solltest du unbedingt gesehen haben, ganz besonders vor dem Hintergrund, dass du dich für psychische Erkrankungen interessierst. Erzählt wird die (wahre, für den Film natürlich etwas hollywoodisierte) Geschichte von John F. Nash Jr., der das Nash-Gleichgewicht in der Spieltheorie entdeckt und dafür später den Nobelpreis in Ökonomie erhalten hat. Nash war wegen einer schweren psychischen Erkrankung jahrzehntelang nicht arbeitsfähig und dieses Oszillieren zwischen Genie und Wahn inszeniert der Film wirklich unheimlich gut.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon mat-in » Fr 11. Jan 2013, 13:52

Was die Verschwörungstheorie ausmacht ist wohl eine gewisse Resistenz gegen Argumente, vorgebracht als Tatsachen, ohne jegliche belege.

Ein Beispiel:
Theorie: "Alle Hunde sind vom Mars und haben Gedankenkontrollchips um ihre Besitzer zu steuern".
Gegenargument: "Aber ich bin Tierarzt, ich habe noch nie so einen Chip auf einem Röntgenbild gesehen".
Argumentresitenz: "Das sind ja auch biologische Chips, designt das du sie nicht sehen kannst" oder wahlweise "Du bist also auch Teil der Verschwörung!"

Widerlegungen die in jeglicher Art und Weise wissenschaftlichen Grundregeln und Logik zu wieder laufen, nur um an der Theorie festhalten zu können. Alles was dann nicht in dieses Bild paßt wird passend gebogen.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Vollbreit » Fr 11. Jan 2013, 14:58

@ stine und Nanna:

Danke noch mal, für den Tipp, habe ich mir gemerkt.


@ mat-in:

Ja, so läuft das, in der Regel, wobei, wenn man mit Leuten diskutiert, die so drauf sind, die Sache sehr tricky werden kann. Was ich immer wieder festgestellt habe, ist, dass es keine Betrüger in dem Sinne sind, dass sie meinen, anderen eine Bären aufzubinden, die sind von den eigenwilligsten Theorien überzeugt.

Mit der falschen Logik ist das so eine Sache. Das verschwörerische System ist zwar in sich geschlossen, aber eben auch nicht unlogisch. Die Prämissen sind halt etwas wild und es scheint zu gelten, Verschwörer sind immer die anderen.

Dass niemand ihnen zustimmt, juckt Verschwörungstheoretiker nicht, das macht ja ihre (gefühlte) Besonderheit aus: Wie Du schon sagst, die anderen sind (aus ihrer Sicht) entweder dumm oder Teil der Verschwörung.

Was auch noch häufig ist, ist eine Ablehnung des Mainstream und zwar fast generell. Ohne Ansehen der Fakten. Die alternative Idee scheint grundsätzlich mehr Reiz auszuüben, als die langweilige Mainstreamerklärung. Nur weil es viele glauben, kann es nicht richtig sein, denn zum Weltbild der Verschwörungstheoretiker gehört, dass so gut wie kein Bereich des Lebens nicht manipuliert wird.

Wird sind alle hypnotisiert, konditioniert, von UFOs ferngesteuert, von den Massenmedien (in den Händen einiger weniger Mächtiger) manipuliert, gerne haben Hochfinanz und Politik und magische Zirkel und ein Paar Geheimdienste (und nicht selten alle zusammen) die Hände im Spiel, nur eines erscheint Verschwörungstheoretikern völlig verrückt vorzukommen, dass irgendwas nicht nach dem Willen und zum Nutzen einer nahezu allmächtigen Figur/Organisation im Hintergrund funktioniert.

Einen Verdacht auszusprechen reicht: „Ist es nicht merkwürdig, dass der Klimawandel ausgerechnet mit dem arabischen Frühling zusammenfällt?“ Vermutlich nicht, aber Stoff genug für jeden durchschnittlich begabten VTer. Dinge kausal in Beziehung zu setzen, die in keiner kausalen Verbindung stehen, das ist eine Zutat, aber da muss man eben wieder vorsichtig sein. Es könnten wirklich Muster sein, die niemand sonst sehen kann.

Soziale Systeme kann man nicht sehen, die Schönheit von mathematischen Formeln erschließt sich den meisten wohl eher nicht und dennoch scheint es das zu geben, für den der sehen kann...
Den Blick für bestimmte Dinge muss man erst trainieren und manche weichen eben radikal von den gängigen Vorgaben ab, wie etwas Ludwig Wittgenstein, aber der war irgendwie auch völlig bekloppt, oder?
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon mat-in » Fr 11. Jan 2013, 16:10

Vollbreit hat geschrieben:@ mat-in:

Ja, so läuft das, in der Regel, wobei, wenn man mit Leuten diskutiert, die so drauf sind, die Sache sehr tricky werden kann. Was ich immer wieder festgestellt habe, ist, dass es keine Betrüger in dem Sinne sind, dass sie meinen, anderen eine Bären aufzubinden, die sind von den eigenwilligsten Theorien überzeugt.

Mit der falschen Logik ist das so eine Sache. Das verschwörerische System ist zwar in sich geschlossen, aber eben auch nicht unlogisch. Die Prämissen sind halt etwas wild und es scheint zu gelten, Verschwörer sind immer die anderen.
Ja, das ist ein ähnliches / das gleiche Problem wie die Diskussion mit entsprechend fanatisch religiösen Menschen. In deren Logik macht es ja auch Sinn, Menschen die an Schmerzen leiden Schmerzmittel vorzuenthalten, weil das damit angerichtete Leid / Schaden dann dann durch die Erfahrung "des Schmerz und leiden Jesu" zur Erlösung und einem besseren Leben im Jenseits führt. Das ist genauso bar jeder Naturwissenschat und Logik, aber in deren "Realitätsblase" durchaus schlüssig und sie sind die "Guten".

Was das bilden von Zusamenhängen angeht, ist der Mensch da nun mal verdammt gut, ebenso wie beim erkennen von Absichten. Das läuft halt ab und an aus dem Ruder und man erkennt es nicht.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Vollbreit » Fr 11. Jan 2013, 17:27

Mit Logik oder nicht hat das nur bedingt zu tun.
Das Problem ist, dass „logisch falsch“ zwar ein Kriterium von einigem Wert ist (man kann dann wenigstens wissen, dass die Begründung so nicht stimmt) aber „logisch richtig“ so gut wie nichts aussagt. Wenn die Prämisse lautet, dass das Leid des Herrn nachzuvollziehen die höchste Wonne, Gnade oder sonst etwas ist, ist der Gedankengang die Medis vorzuenthalten logisch vollkommen richtig. Das zeigt die Grenzen.

Die Frage in unserem Kontext muss die sein, ob man willens und in der Lage ist, die Prämissen zu kassieren.

Der gute Kritiker wird einsehen, wenn er sich verrannt hat oder alternativ haufenweise Belege für seine These haben, der Verschwörungstheoretiker wird umso erbitterter an seiner These festhalten, je mehr die Fakten gegen ihn sprechen. Hier greift die paranoide Logik: Wenn es allen bekannt wäre, wäre mein Wissen ja nichts Besonderes. Hier wird der Widerspruch als Medium zur Selbsterhöhung, was eine Umkehrung der Verhältnisse darstellt. Kaum zu knacken, da aus der Not geboren.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon Libertaer » Fr 11. Jan 2013, 17:51

mat-in hat geschrieben:Theorie: "Alle Hunde sind vom Mars und haben Gedankenkontrollchips um ihre Besitzer zu steuern".
Gegenargument: "Aber ich bin Tierarzt, ich habe noch nie so einen Chip auf einem Röntgenbild gesehen".
Argumentresitenz: "Das sind ja auch biologische Chips, designt das du sie nicht sehen kannst" oder wahlweise "Du bist also auch Teil der Verschwörung!"

Vielleicht sollte man (um berechtigte Werbung zu machen und weil's ein ziemlich wörtliches Zitat ist) anmerken, dass dieses Beispiel aus Stephen Laws 'Believing Bullshit' stammt.
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Re: Wann kippt berechtigte Kritik in Verschwörungsdenken?

Beitragvon mat-in » Sa 12. Jan 2013, 07:28

Vollbreit hat geschrieben:Mit Logik oder nicht hat das nur bedingt zu tun.
Das Problem ist, dass „logisch falsch“ zwar ein Kriterium von einigem Wert ist (man kann dann wenigstens wissen, dass die Begründung so nicht stimmt) aber „logisch richtig“ so gut wie nichts aussagt. .... Das zeigt die Grenzen.
Stimmt ganz genau, deswegen schrieb ich ja logik und wissenschaft. Ersteres zeigt die groben Fehler auf wenn man aneckt und letzteres ist derzeit der beste Weg Erkenntniss zu gewinnen, wenn man da grob aneckt sollte man zu mindest mal überdenken was man redet.

@Libertaer
Die Grundidee mit den Kontrollchips stammt da her, ja. Das Beispiel ist genau das Level an "bizarr" das man braucht., aber da ich keine Lust hatte es abzutippen habe ich mir eine verkürzte Antwort ausgedacht und es nicht kenntlich gemacht, woher die Idee kam. In dem Buch sind noch ein par weitere Punkte sehr gut zusammengefaßt, aber die passen hier weniger zum Thema.
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