Ich versuch mal etwas anderes, weil das Hin- und Hergeschmeiße von Fakten ja nun irgendwie nicht zu viel führt hier. Ich möchte versuchen, die Problematik offen zu legen, die in dem Mechanismus begründet liegt, wie Menschen (Individuen als auch Gruppen) ihre Identität konstruieren, und warum in diesem Zusammenhang wer was sagt. Also warum betont die EU die Grundwerte, warum betonst du die Verwerflichkeit dieser EU-Statements und warum kommt es da notwendigerweise zum Clash?
Mein Kompliment übrigens an jeden, der sich das komplett durchliest und nicht den Faden verliert. Es ist eine komplizierte Materie, die ich manchmal selbst schwer zu verbalisieren finde.
Gandalf hat geschrieben:In einer freiheitlichen Gesellschaft heisst es nur: Alle sind vor dem Gesetz gleich! Und daher klingt es bedrohlich wenn es eine undemokratisch angelegte Legislative etwas mittels Gesetzestexten genau ein- (und aus-)grenzen muss, was selbstverständliches (Menschen-)Recht ist, das 'außerhalb/oberhalb der Legislative' steht (wie war das nochmal mit den Menschenrechten gemäß Verfassung der DDR?)
Du argumentierst im Grunde wie ein Befreiungstheologe: Sobald man das Ungerechte zerstört hat, stellt sich automatisch das Gute ein - das ist die Grundannahme, die deiner libertären Utopie zugrunde liegt. Ich kann dazu nur sagen - und du kannst selbst entscheiden, ob du damit etwas anfangen kannst -, dass das eine Sichtweise ist, die in ihrer Unbestimmtkeit keine praktische Anwendungsfähigkeit besitzt und die den Fragen nach a) ihrer eigenen Anwendbarkeit und b) der Garantie der eigenen Voraussetzungen ausweicht (sprich: wenn Freiheit einerseits bedeutet, den Menschen möglichst wenig zu beeinflussen (etwa durch normative Regeln), und gleichzeitig aber auch bedeutet, normative Regeln
von sich aus einzuhalten (Verträge, Achtung der Rechte des Anderen), wie bekommt man dann die Leute zu einer freiheitlichen Gesinnung, wenn man sie nicht auffordern darf, freiheitlich zu sein? - also: kann der Libertarismus hier seine eigenen Voraussetzungen schaffen oder vampirisiert er hier die Bildungs- und "Propaganda"einrichtungen der, nennen wir sie mal, "Gesellschaften mit organisierter Freiheit").
Auch auf die Gefahr, in weiten Teilen miss- oder gar nicht verstanden zu werden, hole ich mal weiter aus. Ich gebe zu, die entscheidende Rolle, die Identitätskonstruktion in unseren politischen Debatten spielt, ist auch dem interessierten Laien möglicherweise nicht so wahnsinnig schnell/leicht zugänglich:
Jede Gesellschaft braucht (d.h. strebt nach) einer Verortung in der Welt, sprich, nach Identität. Identität macht sich maßgeblich an dem fest, was man
nicht ist. Das kannst du an dir selbst beobachten, du bist ja auch den ganzen Tag damit beschäftigt, die EU und den Staat als "das Andere" zu konstruieren, weil du eine Spiegelfläche für deine Identität als Libertärer brauchst. Bei den Brights ist es die Dauerbeschäftigung mit Religion, die als identitätsstiftendes Merkmal ritualisiert wiedergekäut wird. Es muss dabei nicht um konkrete andere Menschen(gruppen) gehen, aber es muss bestimmt sein, wer wir sind und wer wir
nicht sind.
Freiheit z.B. ist als Begriff in der Diskurstheorie ein sog. "leerer Signifikant"*, ein Begriff, der nicht positiv definiert werden kann (eigentlich gilt das für alle Begriffe, aber ich vereinfache jetzt mal stark, um mir nicht die Finger wund schreiben zu müssen). Das heißt, "Freiheit" wird in Abgrenzung zu "Unfreiheit" definiert. Das kannst du auch an dir selbst beobachten, wenn du einfach mal zählst, wie oft du Freiheit in Zusammenhang mit Knechtschaft, Raub, Bevormundung etc. nennst.
Nun hast du persönlich das Pech, dass deine Identität darauf beruht, in Opposition zum Staat zu stehen, weil du diesen als Antagonisten der Freiheit auffasst. Der Staat selber beruft sich auch auf Freiheit, stellt dieser aber andere Antagonismen gegenüber. Etwas überspitzt sagt der (demokratisch-rechtsstaatliche) Staat, dass er als Wächter existiert gegen die Tyrannei (eines Einzelnen oder der Mehrheit), gegen die Ungleichbehandlung, gegen Kriminelle und generelle Widrigkeiten des Lebens. Der Staat rechtfertigt sich dadurch, dass er durch seine Existenz die Abwesenheit dieser Dinge garantiert. Nun ist immer die Frage, welcher Deutung man sich anschließt: Sieht man den Staat selber als Teil der Ungerechtigkeiten oder als Verdränger dieser Ungerechtigkeiten. Wie man auch entscheidet, was man/du verstehen sollte(st), ist, dass der Staat eine Definition dessen, wofür er da ist, wirklich existenziell braucht. In der BRD (wie in der DDR) ist das der Gründungsmythos als antifaschistisches Projekt. Es ist kein Wunder, dass das "nie wieder" so sakrosankt ist in Deutschland, weil die bundesrepublikanische Identität ihre Existenzberechtigung stark aus dem Anspruch bezieht, den Nationalsozialismus zu überwinden.
Generell berufen westliche Staaten sich heute immer stärker auf die Menschenrechte. Wenn ich jetzt davon schreibe, dass diese Staaten den Kampf für die Menschenrechte als identitätsstiftendes Merkmal brauchen, befürchte ich, dass du das missverstehst als Akt der Propaganda und Desinformation, als Willkür sozusagen. Damit würdest du aber den wichtigen Punkt übersehen, dass ein Staat, der sich nicht glaubwürdig für seinen Identitätskern einsetzt auf Dauer nicht überleben kann. Die DDR ist da das beste Beispiel. Denn wie du selbst sagst, hatte die DDR (einige) Menschenrechte tatsächlich in der Verfassung. Sie konnte aber den Anspruch nicht erfüllen und hat damit ihre Daseinsberechtigung verloren. Es reicht also nicht aus, einfach nur zu behaupten, man sei für irgendetwas; insbesondere vor der (im Vergleich) ziemlich mündigen westlichen Öffentlichkeit können nur überzeugende Projekte langfristig bestehen.
Was meine ich damit jetzt (Versuch eines Fazits)?
1. Es ist gut und sogar notwendig, dass die EU definiert, wer sie ist und wofür sie steht. Wenn sie die Menschenrechte durchsetzen will, reicht es nicht einfach aus - so wie du behauptest - Recht zu praktizieren, sondern es muss auch Recht im entsprechenden Geiste gesprochen werden. Es ist ohne weiteres möglich, Gesetze so zu erlassen, dass sie völlig diskriminierungsfrei sind (also nicht "Schwarze dürfen keine Autos kaufen" drin steht), aber faktisch trotzdem zu Ungleichbehandlung führen. Ein menschenrechtlich interessierter Gesetzgeber bezieht solche Fragen mit ein, und genau an diesem Anspruch muss die EU sich ja auch messen lassen.
2. Jeder hat eine Identität (eigentlich mehrere), die sich grundsätzlich über Ab- und Ausgrenzungen definiert. Auch für Libertäre gilt das. Die EU grenzt beispielsweise mit der genannten Gesetzgebung radikale Elemente (solche, die wohl auch du zum Kotzen fändest) aus. Ehrlich gesagt weiß ich bei der EU da deutlich besser, woran ich bin, als bei dir, weil die Identität, die die EU sich gibt, deutlich schärfer umrissen ist. Zudem schafft die EU Fakten, die man gegenüber ihrem Anspruch abgleichen kann. Eine gute Identität, nennen wir es hier mal nicht gleich Utopie, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie Anspruch und Wirklichkeit auf Deckung bringen kann. Hier hat die EU dem Libertarismus einiges voraus, der harret nämlich noch seiner empirischen Überprüfung.
(3. Die Frage ist, ob man dem Problem der "Bevormundung" überhaupt durch die Abschaffung des Staates entkommen kann. Die Hoffnung der Libertären ist ja, dass die Gesellschaft sich dann so organisiert, dass die verschiedenen Identitäten nebeneinander friedlich existieren. Abgesehen von der Fragmentierung, die das für die Gesellschaft recht sicher bedeuten würde, stellt sich die Frage, inwiefern das Problem dadurch nicht einfach nur eine Ebene nach unten transformiert würde (weiterhin existierende Zwangsgemeinschaften wie Stadtbevölkerungen oder Familien gäbe es ja weiterhin) und ob die Fragmentierung, die durch das fehlende überwölbende Narrativ entstünde, nicht gleichzeitig eine schärfere Abtrennung, quasi eine Parzellierung der Gesellschaft, bedeuten würde, mit all den hässlichen Gruppendynamiken wie interne Dogmatisierung, Abschottung, Loyalitätszwang etc. So abwegig es dem Libertären scheinen mag, aber das Fehlen eines die Gesellschaft überwölbenden, moderierenden Narrativs könnte das Gegenteil dessen herbeiführen, was gewünscht war).
Gandalf hat geschrieben:Wenn also in einer freiheitlich rechtlichen Grundordnung 'gleiches (Verfahrens-)Recht für alle' gilt, - warum muss ich dann separat auf "Nichtdiskriminierung", "Solidarität" - und den ganzen Schmonzes separat eingehen?
Wie ich lang und umständlich (Verzeihung für mögliche Unklarheiten) zu erklären versucht habe, ist "freiheitlich" erstmal ein nichtssagender Begriff, wenn er nicht scharf umrissen wird. Das geht, diskursorisch, nur über Abgrenzungen (sprach- bzw. diskurstheoretisch gibt es ja eigentlich gar keine Positivdefintionen). D.h. ich muss erst mal festlegen, dass Freiheit z.B. impliziert, niemanden zu diskriminieren. Für dich, der jeden Tag in einer starken Identität mit einem starken Antagonismus lebt, ist das ironischerweise unverständlich, weil dir "freiheitlich" als vollkommen klar, offensichtlich, beinahe natürlich erscheint. Das ist normal für jemanden, der sich scharf gegen seine Umwelt abgrenzen kann, da erscheint vor der mächtigen Projektionsfläche (staatlich geprägtes Lebensumfeld) auch der antagonistische Begriff ("Freiheit") besonders deutlich definiert zu sein. Für jemanden wie mich, der aus einer anderen Perspektive kommend nicht dasselbe unter Freiheit verstehen kann (weil ich andere Grenzen um den Begriff ziehe, ihn de facto also anders definiere), ist das nicht so einfach. Aus meiner Perspektive ist es offensichtlicher, warum wir Definitionen brauchen, die Begriffe wie "Nichtdiskriminierung" und "Solidarität" beinhalten.
Du wirst dich vermutlich nicht geschmeichelt fühlen, wenn ich die Libertären mit den Muslimbrüdern vergleiche, aber ich bringe das Beispiel trotzdem mal: Die Muslimbrüder meinten in all den Jahren der Unterdrückung sehr genau zu wissen, was sie meinten, wenn sie "Islam" sagten (deren Pendant zu dem, was für die "Freiheit" als zentraler Begriff ist). Seit sie an der Macht sind, geht nun aber plötzlich das Taktieren und Herumgestreite los - weil man nämlich den säkularen Staat als antagonistische Projektionsfläche teilweise verloren hat. Je mehr aber der identitätsstiftende Antagonismus verloren geht, desto unklarer wird, was man eigentlich meint. Vor dem Hintergrund kann man euch Libertären nur wünschen, dass ihr nie in die Verlegenheit kommen werdet, eure Utopie in einer staatsarmen Umgebung tatsächlich umsetzen zu müssen. Die massiven Sprach- und Definitionsprobleme, die damit einhergingen, könntet ihr, ähnlich wie der rechte Flügel der amerikanischen Gesellschaft das heute mit dem Waffengesetz vormacht, nur umgehen, indem ihr ritualisiert einen Strohmann bekämpft - sozusagen das ritualisierte Schlachten des Monsters "Staat", ohne das ihr gar nicht mehr wüsstet, wer ihr eigentlich seid als "Libertäre".
Der bittere Witz an der Geschichte ist ja, dass auch eine libertäre Gesellschaft das Narrativ des Libertarismus bräuchte, um zu funktionieren - falls dieses Narrativ nämlich nicht das hegemoniale Narrativ wäre, würde sich irgendwo ein anderes Narrativ aufschwingen, die diskursorische Hegemonie zu gewinnen, vermutlich eines, bei dem die Effektivität kollektiven disziplinierten Handelns im Vordergrund stünde. Und da müsst ihr zugeben, man kann noch so tolle Produktivität schaffen durch Freihandel, gegen einen organisierten Kollektivismus ist kein libertäres Kraut gewachsen, dazu ist er zu mächtig und aggressiv. Schon blöd: Um die Hegemonie des staatlichen Hegemons abzuschaffen, muss man selbst die Hegemonie anstreben, was man wegen grundsätzlicher Ablehnung von Hegemonien aber eigentlich nicht will.
Gandalf hat geschrieben:Das hier macht dann schon deutlicher, - was auf Initiative der Sozialisten - beschlosssen werden soll und offenba rauf "Strafen für falsche Meinungen" hinausläuft:
http://www.europarl.europa.eu/registre/ ... 499_DE.pdf Es müssen Grundsätze und Mindestanforderungen hinsichtlich der Verfassung und der internen Organisation europäischer politischer Parteien festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass sie einem hohen Standard interner Parteidemokratie verpflichtet sind. Die Satzung einer europäischen politischen Partei oder einer europäischen politischen Stiftung sollte auch einige grundlegende administrative und juristische Bestimmungen umfassen
Das ist lustigerweise eine harmlose Formulierung im Vergleich zu all dem Kleinklein des deutschen Parteiengesetzes. Es klingt in meinen Ohren auch überhaupt nicht bedrohlich, eher als Feststellung von Selbstverständlichkeiten in Bezug auf eine Parteiengesetzgebung.
Für dich zählt das aber zu dem Bereich, der in deiner Identität dem Antagonismus zugeordnet ist, über den du dich (leider sehr stark und zentral) definierst. Daher
muss das wohl bedrohlich klingen, einfach weil es anders schlecht in die Art passt, wie du den Input der Realität prozessierst. Du müsstest wortwörtlich ein Anderer werden, um in diesen Sätzen keine Bedrohung mehr wahrnehmen zu können (nicht unbedingt ein radikal Anderer, aber ein Anderer als jetzt).
Mir geht's, bei all dem Theoriegeschwafel, eigentlich vor allem darum: Dass du möglicherweise erkennen kannst, dass Perspektiven hier eine Rolle spielen; dass der o.g. EU-Entwurf nicht zensorisch
ist, sondern dass dies deine Interpretation ist, die von den Interpertationen Anderer abweicht.
____
*: siehe dazu z.B. Ernesto Laclau (Postmarxist, Poststrukturalist): "Emancipation(s)"