provinzler hat geschrieben:Da ich über die Situation im Nahen Osten leider viel zu wenig weiß, wäre ich Nanna dankbar, wenn er seiner Ausführungen zu den Hintergründen vielleicht noch etwas erweitern würde.
Ich kann's versuchen, aber versprich dir nicht unbedingt Klarheit, von dem, was ich erzählen kann. Wenn ich bislang eines über den Nahen Osten gelernt habe, dann, dass er sich Versuchen einer Vereinfachung ziemlich resistent widersetzt.
Ich versuch es mal holzschnittartig zu umreißen:
Problematik Nr. 1: Der Nahe Osten als Kessel Buntes
Der Nahe Osten ist viel diverser, als die Islamophobiker hier immer insinuieren. Ich würde sagen, dass die kulturelle Vielfalt der europäischen kaum nachsteht, vielleicht abgesehen von einer etwas geringeren Bevölkerung (~300 Mio., je nachdem wo man die Grenzen zieht) und einer sprachlicher größeren Einheit. Da hört's aber auch schon auf. Ethnisch gesehen tummeln sich da Nachkommen der Griechen, Römer, Ägypter, Berbervölker, Perser, Turkvölker, Kurden, Kreuzfahrer-Europäer, Araber, Schwarzafrikaner und sicher noch einige weitere Volksgruppen. Kulturell gesehen liegt da seit 10.000 Jahren ununterbrochen eine Schicht Zivilisation auf der nächsten. Wer glaubt, dass der Islam typisch orientalisch bzw. der Orient typisch islamisch ist, vergisst bloß, dass der historisch nur einen recht kleinen Teil des Geschehens ausmacht. Traditionelle und lokale Vorstellungen sind viel präsenter, als man denkt. Die Leute in Damaskus ticken anders als die in Aleppo und Kairo ist nochmal ne ganz andere Nummer. "Den" Nahen Osten gibt es eigentlich gar nicht, auch wenn gerade der Islam und gewisse orientalische Traditionen sicherlich ein starkes verbindendes Element ist, mit dem die Leute dort sich identifizieren, aber kulturell und sprachlich kann ein Berber aus Tanger mit einem Kurden aus Erbil ungefähr so viel anfangen wie ein Portugiese mit einem Litauer oder vielleicht sogar weniger. Etwas abgeschwächt gilt das übrigens auch für näher beieinander liegende Orte.
Problematik Nr. 2: Religiöse Diversität
Anders als die europäische Wahrnehmung vom Islamistan gibt es neben Juden und (auch arabischen) Christen wahnsinnig viele Unterströmungen des Islam und noch ein paar Sonderfälle wie die Bahai, die Drusen, die Yeziden und andere. Einerseits hat der Nahe Osten eine lange Tradition friedlicher Koexistenz der Religionen, andererseits auch eine Geschichte blutiger Religionskriege. Auf jeden Fall ist Religiosität deutlich wichtiger, deutlich identitätsbildender und deutlich weniger verhandelbar als bei uns. Es wäre falsch, die Leute als kompromisslos darzustellen, das sind auch alles nur Menschen dort, aber der Faktor Religion ist schon sehr stark. Zwischen Sunna und Schia gibt es eine über weit mehr als ein Jahrtausend zurückreichende Geschichte von Rivalität und gegenseitigem Argwohn. Zwar haben sich die kriegerischen Konfrontationen auf dieser Grundlage sehr in Grenzen gehalten, aber der Konflikt lässt sich leider politisch zu leicht reaktivieren und instrumentalisieren und irgendwen, der daran ein Interesse hat, gibt's eigentlich immer. Überhaupt ist es ein großes Problem, dass die religiöse Überzeugung stark an Gefühle der Gruppenzugehörigkeit gekoppelt ist (anders als die individualistischere Sicht auf Religion, die zumindest heute in Europa vorherrscht) und Loyalitätsfragen dann schnell auch eine Frage der Glaubensfestigkeit sind (wer seinen Glaubensbrüdern nicht beisteht, gilt dann schnell mal als nicht so richtig religiös).
Problematik Nr. 3: Traditionalität (manchmal auch bloß auch Trotz und Prinzip)
Wenn man mal dort war, weiß man zwar, dass der Nahe Osten moderner und vom Lebensstil her "westlicher" ist, als das ewige Gebrabbel vom großen unüberwindbaren Kulturunterschied unterstellt, aber insgesamt sind Traditionen schon ein wichtiges Element des Zusammenlebens. Gerade weil der Staat häufig an seinen Bürgern desinteressiert ist, die Korruption grassiert und es eine sehr reale Bedrohung durch Gewalt und Krieg gibt, haben Traditionen eine stabilisierende und psychologisch Orientierung gebende Funktion. Vielerorts sind Familien- und Stammesstrukturen äußerst stark an althergebrachten Vorstellungen angelehnt, selbst wenn diese ganz offensichtlich nicht mehr in die Zeit passen mögen. Familienpolitik ist
der Identitätsanker schlechthin, Diskussionen darüber werden schnell wahnsinnig emotional und die Verlustängste, dem Westen auch noch den letzten Bereich der eigenen Identität zu opfern, sind wirklich massiv. Ich kenne da selbst Fälle von Freunden, gerade aus Ägypten, wo arrangierte Ehen ein riesiges Streitthema in den Familien sind und die jungen Leute zwischen den Beziehungsidealen, mit denen sie im Internet und Kino in Berührung kommen und den traditionellen Anforderungen fürchterlich zerrissen sind (und das aber selten gegen die Eltern oder die Gesellschaft richten, weil sie keine unreligiösen Nestbeschmutzer sein wollen, die dem Westen auf den Leim gehen). Die akademische Forschung bestätigt das Problem übrigens, dass es häufig allein die Angst um die eigene Identität ist, die die Leute häufig wider besseres Wissen an traditionellen Vorstellungen festhalten lässt.
Problematik Nr. 4: Wirtschaftliche Stagnation / demographic trap
Der Nahe Osten sitzt ökonomisch in der Falle, und das hat meines Erachtens drei Hauptgründe:
- Der erste ist offensichtlich: Die Dauerkrise macht konservativ und wenig reformfreudig. Bloß nichts neues probieren, könnte ja schief gehen und dann schmeißt wieder ein mit Hirnzellen Dünnbesiedelter irgendwo Bomben. Investoren haben natürlich auch keine Lust, da zu investieren und wenn irgendwo Geld generiert wird, z.B. durch den Ölexport, sitzt irgendeine kleptokratische Elite drauf und sediert die Leute kräftig.
- Der zweite ist historisch: Der Nahe Osten hat in den letzten tausend Jahren zwei sehr massive Krisen hinnehmen müssen, einmal die Zerstörungen der Infrastruktur, insbesondere der Bewässerungssysteme, durch den Mongolensturm (in manchen Gegenden, v.a. im Irak, ist die landwirtschaftliche Produktion heute noch unter dem mittelalterlichen Niveau!) und dann der Verlust der Seidenstraße durch die Entdeckung des Seewegs nach Indien, wodurch die ganzen Zölle und Zwischenhandelsgewinne wegfielen. Dazu kommt, dass das Wirtschaftssystem des Osmanischen Reichs die jeweiligen Landesherren in den Provinzen dazu verleitet hat, kurzfristigen Profit vor langfristige Investitionen zu setzen, weil aus machtpolitischen Gründen die jeweiligen Gouverneure alle paar Jahre durchrotieren mussten, um keine lokale Machtbasis errichten zu können. Das hat über Jahrhunderte die Provinzen ausbluten lassen, während die Fürstenhäuser in Europa über Generationen auf denselben Flecken Land saßen und sich trotz aller Verschwendungssucht im Schnitt dann doch gehütet haben, ihre Landstriche verkommen zu lassen.
- Der dritte ist demographisch und zwar sitzt der Nahe Osten in einer sog.
demographic trap, wo sämtliche Produktionszuwächse sofort von der steigenden Bevölkerung verkonsumiert werden und sich kein Stock an Wohlstand bilden kann. Die Folge sind eine massive Jugendarbeitslosigkeit, Stagnation und eine Unfähigkeit, zu dem Entwicklungslevel aufzuschließen, ab dem die Zahl der Kinder pro Frau sich reduziert und die Bevölkerung sich einpendeln kann. Zusammen mit den traditionellen Vorstellungen ebenfalls ein Problem: Sexuelle Frustration unter Teens und Twens, die mangels Geld nicht heiraten können. Die Geburtenrate ist trotzdem hoch, gerade in den Armenvierteln und auf dem Land, also bei den Bevölkerungsschichten, die ohnehin schon besonders wenig zum Produktionszuwachs beitragen können.
Problematik Nr. 5: Unfähige Eliten
Man kann ja viel bedauern im aktuellen Bundestagswahlkampf, aber wir haben es hier echt verdammt gut mit unseren Funktionseliten. Im Nahen Osten herrscht ein unbeschreibliches Ausmaß an Korruption, Postengeschachere, Bereicherung und eine Neigung, möglichst inkompetente Leute an Entscheidungspositionen zu beschäftigen, damit die bloß nicht positiv auffallen und am Ende Machtambitionen entwickeln. Schlimmer aber ist die Selbstbezogenheit sehr vieler Leute, nicht nur, aber vor allem im Staatsdienst. Verbindungen ("wasta") sind alles, wenn man irgendetwas braucht, so was wie "due process" gibt es selten. Wie bei den meisten Eliten in Entwicklungsländern kommt eine Verachtung der gebildeten Schichten der einfachen Bevölkerung gegenüber hinzu, anstelle einer fürsorgenden, fördernden Haltung. Loyalität gilt zuerst mal der eigenen Gruppe gegenüber, sei es der Clan/Stamm, das eigene Dorf oder Stadtteil oder die eigene Religionsgemeinschaft. Dass eine Gesellschaft eine Führung und Verwaltung braucht, die solche Trennlinien hinter sich lässt und gemeinwohlorientiert und neutral arbeitet, ist bei vielen entweder nicht angekommen oder wird aus Fatalismus ignoriert. Die Regeln der
good governance werden auf breiter Linie nicht befolgt und es wird notorisch in die eigene Tasche gewirtschaftet. Die Ineffizienz und Aufgeblasenheit der Verwaltungsapparate führt dazu, dass die Gehälter so niedrig sind, dass man ohne Korruption fast nicht überleben kann, d.h. Staatsdienstleistungen werden quasi verkauft, obwohl man eigentlich schon Steuern dafür bezahlt hat. Ich habe selber z.B. schon offensichtlich erfundene "Stempelgebühren" in Syrien bezahlen dürfen und das war im Vergleich sehr harmlos. Ein Gespräch mit dem Geheimdienst handelt man sich auch recht flott ein. Man weiß selten, ob man schon schmiert oder noch Trinkgeld gibt.
provinzler hat geschrieben:Auf mich wirkt das bisher einfach wie ein Stellvertreterscharmützel mit der USA samt Anhängseln auf der einen und den widererstarkten Russland und China auf der andren Seite.
Jein. Das bringt uns zu...
Problematik Nr. 6: Einmischung von Außen
Ein sehr, sehr kompliziertes Thema. Der Nahe Osten liegt geografisch und historisch in der Mitte der Welt, da treffen viele Interessen und Mächte aufeinander. Über die Natur des Nahen Ostens als "penetrated system" ist viel geschrieben worden. Wahr ist, dass die europäischen Großmächte seit gut 200 Jahren im Nahen Osten herumpfuschen und sich nicht immer unbedingt für das Wohlergehen der Einheimischen interessiert haben, was die "uns" bis heute übel nehmen. Wahr ist auch, dass heute immer noch externe Mächte ein starkes Interesse an der Region haben, und zwar wegen:
- des Öls. Ich habe keine politische Diskussion mit irgendwem aus dem Nahen Osten erlebt, in der nicht irgendwann sinngemäß der Satz "Ich bin so froh, wenn das scheiß Öl weg ist!" fiel. So lange da der Schmierstoff der Weltwirtschaft herumliegt, werden sich Leute von außen einmischen, und divide et impera spielen.
- Israel. Historische Verantwortung, Vorposten des Westen, hegemoniale Regionalmacht, es gibt aus Sicht der unterschiedlichen Akteure viele Gründe, sich für oder gegen Israel zu engagieren. Auch bei Israel wird es schnell emotional im Nahen Osten, wegen der Gefühle der Verletztheit und Scham, sich gegen den Zwerg an der Mittelmeerküste trotz vielfacher zahlenmäßiger Überlegenheit nicht durchsetzen zu können, wegen der religiösen Implikationen, wegen des fortgesetzten (aber, was man häufig schwer vermitteln kann, zum Teil auch selbstverschuldeten) Leids der Palästinenser.
- dem Systemkonflikt Demokratie vs. Theokratie zwischen USA und Iran. Der eigentliche Kernkonflikt des Nahen Ostens seit 1979, auch wenn alle fälschlicherweise immer auf das Palästinaproblem deuten. Reingemogelt hat sich noch Saudi-Arabien an strategisch geschickter Seite der USA, aber allein motiviert durch Hegemonieambitionen. Tragischerweise instrumentalisieren Iran und Saudi-Arabien den alten Konflikt zwischen Sunna und Schia für sich, was, wie schon gesagt, ja sehr leicht geht. Meiner Meinung nach ist eines der größten Hindernisse überhaupt für Frieden im Nahen Osten der Lauwarme Krieg zwischen den USA und Iran. Wenn die beiden sich wieder zusammenraufen würden, wäre der größte Schritt zur Lösung vieler weiterer Probleme getan. Ist aber wie mit Kuba: Beide Seiten leiden, sind aber zu stolz und trotzig, um mal Fünfe gerade sein zu lassen und sich wie Erwachsene zu benehmen. Ok, der Iran ist innenpolitisch auch eine recht verfahrene Kiste, aber das ist ein eigenes Thema...
Problematik Nr. 7: Religiöser Extremismus
Ich war nicht ganz sicher, ob ich es als eigenen Punkt anführen soll, weil sich der Extremismus meines Erachtens aus den obigen Punkten ergibt und kein eigenes Problem im eigentlichen Sinne ist. Ich halte ihn persönlich mehr für Symptom als für Ursache. Trotzdem führt er natürlich zu einer Betonkopfhaltung, die sich, wenn sie sich verfestigt hat, nicht so leicht wieder umdrehen lässt. Ich bin der Meinung, dass zu wenig unternommen wird, sowohl vom Westen als auch von den säkularen Eliten, um die Fundamentalisten in den politischen Prozess einzubinden. Ägypten ist das jüngste Negativbeispiel. Überhaupt fand ich es in Ägypten erschreckend, wie extrem das Lagerdenken ist. Man kann entweder säkular-links oder religiös-konservativ sein in Ägypten, aber nichts dazwischen. Vollkommen bescheuert und kein bisschen demokratisch. Die haben dort einen laaangen Weg vor sich, so viel kann ich versprechen.
Wer sich jetzt nicht klüger fühlt, darf gern nachfragen. Ich hab unheimlich vieles angerissen, aber im Detail ist es häufig natürlich nochmal vielschichtiger. Wie schon anfangs gesagt, verweigert der Nahe Osten sich gegenüber Vereinfachungen. Was klar geworden sein sollte, ist, dass so viele Ebenen ineinander spielen, dass man für Lösungen entweder sehr lange auf den richtigen Moment warten muss oder eine Mehrebenenlösung entwickeln muss, die an mehreren Problemen gleichzeitig ansetzt. Das ist in der wenig veränderungswilligen, wenig innovativen Kultur im Nahen Osten aber auch leichter gesagt als getan. Positiv ist anzumerken, dass es eine starke Konsenskultur gibt, was vielleicht komisch klingt für viele hier, die die Region nur als Konfliktherd wahrnehmen. In einer diversen Gesellschaft aber einen Konsens zu schaffen, ist natürlich schwierig. Da ist der Westen mit seiner Konfliktkultur und seiner Machbarkeitsorientierung sicherlich in vielerlei Hinsicht besser dran. Hilft aber nichts, man muss mit dem arbeiten, was man vorfindet, was für mich vor allem heißt: Geduld haben und das versuchen, wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Es gibt positive Beispiele, wie die Türkei, und die strahlen ab, langsam zwar, aber sie tun es.