provinzler hat geschrieben:Tja mit der Argumentation, wäre es auch völlig unangebracht, sich gegen Kriegstreiber, Folter oder ähnliches zur Wehr zu setzen. Denn auch die gibt es seit die Menschheit existiert.
Du verdrehst mein Argument etwas, aber im Prinzip gilt auch hier, dass es recht unwahrscheinlich ist, dass in absehbarer Zeit eine Ära anbricht, in der es keine Ungerechtigkeit mehr gibt - schon deshalb, weil es im Detail nicht so trivial ist, sich auf einen Gerechtigkeitsbegriff zu einigen, den alle akzeptieren. Und auch bei Folter würde ich nicht jede Empörung hören wollen, weil Empörung nicht allein dadurch hilfreich ist, dass sie Folter zum Ziel hat.
provinzler hat geschrieben:Mit meinem eigenen Leben komme ich so im Großen und Ganzen ganz gut klar. Aber wenn jemand versucht ungerechtfertigte Ansprüche gegen mich oder andre gewaltsam zu exekutieren, dann werde ich sauer.
Die Frage, die sich da aufdrängt, ist eben nur: wann ist ein Anspruch gerechtfertigt und wann nicht? So wie ich das sehe, möchtest du im wesentlichen selbst bestimmen, wann das der Fall ist, und damit ist halt im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat (= organisierte Gesellschaft) zu machen, weil da jeder nach Gutdünken entscheiden kann, was Andere von ihm erwarten dürfen und was nicht.
provinzler hat geschrieben:Und noch angepisster werde ich, wenn das dann noch moralisch verbrämt wird, und das Ganze mit moralischen Anschuldigungen garniert und mich noch mit einem "selber schuld" verhöhnt. Ich kann diese Lügen schlichtweg nicht mehr hören...
Niemand hat dich verhöhnt. DAS ist jetzt wirklich in deinem Kopf passiert.
Ich fordere dich in diesem Punkt hin und wieder gerne heraus, weil ich glaube, dass du davon profitieren kannst, deine eigene, in
diesem Punkt sehr schmale und unheimlich emotionalisierte Sicht zu hinterfragen und vielleicht eines Tages durch eine gelassenere, innerlich freiere Haltung zu ersetzen. Ich mag dich nämlich wirklich und es schmerzt, zu sehen, wie leicht dich dieses Thema aus dem Gleichgewicht bringt.
provinzler hat geschrieben:Nanna hat geschrieben:Ich finde, es gehört dazu, auch in der Lage zu sein, einfach mal "C’est la vie!" sagen zu können, ohne deshalb alles Gegebene automatisch gut oder richtig zu finden.
Ja, der schöne Satz: "Akzeptiers einfach, weil das ist halt so/machen alle so", der immer dann kommt, wenn die Aufforderung kommt ungerechtfertigte Ansprüche gewaltsam zu exekutieren doch zu begründen und rechtzufertigen, und zwar ohne Berufung auf Dogmatik. Mit deiner Logik könnte eine religiöse Mehrheit dich als Ketzer aufhängen, weil das in der Gesellschaft dann nun mal so Konvention ist. Würdest du dann auf dem Weg zu Galgen, auch noch "C'est la vie" sagen?
Ich würde an die Menschlichkeit der Richter und die Gesellschaft appellieren, würde mit den Menschenrechten argumentieren, würde sicherlich auch verzweifeln, aber ich hoffe doch inständig, dass ich die innere Stärke finden würde, dem Impuls zu widerstehen, auf Beschimpfungen mit Gegenbeschimpfungen zu antworten. Und auf dem Galgen zu stehen, "C’est la vie!"zu sagen und wie Sokrates mit einem Lächeln zu gehen, vielleicht mich innerlich auch an (Achtung, Antitheisten, jetzt wird's gefährlich!) Lk 23,34 ("Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.") orientieren, wäre doch echt mal ein Abgang mit Stil.
provinzler hat geschrieben:Klar und wenn die Meute mal wieder besonders geil drauf ist, fremde Völker zu überfallen oder Minderheiten zu vergasen, wird man mich zwingen mitzumachen oder zu sterben (gut die Freiheit zum Suizid hab ich noch als Desertions-Alternative. Soll ich mich dafür auch noch bei den kriegsgeilen Arschlöchern bedanken?). Ich persönlich werde davon wohl zum Glück verschont bleiben, weil Greise nicht so versessen auf Schützengräben sind. Was aber nichts daran ändert, dass die Arschlöcher sich derart "Rechte" weiterhin vorbehalten.
Du bist Teil dieser Gesellschaft und kannst aktiv daran mitwirken, dass sie so einen Weg nicht geht. Wenn du dich natürlich entscheidest, dass dich das alles nicht angeht und dich alle in Ruhe lassen sollen, bleiben am Ende wirklich nur die Idioten und Arschlöcher übrig, die um die gesellschaftliche Macht kämpfen.
provinzler hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Dann lass uns doch über Sinn, Unsinn und Herleitung voon Konventionen reden, ist doch eh das Metathema der beiden Threads hier und sicher ergiebig.
Dabei ist das relativ einfach. Konventionen sind solange zulässig, solange sie auf der freiwilligen Vereinbarung aller Beteiligten beruht und die grundlegenden Rechte des Individuums unberührt lassen (u.a. also auch beispielsweise auf die Anwendung von Gewaltmaßnahmen verzichtet wird und Dritte durch eine Vereinbarung nicht geschädigt werden).
Das ist
eine Metakonvention, die man über Konventionen haben kann, und sicherlich eine gute. In der Realität sieht es damit aber nicht so einfach aus, denn diese Konvention flächendeckend umzusetzen, bringt den Großteil der Menschen an intellektuelle, entwicklungspsychologische (siehe Vollbreits Erklärungen), perspektivische (unterschiedliche Interpretationen der Metakonvention), bildungstechnische, teils auch zeitliche Grenzen, die eine Überforderung bedingen, die zur Regression auf klassischer konventionelle Verhaltensweisen führen würden.
Hinzu kommen diejenigen, die an reziproken Beziehungen ohnehin nie interessiert sind und sie auch nicht verstehen können (3. Stufe der Moralentwicklung oder drunter; hab mich mal etwas eingelesen
). Diese Menschen sind oft nur in der Lage ausbeuterische Beziehungen zu führen. Gegen diese Leute müsstest du ironischerweise Gewalt anwenden, um deine Konvention durchzusetzen, was dich direkt in den performativen Selbstwiderspruch zur Forderung nach Gewaltverzicht führen würde. Du könntest also entweder zusehen, wie die Gesellschaft aus Überforderung den Bach runtergeht und sich nach einem politischen, sicher auch gewalttätigen Machtgerangel wieder ein stabiler Zustand einpendelt, oder du wärst selbst derjenige, der scheibchenweise Gewaltanwendung und weitergehende Regelungen einführen würde, um Problemherde einzudämmen.
Beim großen Rest (~60 - 80%) der Bevölkerung, der recht konventionell unterwegs ist ("traditionalists" bei MBTI, konventionelle Moralstufen bei Wilber, Loevinger, Kohlberg etc.) wirst du aber auch auf Probleme stoßen, weil auch hier die Abstraktionsfähigkeit, den Anderen in die Simulation eigenen Verhaltens einbeziehen zu können, nicht vollentwickelt ist, wenn keine Konventionen (Kultur, Mentalität, Religion) da sind, die Orientierung geben. Auch diese Leute werden von deiner relationalen Konvention überfordert sein und nicht verstehen können, warum denn keiner da ist, der für Recht und Ordnung sorgt und "was für den kleinen Mann tut".
Der letzte Punkt, den ich noch ansprechen möchte, ist der, dass es historisch meist schlimmer war als heute. Gauck hat vermutlich Recht damit, dass wir heute im besten Deutschland leben, das es je gab. Insofern bin ich immer etwas irritiert, wenn neben all den Fehlern und Ungemütlichkeiten des Staates die Erfolgsgeschichte, die die Menschheit in der Entwicklung der Gesellschaftsorganisation durchgemacht hat, nicht gewürdigt wird.
In der Realität reicht es halt nicht aus, dass man hehre Grundsätze entwickelt hat, man braucht auch ein System, mit dem man diese Grundsätze implementieren kann. Und da kommt man selten drumherum, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen.
provinzler hat geschrieben:Selbst wenn ich mir im bayrischen Wald ein Stück Land kaufe, und mich dort als Einsiedler nur von wild wachsenden Beeren ernähre, bin ich sicher, dass das die GEZ nicht abhalten wird, das als Haushalt zu definieren und mich zu drangsalieren. Noch wahrscheinlicher wird man mich allerdings pathologisieren, entmündigen und zwangspsychatrieren, weil mein Verhalten "nicht normal" ist.
Ach... müsste man ausprobieren. Und selbst wenn: auch als Einsiedler wärst du Teil der Gesellschaft, ein verschrobenes zwar, aber halt doch eines. Damit einher gehen Rechte und Pflichten, und das
ist so, weil du Mitglied der Gesellschaft bist, nicht, weil du dich irgendwann mal dazu entscheiden hast und den Disclaimer unterschrieben hast. Du wirst da nicht gefragt, genausowenig, wie du gefragt wurdest, ob du geboren werden wolltest, ob du Mitglied deiner Familie, deiner direkten Umgebung (Dorf, Stadtviertel) sein wolltest oder ob dir das Klima in Deutschland besonders gefällt. So ist es halt. Sorry, kann ich nichts dran ändern, das ist irgendwo Teil der conditio humana, so geht's einem halt, wenn man Mitglied dieser Spezies ist. Dein Ärger darüber wird nicht nur nichts ändern, er wird dich auch eher hindern als befähigen, wenigstens in bestimmten Bereichen Veränderungen herbeizuführen und er wird
dich unglücklicher machen als irgendjemand anderen. Da ist die Frage, einfach um deiner selbst willen, ob du es schaffst, mit etwas, wenigstens ein klein bisschen, Milde auf diese Umstände zu sehen und dich damit selber befreist (Ergänzung zu stine: beim Vergeben geht es nicht um den Anderen, der einem etwas angetan hat, zu befreien, sondern darum, sich selbst von der Last der ewigen Beschäftigung mit dem Geschehenen frei zu machen).
Und ich sage dir das
wirklich in aller Freundschaft.