Evolution und Hackordnung

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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon stine » Do 27. Sep 2012, 09:14

Vollbreit hat geschrieben:Der Begriff der Evolution ist beim Verhalten des Menschen und seiner Deutung noch problematischer, weil der Mensch die natürliche Selektion und Evolution deutlich erkennbar kulturell überformt, so das die Erklärungsansätze der Biologen hier nur sehr begrenzt und reduzierend greifen.
Auch eine kulturelle Überformung würde ich als evolutionäre Folge bezeichnen. Der Mensch ist ein leidenschaftlicher Opportunist, er könnte sonst gar nicht überleben, und genau deswegen tut er das auch: Eine kunstvolle Ordnung schaffen, die seiner natürlichen Charakterisierung entgegenkommt oder ihr sogar im schlimmsten Fall diametral gegenübersteht.
Gedachte Modelle und Anpassung als evolutionäre Errungenschaft, würd ich sagen.

LG stine
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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon Vollbreit » Do 27. Sep 2012, 10:33

stine hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Der Mensch ist ein leidenschaftlicher Opportunist, er könnte sonst gar nicht überleben, und genau deswegen tut er das auch: Eine kunstvolle Ordnung schaffen, die seiner natürlichen Charakterisierung entgegenkommt oder ihr sogar im schlimmsten Fall diametral gegenübersteht.


Eben, es geht beides. Mit irgendeiner Form der Anpassung kann man das immer erklären, weil Anpassung buchstäblich alles erklärt.
Ob ich Frauen steinige, idealisiere oder gleichberechtigt behandle, ist das nicht alles auch Anpassung?
Und ist das nicht alles irgendwie auch Vorteil, je nach dem? Genau hier liegt der Hund begraben.
Freud auf einen Satz reduziert: Kultur ist immer Triebverzicht.

Wir installieren unsere sozialen Regeln gegen die Natur und das ist selten unser Nachteil, dennoch mögen wir die Kultur nicht, weil sie Treibverzicht bedeutet.
http://archive.org/details/DasUnbehagenInDerKultur
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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon stine » Do 27. Sep 2012, 11:38

Danke für den Buchlink, sehr interssant!

Nun ist ja Freud durchaus einer, der alles auf das Körperliche reduziert hat und demnach schon fast in allen kulturellen Regeln einen Triebverzicht feststellte. Für mich persönlich (und für andere vielleicht auch) bedeutet das Leben innerhalb kulturell motivierter Vorschriften derzeit keinen Triebverzicht. Oder ich bin evolutionärer schon besser angepasst, als Freud es war :mg: .

Vollbreit hat geschrieben:Wir installieren unsere sozialen Regeln gegen die Natur und das ist selten unser Nachteil
Ja, überlegt eben und zielführend, weil über viele Jahrhunderte gewachsen.
Vollbreit hat geschrieben:Ob ich Frauen steinige, idealisiere oder gleichberechtigt behandle, ist das nicht alles auch Anpassung?

Auch ein Ja. Aber schon hier zeigt sich, wie unterscheidlich Systeme sein können und wie notwendig "gute" Systeme sind, wenn Mensch nach dem Glück des Lebens trachtet. Und man kann auch feststellen, welches System weiter gekommen ist und welches auf halber Strecke verhungert. :wink:


LG stine
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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon Vollbreit » Do 27. Sep 2012, 14:08

stine hat geschrieben:Danke für den Buchlink, sehr interssant!


Diese nicht sehr lange Schrift ist ungeheuer gehaltvoll.
Obendrein natürlich auch extrem atheistenkompatibel, der Grund, warum Freud nie erwähnt wird, ist, dass es zu den Dogmen der Naturalisten gehört, an Freud nicht heranzugehen.

stine hat geschrieben:Nun ist ja Freud durchaus einer, der alles auf das Körperliche reduziert hat und demnach schon fast in allen kulturellen Regeln einen Triebverzicht feststellte. Für mich persönlich (und für andere vielleicht auch) bedeutet das Leben innerhalb kulturell motivierter Vorschriften derzeit keinen Triebverzicht. Oder ich bin evolutionärer schon besser angepasst, als Freud es war :mg: .


Doch, bedeutet es, lies mal einige Passagen.
Triebverzicht heißt hier einfach den spontanen Impulsen, die man hat, nicht nachgeben zu dürfen, um weiterhin vom Schutz der Gemeinschaft zu profitieren. Selbst wir Männer wissen, dass, wenn wir mit der Freundin ausgehen, wir nicht jedem Arsch hinterhergucken dürfen und ab und zu gelingt es uns sogar, uns daran zu halten.
Aber da geht es nicht nur um Sex, sondern auch um die Zügelung aggressiver, gieriger und anderer Impulse. Nur wer das kann, wird auch von der Gesellschaft anerkannt, die richtige Balance zwischen Impulskontrolle und neurotischer Hemmung zu finden ist die private Aufgabe und den sozialen Kontostand nicht zu sehr absinken zu lassen, die soziale.

Ausdruck für dieses Unbehagen sind die vielen regressiven Bestrebungen, zurück zur heilen, schönen, guten, besseren Natur, die es in verschiedenen Formen alle Jahre wieder gibt, unter welcher Überschrift auch immer: Kindererziehung, Männerbewegung, Ökobewegung und so weiter.
Freud konstatiert ein merkwürdiges Unbehagen, wir sind nicht im Frieden mit der Kultur, dabei ist die Natur im Grunde roh, kalt und grausam und fügt uns nur Schaden zu.

stine hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Wir installieren unsere sozialen Regeln gegen die Natur und das ist selten unser Nachteil
Ja, überlegt eben und zielführend, weil über viele Jahrhunderte gewachsen.


Richtig, also irgendwie auch Evolution, nur bringt es nicht so viel, alles der Evolution in die Schuhe zu schieben und darum missraten diese biologisierenden Ansätze auch so fürchterlich.
Freud ist ja ebenfalls ein Reduktionist reinsten Wassers, nur diesen Fehler macht er nicht.

stine hat geschrieben:
Vollbreit hat geschrieben:Ob ich Frauen steinige, idealisiere oder gleichberechtigt behandle, ist das nicht alles auch Anpassung?

Auch ein Ja. Aber schon hier zeigt sich, wie unterscheidlich Systeme sein können und wie notwendig "gute" Systeme sind, wenn Mensch nach dem Glück des Lebens trachtet.


Ja. Und was gut ist, entscheidet eben nicht die Natur, sondern der Mensch.

stine hat geschrieben:Und man kann auch feststellen, welches System weiter gekommen ist und welches auf halber Strecke verhungert. :wink:


Es ist ja eigentlich komplizierter, denn 2012 gibt es ja nicht ein universales Denksystem auf der Welt, sondern zig. Diese Frontstellung von Religion gegen Wissenschaft ist ja völlig irrsinnig und im Grunde organisierter Dummenfang (klappt ja auch). Wir haben ja auch hier eine Evolution und viele verschiede Hackordnungen, also gesellschaftsinterne Hierarchien und das ist in einer säkularen Gesellschaft und einer entwickelt religiösen sehr viel ähnlicher, als bspw. zwischen explizit mythischen oder sogar Clangesellschaften in Afghanistan oder Teilen Afrikas, wo man von Staatengemeinschaften, gar nicht richtigerweise reden kann.
Von der technischen und sozialen Spitze bis zum Urwaldstamm, der nicht bis drei zählen kann, ist alles zu finden, in 2012.

Und „die deutsche Gesellschaft“ ist ja auch nicht homogen. Wer aus welchen Gründen noch zu welchen sozialen Schichten zu rechnen ist, da ist einiges im Umschwung, weil die simple Formel, wer klug und fließig ist, der ist auch wohlhabend, also der unsere Gesellschaft jahrzehntelang zusammenhaltende evangelische Ethos, nicht mehr zieht.
Wer ist heute noch Oberschicht? Es gibt Akademiker, Bildungselite, die weniger Kohle haben, als eine Putzfrau. Es gibt reiche Asis und zwischen Bildung, Geld, Besitz, Intelligenz, Bekanntheit, sozialen Kontakten, Anstand, Zufriedenheit, online Vernetzung und was auch immer changiert das alles.
Nun wieder was Neues: Wie geht man mit seinen privaten Ressourcen um? Uppperclass aber ausgebrannt und alkoholabhängig, das liest man gerne in der Bunten, aber in der Haut will man nicht stecken.
Für Zeit und Glück ist man zunehmend selbst verantwortlich und da muss man aus so manchem Hamsterrad bewusst austeigen. Nächste Beförderung? Nee danke.
Alles Fragen von Evolution und Hackordnung.
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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon stine » Do 27. Sep 2012, 14:43

Vollbreit hat geschrieben:Von der technischen und sozialen Spitze bis zum Urwaldstamm, der nicht bis drei zählen kann, ist alles zu finden, in 2012.
Vollbreit hat geschrieben:Für Zeit und Glück ist man zunehmend selbst verantwortlich und da muss man aus so manchem Hamsterrad bewusst austeigen.

Ja, aber vorher noch dafür Sorgen, dass die Hamsterräder in den Urwald kommen, wo man glücklicherweise bis dahin noch nicht bis drei zählen konnte.

:ironie: stine
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Re: Evolution und Hackordnung

Beitragvon emporda » Fr 28. Sep 2012, 12:48

stine hat geschrieben:Ja, aber vorher noch dafür Sorgen, dass die Hamsterräder in den Urwald kommen, wo man glücklicherweise bis dahin noch nicht bis drei zählen konnte.
Auch mit Humor Hinweisen wirst Du die Realität nicht los

Die Umwelt bestimmt Verhalten und Inhalt der Sprachen ähnlich den Grunzlauten der Primaten. Indianersprachen wie etwa Apaitsiiso der Pirahas kennen nur „eins“ und „zwei“, ganz wenige Farben, keine Vergleiche wie „mehr“, „größer“, „schöner“, "schneller" usw. Versuche den Pirahas Rechnen bis 10 beizubringen scheitern. Der Missionar Everett kommt zur Erkenntnis „Wenn sie beginnen an einen Mangel in ihrer eigenen Kultur zu glauben, an eine Notwendigkeit der westlichen Werte, dann ist das eine sehr zerstörende Kraft in ihren Leben.“ und tritt aus seiner Sekte aus. Die Hominiden brauchen Mill. Jahre erste komplexe Wortstrukturen als Abstrakt zu entwickeln, keine 1500 Jahre gerechnet ab den Analphabeten Adam und Eva.

Die Texte von Plinius dem Jüngeren zum Vesuvausbruch 79 n.C. galten als Dummheit, pyroplastische Ströme waren unvorstellbar. Man kann zwar Geräte von Leonardo Da Vinci nach seinen Skizzen nachbauen, nur ohne technische Dimensionen, Maße, Toleranzen, Material, Festigkeit, Härte und Oberfläche wie erst ab 1870 Stand der Technik funktioniert kaum etwas. Technische Zeichnungen sind wie Landkarten 2-dimensionale Darstellungen, die erst mit den Weltreisenden ab 1500 aufkommen. Die religiös dominierten Kulturen haben seit Anbeginn paranoide Endzeitverkünder, die gläubigen Einfaltspinsel wie bei den Zeugen Jehovas 1874, 1914, 1925 und 1975 zahlen die Zeche. Der 2 Weltuntergänge 2011 von Harold Camping hat ihm brutto 100 Mill. US$ eingebracht. Martin Luther hat für 1532, 1538 und 1541 Weltuntergänge prophezeit, weitere Propheten erfinden immer neue.
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