Nanna hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Aber dahinter liegt eigentlich noch ein Thema, nämlich die Frage, warum sich eigentlich jeder den ungeschriebenen Gesetzen der bürgerlichen Mittelschicht anpassen soll.
Vernünftig sein, selbst die Verantwortung übernehmen, die Grenzen kennen, ordentlich planen, auf die Gesundheit selbst achten...
Ist das bei aller Berechtigung nicht irgendwie auch ungeheuer spießig?
Wie sollen wir denn sonst zusammenleben? Willst du in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen unvernünftig sind, sich wie Kinder verhalten, permanent Grenzen übertreten (ja nicht nur die eigenen), unzuverlässig sind und das Gesundheitssystem an die Wand fahren?
Das ist für die breite Masse schon völlig okay. Genau darum bin ich ja auch für bestimmte Aspekte der Religion, bspw. für diesen ordnenden. Aber ich glaube nicht, dass das für alle und für alle Zeiten im Leben eines Menschen so sein muss. Für sehr viele ist bei der konventionellen Stufe das Ende der Fahnenstand erreicht, aber die psychische Individualentwicklung geht noch weiter.
Und man kann konventionelle Klischees auch hinterfragen ohne sich an überhaupt keine Regeln mehr zu halten.
Nanna hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Vielleicht haben ja Künstler, Extremsportler, Zen-Möche die u.U. ganz anderen Motiven folgen, den besseren Lebensansatz?
Das ist eine Frage, auf die jeder eine eigene Antwort finden muss. Ironischerweise ist es aber die vernünftige, verantwortliche, Grenzen achtende Gesellschaft, die sich einen solchen Pluralismus überhaupt erlauben kann, ohne zu kollabieren. Und wenn wir alle Künstler, Extremsportler und Zen-Mönche wären, stellte ich mir den Lebensstandard ingesamt ziemlich niedrig vor.
Das sehe ich auch so. Im postkonventionellen Bereich gibt es keine vorgestanzten Richtigkeiten mehr und die Basis ist eine Gesellschaft, die funktioiniert und zwar durch die innere Einstellung der Bevölkerung.
Nanna hat geschrieben:Entscheidend ist, mit welcher Haltung man das tut. Es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen denen, die aus Überzeugung im Biosupermarkt kaufen und jenen, die es aus Anpassung oder dem Image wegen tun (wobei der Umwelt wiederum die Motive egal sind). Diese Generalabrechnung anhand von Äußerlichkeiten finde ich ehrlich gesagt ziemlich oberflächlich.
Sie ist oberflächlich, deskriptiv eben. Es hat in der Tat mal eine Untersuchung über Mittelschicht und Unterschicht gegeben und da waren tatsächlich der Kauf im Bio-Supermarkt, neben dem Verzicht auf Piercing und Tattoo und anderem die Kennzeichen.
Ansonsten ist bei allem entscheidend, mit welcher Haltung man das tut. Die Vorstellung, dass man allein anhand von Verhaltensbeobachtungen ausreichende Rückschlüsse auf das innere ziehen kann ist genau das Klischee, gehen was sich mein Beitrag wenden sollte.
Nanna hat geschrieben:Die Mäßigung ist natürlich auch noch eine der vier Kardinaltugenden neben Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit - alles Eigenschaften, die ich persönlich in einem Menschen unheimlich schätze. Wem es zu anstrengend oder gar spießig (spießig? Diese Eigenschaften sind derart selten wirklich sichtbar entwickelt, dass die Grundbedeutung des Spießbürgerbegriffes ("gewöhnlich", "vulgär") genau das eben nicht trifft) ist, sich darum zu bemühen, der muss es ja nicht machen. Finde ich persönlich enttäuschend, ist aber nichts, wozu man jemanden zwingen kann, sondern wozu man sich frei entscheiden muss.
Ich habe nichts gegen die Mäßigung einzuwenden. Man wird nicht Extremsportler oder Zen-Mönch ohne diese Fähigkeit, die Frage ist aber immer, ob eine Tugend Mittel zum Zweck oder Selbstzweck ist. Zen ist extrem strukturierend, hart und zäh, der Sinn ist aber in eine geradezu explosive Kreativität hineinzuführen. Wenn buchstäblich jeder Augenblick frisch und neu erlebt wird, als etwas, dem man begegnet wie zum ersten Mal, wie am ersten Tag, dann ist jeder Augenblick ein neu, spannend, ein Geschenk und bedarf einer eigenen Antwort. Viele versuchen dies in außergewöhnlichen Situationen zu erreichen und das ist ebenso verständlich wie ein erster Weg um zu schauen, wohin es geht und dass da wirklich ein Ziel ist.
Gleichzeitig lehrt Dich Zen eine Skepsis gegenüber dem Auslöser innerer Zustände durch äußere Konstellationen einzunehmen. Du gehst durch denselben Quatsch wenn Du regungslos auf dem Kissen sitzt und auf Deinen Atem achtest, wie sonst, nur ist niemand da, dem man die Verantwortung dafür geben könnte.
Unsere Vorurteile und Konventionen sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft geordnet ist und funktioniert, sie ist gleichzeitig das, was einigen das Leben zur Qual werden lässt. Man kennt alles, weiß alles, alles ist erstarrt und wie immer, das Leben ist langweilig geworden.
Ob das Leben in öder Routine erstickt, oder reich und klar wird, auch darüber entscheidet die innere Haltung. Und man kann vielleicht anderen etwas vormachen, sich selbst nicht so gut.
Oft kriecht diese Erfahrung dann ins Leben, wenn man die Ziele erreicht hat, von denen es heißt, dass sie erreicht werden sollten. Das ist nicht zwingend und immer so, aber auch nicht selten. Die Freude verebbt und irgendwie geht das Sehnen weiter.
Nanna hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Am Ende wird man dann in der Summe aller Faktoren tatsächlich 15 Jahre älter - statistisch. Ist das Lohn oder Strafe?
Auch das kommt doch extrem darauf an,
wie man älter wird.
Das ist wohl wahr. Gesellschaftlich gesehen haben alte Leute bei uns im Grunde keine Funktion mehr. Sie verdienen kein Geld mehr und beginnen Kosten zu verursachen und das ist in einem hohen Maße das was zählt. Am zeitlichen Ende einer Leistungsgesellschaft ist man am Ende, wenn man keine Leistung mehr bringt. Nicht nur gesellschaftlich, auch das Selbstbild leidet. Alt werden ist dann einfach nur noch ein Ausfall von Funktionen. Respekt vor dem Alter, Altersweitsicht und Gelassenheit? Das Zeitfenster in dem man lebenswert lebt, ist in einer auf biologische und Wirtschafts-Leistung getrimmten Gesellschaft sehr eng. Wenn die ersten Haare grau werden, oh weh, oh weh, die ersten Vorboten des Todes, das Symbol des Alterns, der Sterblichkeit.
Bis Mitte 20 hat man noch nichts erreicht und dann geht es auch schon wieder bergab, mit der Leistungsfähigkeit.
Sicher ist auch das eine Frage der inneren Haltung, der persönlichen Einstellung, nur ist es schwer das mit einer konventionellen Einstellung hinzubekommen. Der Ansatz – um mal die Kurve zum Thema zu kriegen – den „Leistungsabfall“ durch immer mehr Tricks, OPs und Lifestyle-Medikamente zu kompensieren ist m.E. ein Spiel auf Zeit, bei dem viel verdient wird und die Enttäuschungen am Ende nur umso größer werden.
Abschied nehmen, also sterben, kann man dann gut, wenn man sein Leben gelebt hat. Wenn man aber auch Angst zu viel Leben vermeidet, wird dieser Punkt vermutlich nicht kommen oder schwerer werden. Und wer die Angst vor dem Tod verliert, lebt freier und unbeschwerter und kann annehmen, was sonst verdrängt werden muss, dass der Tod ständig unser Wegbegleiter im Leben ist.