Der Urknall

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Der Urknall

Beitragvon Klaus » Di 31. Okt 2006, 18:08

sueddeutsche.de

Ressort: Wissen
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Datum und Zeit: 31.10.2006 - 18:00
31.10.2006 11:01 Uhr

Physik
Der kontrollierte Urknall

Am Europäischen Teilchenbeschleuniger Cern bauen Physiker das größte Forschungsexperiment aller Zeiten. Vom kommenden Jahr wollen Forscher aus aller Welt hier dem Universum seine letzten Geheimnisse entreißen.
Von Patrick Illiner

Wenn Bernard Lebègue es zulässt, kann man viel Spaß haben, 90 Meter unter der Erde, zwischen dem Genfer See und dem französischen Jura-Massiv.

Der stämmige Franzose führt den Besucher über Stahlleitern, schwindelerregende Gerüste und verwinkelte Schlupflöcher in die Eingeweide seiner monströsen Baustelle.

Im Kriechgang geht es an supraleitenden Magnetschlaufen vorbei, die so dick sind wie Pipelines und länger als ein Tennisplatz.

Stählerne Detektorplatten, aus denen armdicke Zuläufe mit dampfender Flüssigkeit austreten, büschelweise kupferne Gasleitungen und überall Kabel, Kabel, Kabel.

Zwischendurch geht es über ein Gerüst sieben Stockwerke nach oben, es folgt ein Steg in atemberaubender Höhe, der den Blick freigibt auf diese gewaltige Betonkaverne.

Metropolis der Wissenschaft

Es ist eine riesige Kathedrale. Ein Metropolis der Wissenschaft, 50 Meter lang, 35 Meter hoch. Zwischendurch übertönt Lebègues Stimme das Grundrauschen der Schweißflammen, Hammerschläge und Vakuumpumpen, welches den Hohlraum unter der französisch-schweizerischen Grenze erfüllt.


Cern-Experiment


Zum Beispiel, wenn Lebègue einen jungen Monteur entdeckt, der gerade eine wackelige Aluminiumleiter neben einem kostbaren Kalorimeter aufstellt: "Und das", brüllt Lebègue dann, "was wird das?" Eine weitere Ansage braucht der Azubi nicht und geht die große Leiter holen. Es kommt der Verdacht auf, dass ein paar Gitanes Mais zu Lebègues beeindruckendem Bariton beigetragen hat.

Sicher ist, dass der Mann seinen Laden im Griff hat. Und es ist kein kleiner Laden: Lebègues Reich ist größer als das Pantheon in Rom. "Atlas" heißt die gewaltige Maschine, an der seit mehr als acht Jahren Tausende Mechaniker, Ingenieure und Physiker arbeiten. Vom kommenden Jahr an wollen Physiker aus aller Welt hier, am Europäischen Forschungszentrum Cern, dem Universum seine letzten Geheimnisse entreißen.

Wenn der 35 Meter lange und 22 Meter hohe Apparat fertig ist, wird er einer von vier Detektoren sein, die am größten Teilchenbeschleuniger der Welt künstliche Partikelkollisionen beobachten werden.

Atlas liegt, so wie die drei anderen Experimente CMS, LHCb und Alice an einem unterirdischen 27 Kilometer langen Ringtunnel. Darin entsteht derzeit der energiereichste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten: der Large Hadron Collider, kurz LHC.

Allein die Teilchenkanone kostet 1,9 Milliarden Euro. Zwei gegenläufige Strahlen von Protonen, das sind die Atomkerne von Wasserstoff, werden in diesem Ring nahezu auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und an vier Stellen aufeinandergelenkt.

Jedes einzelne Proton wird dann rein rechnerisch die kinetische Energie einer fliegenden Mücke haben. Auf das winzige Proton konzentriert entspricht dies aber der Energie, die die Bausteine des Universums in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall hatten.

Bereits in den 90er Jahren beherbergte der unterirdische Ringtunnel des LHC einen Beschleuniger, den LEP, der Elektronen und Positronen aufeinanderschoss.

Weil Protonen aber ungleich schwerer sind, sind diesmal 1232 supraleitende Magnete nötig, jeder so groß wie ein Lastwagen und teuer wie ein Einfamilienhaus, damit die Partikel auf einer Kreisbahn bleiben und nicht in das umgebende Erdreich ausbrechen.

Jeder dieser Magnete, von denen bereits mehr als 1000 im Tunnel eingebaut sind, ist 15 Meter lang und erzeugt ein Magnetfeld, das 200.000-mal so stark ist wie das Erdmagnetfeld.

Die Protonen lösen einen kleinen Urknall aus

Damit die Spulen mit einer Stromstärke von 11.700 Ampere nicht verdampfen, müssen die Magnete auf minus 271 Grad Celsius gekühlt werden - nur zwei Grad über dem absoluten Nullpunkt. Die entsprechende Helium-Flüssiggasanlage ist die größte der Welt. Wenn der LHC und seine vier Detektoren vom kommenden Jahr an auf Hochtouren laufen, ist die elektrische Leistung eines halben Atomkraftwerks nötig.

Protonen, die mit solcher Gewalt aufeinanderprallen, lösen einen kleinen Urknall aus und erzeugen bis zu mehrere tausend neue Teilchen. Die gewaltigen Detektoren wie Atlas sollen möglichst alle Splitter dieser Kollision entdecken und deren Bahnen und Energien messen.

In diesem Wust aus digitalisierten Teilchenspuren versuchen Physiker, die letzten Geheimnisse des Universums aufzuspüren. Der Aufwand besteht keineswegs nur darin, die Protonen auf ihrer Bahn und die Detektoren auf Empfang zu halten. Die schiere Datenmenge, die am Cern vom kommenden Jahr an erzeugt wird, übersteigt alles, was die Wissenschaft je an Computer- und Kommunikationstechnik zu bewältigen hatte.

Alleine im Atlas-Detektor werden in jeder Sekunde 40 Millionen Protonen-Pakete aufeinanderprallen. Nach jeder Kollision spuckt der Detektor mehr Daten aus als im gleichen Moment durch sämtliche Kommunikationsleitungen der Welt fließen.

Eine ausgeklügelte Elektronik filtert die brauchbaren Messdaten einer Proton-Proton-Kollision aus den Leitungen, während mit wenigen Metern Abstand schon die Daten der nachfolgenden Kollisionen durch die Kabel rasen. In Sekundenbruchteilen werden die Messwerte von 40 Millionen Protonen-Crashs auf das Notwendigste reduziert. Übrig bleibt von jeder brauchbaren Kollision aber immerhin noch eine Datenmenge, die dem Telefonbuch der Schweiz entspricht - und das 200 bis 300 Mal pro Sekunde wohlgemerkt.


Cern-Experiment

Wenn im Atlas-Experiment zwei Protonen aufeinanderstoßen, entstehen verschiedene Teilchen, die in alle Richtungen auseinander rasen.
Simulation: Cern


Da ein solcher Datenstrom kaum auf eine handelsübliche Festplatte passt, haben die Teilchenphysiker bereits vor einigen Jahren damit begonnen, ein neues, weltumspannendes Datennetz mit der Bezeichnung Grid zu entwerfen.

Gegen dieses Geflecht aus digitalen Pipelines wirkt das ebenfalls einst am Cern entwickelte World Wide Web wie zusammengestöpselte Strohhalme. Würde man die jährliche Datenmenge eines der Experimente am LHC auf handelsübliche CDs brennen, würden sich die Scheiben mehr als 30 Kilometer hoch auftürmen.

Die Experimente werden 7000 Wissenschaftler mit Arbeit versorgen

Mit der Art und Weise, wie vor 70 Jahren Lise Meitner und Otto Hahn die Kernspaltung entdeckten, hat die moderne Experimentalphysik nichts mehr zu tun. Allein am Atlas-Detektor arbeiten mehr als 1800 Physiker aus 157 Instituten und 37 Nationen. Insgesamt werden die LHC-Experimente 7000 Wissenschaftler mit Arbeit versorgen. Bei Atlas kommt fast jeder zehnte aus Deutschland.

Die Arbeitsgruppe von Siegfried Bethke beispielsweise, dem Direktor des Münchener Max-Planck-Instituts für Physik, hat an drei Stellen des Detektors maßgeblich mitgewirkt.

Eine davon ist das Herzstück von Atlas, das innerste Element, welches nur wenige Zentimeter von den Proton-Proton-Kollisionen entfernt mit ultrafeinen Silizium-Streifen die Spuren durchsausender elektrisch geladener Teilchen mit einer Präzision von 0,02 Millimetern vermessen wird.

Eine Portion Stolz schwingt mit, wenn Bethke erzählt, wie sein Institut im eigenen Halbleiterlabor in München-Neuperlach die handelsübliche Mikrochip-Technik um das Tausendfache verfeinert hat.

Moderne Physik in der Krise

Warum das Ganze? Kurz gesagt: Die moderne Physik steckt in einer Krise. Nachdem es in den 1960er- und 1970er-Jahren gelungen war, die experimentellen Beobachtungen aus der Welt der Elementarteilchen in einem vergleichsweise eleganten "Standardmodell" zu ordnen, wachsen seit einigen Jahren die Zweifel an der Haltbarkeit dieses Theoriegebäudes.

Zwar haben Experimente die Formeln des Standardmodells mit einer Genauigkeit von mehr als 99 Prozent bestätigt. Aber die Schwächen dieser Theorie vermögen auch Laien zu beeindrucken, denn ausgerechnet die alltäglichste der vier Grundkräfte des Universums kann es nicht erklären: die Schwerkraft.

Verglichen mit den anderen Kräften, beispielsweise der elektromagnetischen Kraft oder der Kernkraft, ist die Gravitation extrem schwach. Seit vielen Jahren beißen sich Physiker die Zähne aus bei dem Versuch, Einsteins Relativitätstheorie auf die Mikrowelt der Quanten und Atombausteine zu übertragen.

Wendet man Einsteins Formelwerke auf den Mikrokosmos der Elementarteilchen an, ergeben sich Partikelmassen, die milliardenmal so hoch sind wie die gemessenen Werte. Viele Physiker hoffen daher, Spuren so genannter supersymmetrischer Teilchen in den LHC-Detektoren zu finden. Diese könnten eine Erklärung für das Ungleichgewicht der Kräfte bieten.

Auch dass die Massen der Bausteine in dem uns Menschen bekannten Universum so unterschiedlich sind, bereitet Physikern Kopfschmerzen. Zwar hat der Schotte Sir Peter Higgs vor einigen Jahrzehnten eine Erklärung hierfür angeboten, doch diese erfordert ein weiteres Partikel im weiten Zoo der Elementarteilchen - das Higgs-Teilchen, welches sein Erscheinen in Experimenten bisher jedoch verweigert hat.

Eine elegante Lösung für alle Probleme wird sich erst finden lassen, wenn man den dreidimensionalen Raum verlässt.

Die Lösung verbirgt sich vermutlich in einem Universum mit weiteren Dimensionen, in dem die Schwerkraft in der vom Menschen bewohnten Dimension klein ist, aber an anderer Stelle die vermisste Stärke aufweist. Das Experiment müsste dann Teilchen zeigen, die in vieldimensionalen Räumen reisen, aber sich in der Dreidimensionalität der menschengemachten Experimente zeigen.

Genug Energie, um winzige Schwarze Löcher zu erzeugen

Noch ist die moderne Physik mit ihren Deutungen der Urkräfte nicht am Ende. Mit Begeisterung philosophieren Physiker derzeit über die String-Theorie, eine Idee, nach der die kleinsten Strukturen des Universums aus unvorstellbar winzigen Fädchen aufgebaut sind, die wiederum die bislang bekannten Elementarteilchen erzeugen.

Auch könnte die Energie des gigantischen Beschleunigers ausreichen, um winzige Schwarze Löcher zu erzeugen. Immerhin nehmen Physiker diese Möglichkeit so ernst, dass sie berechnet haben, ob diese allesfressenden Abflussröhren der Raumzeit womöglich dem Leben auf der Erde gefährlich werden könnten. Die Antwort der Experten lautet: nein.

Siegfried Bethke hofft auf eine weitere Verknüpfung von Astro- und Teilchenphysik. So wie sich Galaxien und Galaxienhaufen im Weltraum bewegen, muss das Universum mit einer ungeheuren Menge unsichtbarer, dunkler Materie angefüllt sein.

Diese Lücke lässt sich womöglich schließen, wenn im Atlas-Detektor die Spuren eines Partikels gefunden werden, das im Weltraum die Funktion des unsichtbaren Klebstoffs erfüllt. "Das wäre ein enormer Durchbruch", sagt Bethke.

Die Geschichte der Elementarteilchenphysik hat gezeigt, dass neue, größere Beschleuniger-Maschinen auch immer neue, größere Fragen aufwerfen. Das jedoch kann die Physiker nicht erschrecken. Der Nobelpreisträger Gerardus 't Hooft nennt den LHC-Beschleuniger eine "Win-win-Maschine".

Man könne damit gar nicht verlieren sagt er: Wenn neue Entdeckungen gemacht werden, das Higgs-Teilchen beispielsweise, so sei das Experiment ein grandioser Erfolg. Und falls nicht, umso mehr: Das hieße, man müsse das derzeit gültige Formelwerk der Teilchenforschung komplett umwerfen.

Unter Theoretikern populär ist auch die Theorie der Multiversen, wonach das vom Menschen bewohnte Universum nur eines in einer unüberschaubaren Vielzahl von blasenartig hervorquellenden Universen ist. Die Basis des ganzen könnte die Quantenmechanik sein, der zufolge es kein "Nichts" gibt, sondern auch die völlige Leere stets mit einem Gebrodel aus wabernden Teilchen und Anti-Teilchen erfüllt ist.

Komplettzerstörung des menschlichen Selbstbildes

Die Vorstellung, dass auf diese Weise ständig neue Universen wie Schaum aus dem Nichts entstehen, fasziniert mittlerweile nicht nur ein paar überdrehte Querköpfe, sondern ist die Mehrheitsmeinung unter Theoretischen Physikern.

Doch wenn Kopernikus und Darwin am Selbstbild der Menschheit rüttelten, so sind die Multiversen eine Komplettzerstörung. Damit wäre die Menschheit auf eine Blase im Schaumbad der Universen reduziert. Es bliebe einzig der Trost, dass es trotz allem Lebewesen gibt, die einen Hauch dieser Erklärung entdeckt haben.

Der am Cern tätige Theoretiker Guido Altarelli, eine lebende Legende der Teilchenphysik, ist von der Idee der fluktuierenden Universen so begeistert, dass er die Quantenmechanik gern mit Gott vergleicht. Eine Behauptung, mit der er im vergangenen Jahr sogar einen Benediktiner-Orden überraschte.

Das Hauptproblem dieser Idee ist jedoch ihre Überprüfbarkeit: Wie lässt sich beweisen, dass die Theorie der Multiversen tatsächlich stimmt? Es ist prinzipiell ausgeschlossen, einen Blick auf die anderen Universen zu werfen. Aber kann eine solchermaßen nicht überprüfbare Theorie noch Wissenschaft genannt werden? Oder nähert sich die Physik der Esoterik, in der vieles behauptet wird, aber nichts beweisbar ist?

Die Grenzen des Möglichen mussten im Jahr 2001 auch die Experimentatoren am Cern erkennen. Unter der Leitung des damaligen Generaldirektors erlitt das riesige Teilchenlabor nahezu einen Bankrott. Von den Mitgliedsstaaten wurde eine massive Aufstockung des Budgets verlangt, doch einige Beitragszahler verweigerten sie, unter anderem Deutschland.

"Ein Gang durch die Wüste"

Kurz darauf wurde der französische Physiker Robert Aymar an die Spitze des Forschungszentrums gestellt. Der hatte zwar keine Erfahrung mit Multiversen, wohl aber mit multinationalen Forschungsprojekten: Als durchsetzungsstarker Forschungsmanager hatte er zuvor den Internationalen Fusionsreaktor ITER koordiniert.

Aymar verschlankte sofort die Cern-Führung und konzentrierte fast sämtliche Ressourcen auf den Bau des Mega-Beschleunigers LHC. "Ein Gang durch die Wüste", nennt der Leiter der Theorie-Abteilung am Cern, Luis Alvarez-Gaume, den Kraftakt.

Doch in einem Jahr sollen aus den unterirdischen Experimentierhallen des Cern wieder Daten fließen. Spätestens dann werden die Physiker wieder mit konkreter Nahrung gefüttert.

Bis dahin werden die Detektoren unter den wachsamen Augen von Männern wie Bernard Lebègue fertiggestellt. Wenn Lebègue die Finger kreuzt und stolz erklärt, man habe bisher "zero accident" gehabt, also keinen Unfall, dann kommen keine Zweifel auf, dass er daran auch weiterhin festhalten will.

(SZ vom 31.10.2006)
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