Geborgenheit ohne Gott

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Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon tkarcher » Di 7. Feb 2012, 13:59

Wir Brights sind ein destruktiver, trostloser Haufen!

Das hatte ich ja auch schon in meinem Vorstellungs-Beitrag anklingen lassen. Heute will ich es aber mal an einem konkreten Beispiel verdeutlichen:

Das Lebensgefühl der "Geborgenheit" (2004 zum zweitschönsten Wort der deutschen Sprache gekürt!) wird von Psychologen und Pädagogen einhellig als wesentlich für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit angesehen. Seinen Kindern "Geborgenheit" bieten - wer möchte das nicht?

Geborgenheit ist auch ein zentrales Anliegen von Religion: Die Kirche verwendet beträchtliche Anstrengungen darauf, allen Gläubigen, und insbesondere Hilfsbedürftigen (Alten, Kranken, Schwachen) mit allerlei mystischem Brimborium ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Und so absurd sich die Geschichten von Schutzengeln, Schutzheiligen und der Vergebung aller Sünden für Naturalisten auch anhören mögen: Viele Gläubige (und bei weitem nicht nur Kinder!) schöpfen aus diesen Geschichten Trost und Kraft.

Bild
tenderness von AlicePopkorn auf Flickr

Zum Glück sind wir Brights ja völlig frei von Schwäche, Krankheit und sonstigen Lebenskrisen! Geborgenheit ist was für Kinder, Brights schöpfen Kraft aus dem Urknall und der Evolution! Oder wie sonst erklärt es sich, dass Begriffe wie Geborgenheit in der Brights-Bewegung bisher offenbar keine Rolle spielen?

Wenn das naturalistische Weltbild irgendwann wirklich das mystisch-theistische Weltbild in allen Belangen ablösen soll, dann reicht es nicht aus, Gott einfach aus unserem Leben zu streichen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Darth Nefarius » Di 7. Feb 2012, 16:37

Eine sehr schöne Einleitung. Ich habe mich niemals in der Kirche geborgen gefühlt, konnte niemals aus diesen perversen Theorien Trost empfangen. Mich haben tatsächlich eher die Evolutionstheorie, der Nihilismus, der Atheismus, der Determinismus als Schlagworte interessiert. In an diesen logischen Gedanken habe ich mich ergötzt. "Trost finden" ist eine Umschreibung für ein angepisstes Gefühl, das gemindert wird, nun insofern war ich durch die kalte und berechenbare Natur unserer Umgebung gar nicht angepisst, also muss ich auch nicht getröstet werden. :keks:
tkarcher hat geschrieben:Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.

Oder wir umgehen das Problem und fühln uns gar nicht erst tröstenswert. Andererseits gibt es natürlich Ängste, die einem bleiben, wenn man sich die Welt nicht so formt, wie man es gerne hätte. Die Sterblichkeit ist ein Problem. Nun, ich versuche dem so lange wie möglich entgegenzuwirken, in meinem Aktionismus habe ich eine Art Trost gefunden, obwohl ich eigentlich nicht wirklich traurig/angepisst war, sondern einfach nur meine Angst bekämpfe. Was man als Atheist braucht, ist die Energie, niemals aufzugeben, ein Kämpfer zu sein.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Zappa » Di 7. Feb 2012, 16:52

tkarcher hat geschrieben: Wenn das naturalistische Weltbild irgendwann wirklich das mystisch-theistische Weltbild in allen Belangen ablösen soll, dann reicht es nicht aus, Gott einfach aus unserem Leben zu streichen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.


Naja, so ganz ja nun nicht. Kinder brauchen in der Tat eine besondere Art der Geborgenheit, Beschützer und Übermenschen, die Ihnen die Welt erklären, Väter sind die stärksten der Welt und Mütter die liebsten der Welt. Da ist die Welt noch zu 100% in Ordnung.

Aber mit dem Erwachsenwerden schindet nun mal ein erheblicher Teil dieser intellektuellen Geborgenheit. Man erkennt, dass es absolute Wahrheiten nicht gibt und keine absoluten Werte und das Papa und Mama auch mal Scheiß erzählen und die Lehrer sowieso. Man sucht sich neue Bezugsgruppen. Nur wer krampfhaft nicht erwachsen werden will flieht dann in pathologische Abhängigkeitsverhältnisse, typischerweise Sekten oder sehr erfolgreiche Sekten, die sich Religionen nennen dürfen.

Das alles betrifft vorwiegend, aber nicht ausschließlich die "intellektuelle" Geborgenheit. Da macht sich in der Tat eine gewisse "Trostlosigkeit" breit, die aber auf der anderen Seite eine Freiheit bedeutet. So ist das Leben halt. Und der Naturalismus kann und will da auch keine wohlig, geborgene Unmündigkeit perpetuieren.

Emotionale Geborgenheit findet man sowieso nur in echten sozialen Beziehungen, insbesondere in der Familie und dem näheren Freundeskreis. Da hilft einem der Papst oder Priester nicht wirklich weiter.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Lumen » Di 7. Feb 2012, 17:13

Kann man so sehen, oder auch anders, wobei meine anti-theistische Ader gefragt wird (welche nicht stellvertretend für Brights ist, sondern nur meine persönliche Sichtweise darstellt).

Ich bin der Meinung, dass Kirchen und Inhalte von organisierten Religionen in erster Linie ihrem eigenen Erhalt dienen. Sie sind wie bösartige Krankenschwestern, die ihre Gläubigen absichtlich schwächlich und kränklich halten, damit diese auf ihre Pflege angewiesen sind. Damit wird jene Abhänigkeit erzeugt, die der Lebenssaft der monotheistischen Religion seit jeher ist. Bei den modernen Kirchen ist das vor allem Infantilität.

Die katholische Kirche war da zugegebenermaßen noch krasser, aber im Prinzip finden sich die Elemente in allen christlichen Ausrichtungen wieder. Zunächst wird der Mensch als Sünder deklariert, der sich in altertümlicher Auslegung durch bestimmte, der Kirche genehme Verhaltensweisen als "würdig" erweisen soll. Hält sich der Mensch nicht an die Vorgaben so wird das in der "milden" Variante als frei entschiedene Abkehr von Gott gewertet, die aber dennoch in der Hölle endet. Der Glaube an die Hölle ist in Deutschland wohl nicht mehr so populär, hat aber die Menschheit über Jahrhunderte überschattet und ist alles andere als eine Trivialität. In vielen anderen Gegenden ist es eine Überzeugung der Mehrheit. In der "fiesen" Variante ist die Hölle direkt eine Strafe.

Hier wird soviel Negativität und Angst erzeugt, dass die Dynamik dazu ausreichte, die Weltgeschichte massiv zu beeinflussen (die Reformation ist eine Reaktion auf die katholischen Extremform inklusive Ablasshandel). Die Herrschaft der Angst, die von den Kirchen ausging und furchtbare Kriege ausgelöst hat, vermag ich nicht in ein positives Licht zu stellen.

Ich kann aber verstehen, dass Menschen die nur das "hier und jetzt" betrachten und die Kirche nur in der jetzigen, massiv gezähmten Weise und humanisierten Form kennen, dies anders sehen mögen. Ich muss mich dennoch stark gegen die gängige Darstellung aussprechen, die absichtlich oder nicht, Jahrhunderte des Terrors einfach unter den Tisch kehrt, und gar im Duktus des Geschichtsrevisionismus a la Holocaust-Leugnerei versucht, Erreignisse und Interpretationen teilweise vollständig umzudeuten.

Ich bin nicht trostlos, und meine Ansichten sind nicht trostlos. Die Kirchen sind in keinerlei Hinsicht ein Vorbild (aber auch gerade in diesem Fall gilt, jedem das seine).
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Darth Nefarius » Di 7. Feb 2012, 17:36

Gut, dass auch ihr erklärt, dass Atheismus nicht Trostlosigkeit bedeutet. bezüglich Lumen denke ich, dass es nicht darum ging, festzustellen, dass Atheismus trostlos ist, sondern schlichte Unkenntnis um die Bewältigungsstrategien.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon stine » Di 7. Feb 2012, 18:21

Zappa hat geschrieben:Nur wer krampfhaft nicht erwachsen werden will flieht dann in pathologische Abhängigkeitsverhältnisse, typischerweise Sekten oder sehr erfolgreiche Sekten, die sich Religionen nennen dürfen.

Zappa hat geschrieben:Emotionale Geborgenheit findet man sowieso nur in echten sozialen Beziehungen, insbesondere in der Familie und dem näheren Freundeskreis. Da hilft einem der Papst oder Priester nicht wirklich weiter.


Diese beiden Sätze würde ich als Kernsätze erstmal so stehen lassen wollen und auch hier weitermachen. Die Eltern als Institution zu verlieren bevor man wirklich abgenabelt ist oder sie nie kennengelernt zu haben, gar nicht wissen, was Geborgenheit ist, niemals eine soziale Bindung aufgebaut zu haben, das ist das Schlimmste, was einem sozialem Wesen, wie dem Menschen, passieren kann. Hier ist eine Psychose praktisch vorprogrammiert. Jede Verhaltensweise hat ihren Hintergrund in der frühen Bindung/Nichtbindung und jede Psychose sowieso.

Ich persönlich würde mich als Pantheist bezeichnen wollen und der Naturalismus kommt mir da sehr gelegen, als Alternative zum reinen Theismus. Ich finde durchaus, dass der Naturalismus diese Geborgenheit geben kann, sofern man sich darauf einlässt.
Wer die dargestellte Geborgenheit nicht sucht, wird sie wahrscheinlich auch nicht brauchen und sich weiterhin damit zufrieden geben, einfach nur Atheist zu sein.

Auch Religiöse und Gläubige gibt es in ganz unterschiedlicher Ausprägung und nicht jeder sucht die Zugehörigkeit zu einer Institution.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon mat-in » Di 7. Feb 2012, 18:39

Ich muß ganz erhlich sagen, daß ich mich nie "in Gott" oder "in der Kirche" geborgen gefühlt habe. Was Gott angeht, muß man schon ziemlich irre sein, sich geborgen zu fühlen, wenn man sich die Welt um uns herum mit all ihrer Gewalt anschaut und sich trotzdem geborgen fühlt. Was die Kirche angeht, fand ich die Idee gut, aber sowohl die vermittelte Ideologie mit der ich nichts anfangen konnte, als auch die allermeisten Menschen die sich dort eingesetzt haben sind über die Jahre immer abschreckender für mich geworden.

Das Buch "Why we believe in God(s)" greift dieses "übernatürliche" Geborgenheitsgefühl - neben dem Familiengefühl, Abgrenzungsbedüftniss, Belohnungsystem, ... - auf und zeigt eigentlich deutlich, wie die Kirche es mißbraucht.

Irgend wann muß man eben alt genug sein, selbst in der ersten Reihe zu stehen, Verantwortung zu übernehmen, andere zu Beschützen... wenn wir uns da all zu sehr auf Gott verlassen gehen sowohl Gesellschaft als auch Natur mit dem Gedanken "Gott wirds schon richten" zu Grunde.

(leider zu breit für image tag) http://pictures.mastermarf.com/blog/201 ... 6-fish.png

P.S.: Auch wenn ich den latent aggressiven Ton im eingangspost nicht mag und eigentlich nicht drauf eingehen wollte: Brights sind nicht frei von Momenten der Schwäche oder dem Gefühl allein zu sein. Aber wenn man ein einiger Maßen intaktes Sozialleben hat, braucht man keinen Gott als Ersatz-Familie oder Ersatz-Freund oder Ersatz-Therapeuten. Man mag sich zwar einreden, er hört zu, aber hat er je eine sinnvolle Antwort gegeben?
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon stine » Di 7. Feb 2012, 20:37

tkarcher hat geschrieben:Wenn das naturalistische Weltbild irgendwann wirklich das mystisch-theistische Weltbild in allen Belangen ablösen soll, dann reicht es nicht aus, Gott einfach aus unserem Leben zu streichen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.
Da rennst du bei mir offene Türen ein. Das war bisher mein Thema. Allerdings reicht es den meisten hier, sich Atheist zu nennen und in Ruhe gelassen zu werden.

:mg: stine
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon webe » Di 7. Feb 2012, 22:57

Die Religionen werden nie aussterben. Aber hoffentlich doch in eine Bedeutungslosigkeit verfallen. Geborgenheit findet man auch, ohne materielle Vorleistungen, im kleinen Kreis, sei es der Familie od bei guten Freundschaften, bestimmt nicht nur im Religionswahn. Daher ist die Angst vor einer menschlichen Kälte bei Religionsminderung abwegig.
Die Tierarten, ausser dem Menschen, finden problemlos Geborgenheit ohne Gott, wie immer sie auch dagestellt ist.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Nanna » Di 7. Feb 2012, 23:50

tkarcher hat geschrieben:Zum Glück sind wir Brights ja völlig frei von Schwäche, Krankheit und sonstigen Lebenskrisen! Geborgenheit ist was für Kinder, Brights schöpfen Kraft aus dem Urknall und der Evolution! Oder wie sonst erklärt es sich, dass Begriffe wie Geborgenheit in der Brights-Bewegung bisher offenbar keine Rolle spielen?

Ich glaube, du denkst hier einige Nummern zu groß. Die Stärke des naturalistischen Weltbildes ist ja gerade, die Hybris aufzugeben, das ganze Universum irgendwie auf sich zu beziehen. Urknall, Evolution, das sind Sachen, die sind einfach da. Es ist nicht deren Funktion, uns Kraft zu geben oder Geborgenheit zu vermitteln, aber auch nicht die, uns Angst zu machen.

Geborgenheit speist sich aus sozialen Bindungen, aus der Sicherheit, die die Mitgliedschaft in einer Gruppe gibt, aus dem Wissen, nicht allein zu sein. Die Idee eines Gottes, zu dem man eine persönliche Beziehung hat, folgt ja auch diesem Grundmuster sozialer Verbundenheit. Die Projektion Gottes als Vaterfigur, als großer Superbruder, ist da eigentlich ziemlich offensichtlich eine Analogbildung. Naturalist zu sein bedeutet auch, diese Wunschvorstellung loszulassen und sich auf die realen Quellen von Geborgenheit zu beziehen, nämlich auf die sozialen Bindungen zu realen, materiell existierenden Wesen.

tkarcher hat geschrieben:Wenn das naturalistische Weltbild irgendwann wirklich das mystisch-theistische Weltbild in allen Belangen ablösen soll, dann reicht es nicht aus, Gott einfach aus unserem Leben zu streichen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.

Ich höre hier sehr viel "ich" aus dem "wir" heraus. Das hat sicherlich damit zu tun, dass du am Anfang eines Weges stehst, den viele hier schon ein gutes Stück weitergegangen sind. Gerade frische "Aussteiger" aus den theistischen Denksystemen neigen dazu, den Naturalismus als Weltanschauung zu konstruieren, die in vielem noch einer theistischen Struktur folgt, die mit naturalistischen Inhalten gefüllt werden. Das wird sich mit der Zeit geben.
Du hast Recht, wenn du sagst, dass "Gott" als Konzept und Dreh- und Angelpunkt weiterer Konzepte einfach zu streichen, nicht ausreicht. Am Anfang so eines Ablöseprozesses, den du gerade durchzumachen scheinst, steht meiner Erfahrung nach häufig das Gefühl, diese Lücken schließen oder doch zumindest überbrücken zu müssen. Im Laufe der Auseinandersetzung habe zumindest ich gemerkt (ich bin aus einem stark christlichen Umfeld heraus im Laufe meiner Pubertät zum Atheisten und schließlich Naturalisten geworden), dass viele der Lücken, der man anfangs wahrnimmt, so gar nicht existieren (müssen).

Geborgenheit bietet die Gemeinschaft mit engen Freunden und Verwandten, mit Gleichgesinnten, manchmal auch schon allein eine konstruktive Sicht auf das Leben, also die Kunst, das Glas halb voll und nicht halb leer zu sehen. Geborgenheit kann auch die Akzeptanz des eigenen Platzes im Universum bieten. Dann fliegen wir halt auf einem großen, innen brennenden Gesteinsbrocken mit 7 Milliarden anderen Knallköpfen durch das Nichts und kucken doof aus der Wäsche. Das haben wir ja auch schon erfolgreich gemacht, bevor wir wussten, dass die Wirklichkeit um uns herum so aussieht. Zu wissen, dass die Gravitation es ist und nicht Gottes Hand, die einen auf dem Boden hält, gibt mir zumindest immer ein gewisses Gefühl der Zuverlässigkeit. Im Gegensatz zu diesem erratischen Clown aus der Bibel mit seiner Rachsucht und seinen genozidalen Anwandlungen hat die Gravitation sich immer brav vorhersehbar verhalten - also mir gibt das Sicherheit genug.

Trost. Das ist nun in meinen Augen so ein rhetorisches Kuckucksei, das durch fortwährende Widerholung durch kirchlichen Diskurs als irgendwie notwendig und zentral für das menschliche Dasein definiert wurde. Trost braucht der, der traurig ist - und der, der sich schwer tut, Dinge zu akzeptieren, den Blick nach vorn zu richten. Auch das hat wieder damit zu tun, ob man in seinem Dasein eher Möglichkeiten oder Hindernisse sieht, eher Chancen oder Verluste. Auf keinen Fall hat Trost etwas mit Gott oder dem Glauben als Konzept zu tun. Wer sagt, dass der Glaube ihm Kraft gibt, der sagt meiner Meinung nach vor allem, dass er Stärke aus dem Wissen um seinen Standpunkt, seinen Platz in der Welt, seinem für sich erkannten Sinn des Lebens, seiner Identität zieht. Diese Art von "Trost" habe ich als Naturalist aber auch, weil ich, ganz unabhängig von dem weltanschaulichen Diskurs, in dem ich unterwegs bin, meinen Frieden mit der Welt gemacht habe und in mir selbst zu ruhen gelernt habe. Diese Fähigkeit kann man aber ganz ohne supernaturalistische Konzepte entwickeln, man muss "nur" die Zweifel und Ängste mal einen Augenblick zulassen und aushalten und die Erfahrung machen, dass ja überhaupt nichts passiert - schon gar nichts Schlimmes oder Traurigmachendes.

Zuversicht ist ein Gefühl, das im Grunde derselben Kategorie entspringt. Wer weiß, wo er steht, kann auch überlegen, wo er hin will. Und wer Möglichkeiten sieht, das Glas als halb voll (und den Naturalismus eher als Befreiung) begreift, der schöpft von ganz alleine und aus diesem Wissen heraus Zuversicht.

Die große Gefahr, Geborgenheit, Trost, Zuversicht durch eine Umstrukturierung naturalistischen Denkens zu finden zu hoffen, ist die, dass man vergisst, dass all diese Gefühle Produkte der eigenen Perspektive auf die Welt sind. Menschen haben schon ganze Leben mit der Suche nach der Antwort auf ihre persönlichen Ängste damit verbracht, in den ganz großen Zusammenhängen zu wühlen, wo sie sich dann verloren haben, weil es in großen Zusammenhängen einfach nichts zu finden gibt außer große Zusammenhänge. Wichtiger wäre doch, sich selbst zu fragen, was man als korrekt und plausibel erkannt hat und was das ganz konkret für einen selbst bedeutet. Bedeutet der Verlust von Gottes Geborgenheit wirklich, dass man nicht mehr geborgen ist? Oder hat man die ganze Zeit einfach noch nicht gemerkt, dass man längst und stabil auf eigenen Beinen stehen kann? Dass man all die Geborgenheit, den Trost und die Zuversicht auch in sich selbst und mit anderen Menschen erfahren kann, selbst wenn das Universum um einen herum kalt, gleichgültig und leer ist? Dass es vielleicht sogar nie anders war, dass man nur nicht gewagt hat, den ganzen Glaubensballast einfach mal beiseite zu lassen und sich auf das Gefühl der Geborgenheit an sich zu verlassen?

Als mit Glühlampen und Xenonscheinwerfern aufgewachsener Mensch vergisst man schnell, dass sich in der Dunkelheit um einen herum nicht nur Bedrohungen verbergen können, sondern dass man sich genausogut selber in der Dunkelheit vor Bedrohungen verbergen und sich damit geborgen fühlen kann. Es ist wirklich alles eine Frage der Perspektive und des Umgangs mit Gegebenheiten.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Myron » Mi 8. Feb 2012, 00:07

tkarcher hat geschrieben:Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.


Brights finden emotionale Geborgenheit bei ihrem Lebenspartner, in ihrer Familie, in ihren Freundschaften, in ihren Mitgliedschaften in Vereinen oder Selbsthilfegruppen.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 8. Feb 2012, 09:53

Myron hat geschrieben:Brights finden emotionale Geborgenheit bei ihrem Lebenspartner, in ihrer Familie, in ihren Freundschaften, in ihren Mitgliedschaften in Vereinen oder Selbsthilfegruppen.

Wow, muss ich mir selbst helfen? Klingt ja so, als wären wir hier mit irgendeiner Sucht! :sauf:
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon mat-in » Mi 8. Feb 2012, 09:57

Darth Nefarius hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Brights finden emotionale Geborgenheit bei ihrem Lebenspartner, in ihrer Familie, in ihren Freundschaften, in ihren Mitgliedschaften in Vereinen oder Selbsthilfegruppen.

Wow, muss ich mir selbst helfen? Klingt ja so, als wären wir hier mit irgendeiner Sucht!

Na ja, Hilfe ist hier wohl nicht im Sinne von Therapie sondern von Gemeinschaft und Geborgenheit gemeint? Das kann jeder ab und an mal brauchen.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 8. Feb 2012, 10:17

Ja, das Auskotzen, das ich versuche stine zu erklären, versteh schon. :mg: :kotz: :mg:
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon tkarcher » Mi 8. Feb 2012, 15:26

Nanna hat geschrieben:Ich höre hier sehr viel "ich" aus dem "wir" heraus. Das hat sicherlich damit zu tun, dass du am Anfang eines Weges stehst, den viele hier schon ein gutes Stück weitergegangen sind. Gerade frische "Aussteiger" aus den theistischen Denksystemen neigen dazu, den Naturalismus als Weltanschauung zu konstruieren.

Nein, das siehst du falsch. Gedanklich ausgestiegen aus dem theistischen Denksystem bin ich schon vor Jahrzehnten. Nur hatte ich damals angenommen, wer ohne Gott leben kann, der kann - ja, muss eigentlich! - auch auf eine Bewegung wie die Kirche verzichten. Wozu Zeit und Geld in eine Institution investieren, deren Lehren auf Märchen basieren und deren Geschichte geprägt ist von Repression, Machtmissbrauch und Leid? Ich war also gedanklich da, wo viele von euch offenbar noch heute sind: Wenn ich Lust auf Märchen habe, gehe ich ins Kino, und wenn ich mich "mal auskotzen" will, habe ich ja Freunde und Familie. Kirche hatte da keinen Platz mehr, genausowenig wie eine "Brights-Bewegung": Selbst wenn es die damals schon gegeben hätte, hätte ich keine Notwendigkeit gesehen, mich dort zu engagieren. Wozu auch?

Das sehe ich inzwischen differenzierter, denn die Kirche übernimmt heute eben doch mehr Aufgaben als auf Steuerzahlerkosten Homosexuelle zu demütigen und kleinen Kindern tagsüber das Vaterunser einzubläuen und nachts... na lassen wir das.

Wie mat-in so schön schreibt: "Wenn man ein einigermaßen intaktes Sozialleben hat, braucht man keinen Gott." Da bin ich bei dir. Aber was machen die, die kein intaktes Sozialleben haben? Oder die das Glas halb leer sehen? Oder die sich allein in der Dunkelheit eben nicht geborgen fühlen? Sind das wirklich so wenige, dass man sich über diese Menschen keine Gedanken machen muss? Oder sollte man diese "hoffnungslosen Fälle" der Kirche überlassen?

Bei vielen Beiträgen hier (und ja, ich pauschalisiere hemmungslos!) kommt mir spontan Purple Schulz in den Sinn: "Guck mal, nur schöne Leute! Wir haben heute die häßlichen eingesperrt..." Klar: Hedonisten brauchen keinen Gott und keine Kirche. Aber auch Hedonisten können mal in eine Krise geraten oder in die Verlegenheit kommen, Kindern den Sinn des Lebens erklären zu müssen (was je nach Kind ebenfalls einer Krise ziemlich nahe kommt...). Deswegen brauchen sie immer noch keinen Gott. Aber eine gottlose Alternative zur Kirche mit all ihren Angeboten wäre da schon eine ziemlich hilfreiche Sache!

Das bedeutet nicht, dass sich nun alle Brights irgendeiner neuen Doktrin unterwerfen sollen oder das irgendjemand nicht mehr "nach seiner Facon selig" werden darf. Aber vielleicht finden stine und ich ja noch ein, zwei mehr Menschen, für die "gottlos allein" noch keine Alternative ist...
___
@mat-in: Danke für die Kritik am Ton meines Eingangsposts. Beim nochmaligen Lesen erscheint er mir selbst auch zu aggressiv. Du hast recht: Das hätte ich anders formulieren sollen.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon mat-in » Mi 8. Feb 2012, 15:34

tkarcher hat geschrieben:@mat-in: Danke für die Kritik am Ton meines Eingangsposts.

Kein Problem, passiert mir ja auch je nach Tagesform. :^^:
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Myron » Mi 8. Feb 2012, 17:49

tkarcher hat geschrieben:Wenn das naturalistische Weltbild irgendwann wirklich das mystisch-theistische Weltbild in allen Belangen ablösen soll, dann reicht es nicht aus, Gott einfach aus unserem Leben zu streichen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir auch ohne Gott Geborgenheit finden. Und Trost. Und Zuversicht. Und alles andere, was die Menschen bisher aus ihrem Glauben schöpfen.


Ich denke nicht, dass die Brights Religionssüchtige auf Entzug mit esoterisch-spirituellen Ersatzdrogen (Ersatzmythen) versorgen müssen, damit sie über ihre Vertreibung aus dem religiösen Fantasialand hinwegkommen. Wir können ihnen dafür sämtliche kulturellen Sinnquellen anbieten, die religionsunabhängig bzw. vom Glauben an Übernatürliches unabhängig sind: Kunst (Musik, Literatur, Theater, Kino, Malerei, Bildhauerei usw.), Sport, Philosophie, Wissenschaft, Hobbys, berufliches, soziales (gemeinnütziges/ehrenamtliches) oder politisches Engagement.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Myron » Mi 8. Feb 2012, 18:59

Ein Bright, der institutionelle Geborgenheit sucht, kann z.B. dem Humanistischen Verband beitreten.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon Darth Nefarius » Mi 8. Feb 2012, 19:54

tkarcher hat geschrieben:Das sehe ich inzwischen differenzierter, denn die Kirche übernimmt heute eben doch mehr Aufgaben als auf Steuerzahlerkosten Homosexuelle zu demütigen und kleinen Kindern tagsüber das Vaterunser einzubläuen und nachts... na lassen wir das.

Wie mat-in so schön schreibt: "Wenn man ein einigermaßen intaktes Sozialleben hat, braucht man keinen Gott." Da bin ich bei dir. Aber was machen die, die kein intaktes Sozialleben haben? Oder die das Glas halb leer sehen? Oder die sich allein in der Dunkelheit eben nicht geborgen fühlen? Sind das wirklich so wenige, dass man sich über diese Menschen keine Gedanken machen muss? Oder sollte man diese "hoffnungslosen Fälle" der Kirche überlassen?

Ich finde, der Preis für diese Gebrogenheit für die Schwachen sollte nicht das, was du geschildert hats, sein. Pädophile Priester sind nicht die einzigen Seelsorger auf der Welt (soetwas gibt es auch nicht, da es genaugenommen keine Seelen zum versorgen gibt). Die ganzen Streetworker und Psychotherapeuten werden die entsprechenden Aufgaben besser, ohne Indoktrination ausführen. Nun, diese "hoffnungslosen Fälle" werden eine gewisse mentale Stärke und Eigenständigkeit, ja den Wunsch nach ihr benötigen, wenn sie das nicht haben, dann sollen sie ihre Märchen in der Kirche hören, wenn sie Honig um den Mund geschmiert bekommen wollen, ich fühle mich nicht dazu fähig oder berufen, jemandem vorzugaukeln, ich könne alles besser machen, ihen Unsterblichkeit, Sinn, das Gute und für alles möglichst einfache Erklärungen geben.
Das ist die Nische der Kirche, man kann die Leute nicht zu ihrem Glück zwingen.
tkarcher hat geschrieben:Klar: Hedonisten brauchen keinen Gott und keine Kirche. Aber auch Hedonisten können mal in eine Krise geraten oder in die Verlegenheit kommen, Kindern den Sinn des Lebens erklären zu müssen (was je nach Kind ebenfalls einer Krise ziemlich nahe kommt...). Deswegen brauchen sie immer noch keinen Gott. Aber eine gottlose Alternative zur Kirche mit all ihren Angeboten wäre da schon eine ziemlich hilfreiche Sache!

Das bedeutet nicht, dass sich nun alle Brights irgendeiner neuen Doktrin unterwerfen sollen oder das irgendjemand nicht mehr "nach seiner Facon selig" werden darf. Aber vielleicht finden stine und ich ja noch ein, zwei mehr Menschen, für die "gottlos allein" noch keine Alternative ist...

Ich werde meinen Kindern klar sagen, dass sie ihn sich selbst suchen müssen und jeder, der ihnen einen Sinn verkaufen will, ein Scharlatan ist. Ich habe mir meinen Sinn in der Analyse und Nutzung der Biochemie gesucht und gefunden, die Bausteine des Lebens meinen Vorstellungen anzupassen. Die gottlosen Alternativen sind doch genug vorhanden, man hat hier klar gesagt, dass man sich politisch oder sonstwie engagieren kann. Wenn man all das, was du gefordert hast, verwirklichen soll, kann man sich nur einer stumpfen, betrügerischen Doktrin, die der Kirche gleichkommt, unterwerfen. Jeder steht alleine da, mit sich kann man schon sehr viel anfangen.
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Re: Geborgenheit ohne Gott

Beitragvon stine » Mi 8. Feb 2012, 20:13

Darth Nefarius hat geschrieben:Die ganzen Streetworker und Psychotherapeuten werden die entsprechenden Aufgaben besser, ohne Indoktrination ausführen.
Bist du da ganz sicher?
@tkarcher weist ganz bewusst darauf hin, dass nicht jeder ein intaktes Familienleben hat und auch soziale Netzwerke kein Garant für soziale Geborgenheit sind. Es gibt natürlich Menschen, denen der Fernseher und die eigenen 4 Wände genug Geborgenheit bieten, aber es gibt auch viele, denen das nicht reicht und trotzdem können sie nicht auf Familie und Freunde zurückgreifen.
@Darth Nefarius: erkundige dich mal bei der Telefonseelsorge, wie heiß die Drähte dort laufen, sobald die Nacht anbricht, dann weißt du, wieviele Menschen sich nach einer Gemeinsachft sehnen.

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