Lumen hat geschrieben:Gerade islamischer Terror hat eine große politische Komponente, nichtsdestotrotz lassen sich religiöse Spezifika nicht einfach so abtun, wie du das konstant machst, als ob der Bezug zu Allah ausversehen als Druckfehler in die Botschaft geraten ist.
Das habe ich nicht gesagt. Du greifst da eine Position an, die ich so nicht vertrete und mich auch nicht erinnern kann, sie mal vertreten zu haben.
Natürlich ist Gott (Allah bedeutet einfach "der Gott") nicht aus Versehen da rein geraten. Fundamentalismus erfordert dogmatische gedankliche Grundgerüste und in da wird man bei den Religionen einfach besonders schnell fündig. Gott ist in einem religiösen Umfeld die perfekte Legitimationsquelle und wenn man eine Koranstelle finden kann, die auch nur im entferntesten das zu unterstützen scheint, was man vertritt, kann man damit in einem religiösen Diskurs erst mal sehr weit kommen. Das leugne ich auch gar nicht, ich widerspreche in zwei anderen Punkten:
Erstens dem, dass dieses psychische und soziologische Phänomen auf Religion beschränkt sei. Zwar ist der religiöse Fundamentalismus eine der großen Hauptgruppen des Fundamentalismus, aber eben nicht die einzige. Man kann kurioserweise fast alles in ein fundamentalistisches Denkschema pressen, von Ernährungsregeln über atheistische politische Philosophien bis hin zu Musikstilen und Sportrichtungen.
Zweitens dem, dass jede religiöse Praxis gleichzeitig Fundamentalismus sei. Da ist mein Kirchentagsbesucher, der zwar eine tiefe innere Verbindung mit Gott spürt, aber eine Dogmatik der Heiligen Schrift nicht besonders ernst nimmt und auch sonst keine Probleme damit hat, dass sein Bruder Atheist und sein Nachbar Muslim ist, ein widerlegendes Gegenbeispiel. Ich brauche nur einen davon, um die Gleichung "Religion = Fundamentalismus" prinzipiell zu widerlegen und die zwei, drei Milliarden harmlosen Gläubigen, die mit ein bisschen Pluralismus und Ambiguität in ihrem Leben klarkommen, finde ich wahrscheinlich auch noch, um eine Widerlegung im statistischen Sinne durchzuführen.
Lumen hat geschrieben:Auch der Verweis auf tolerante Religiöse bringt dich nicht weiter. Zum einen könnte auch jeder Gläubige weltweit, jederzeit, ein netter Mensch sein, und das Problem, welches du konsequent verweigerst wäre immer noch da.
Da ich das Problem ja angeblich an sich leugne, ist das jetzt nicht gerade ein schlagender Satz, um mich zu überzeugen.
Wenn jeder Gläubige der Welt ein netter Mensch im Sinne einer Achtung der Rechte Anderer wäre, hätte ich noch erheblichere Schwierigkeiten, ein Problem zu erkennen. Von meinen Studienarbeiten der letzten Jahre her komme ich aus einer Ecke, die recht stark vom practical turn und vom Poststrukturalismus beeinflusst ist, politikwissenschaftlich bin ich ein Spezialist für social movement theory mit Anwendungsgebiet Naher Osten. Was das konkret heißt, muss ich jetzt hier nicht ausführen, Vollbreit wird es vielleicht teilweise was sagen; für unsere Diskussion heißt es konkret, dass ich aus meinen Kenntnissen des Forschungsstandes heraus weiß, dass Diskurse in großer Breite - also mit vielen Teilnehmern, teilweise vielen Millionen - nicht so funktionieren, dass Gruppen etwas sagen und etwas anderes meinen. Wenn etwa einer Gruppe unterstellt wird, dass sie der Gewalt "nicht wirklich" abgeschworen hätte, obwohl sie seit Jahren nur noch soziale Projekte organisiert und sich zu Wahlen aufstellen lässt, dann ist das etwas, was aus meiner Sicht (und der der Diskurs-Forschung) keinen Sinn ergibt, weil der Diskurs nicht nur in eine Richtung wirkt, also auch die Gruppe selbst verändert. Das eine sagen und das andere meinen, ganz besonders wenn es bewusst geschieht, funktioniert nur in sehr kleinen Zirkeln und auf der persönlichen Ebene, wo sich Einzelpersonen der Unterschiede zwischen dem erlogenen und dem "realen" Bild der Wirklichkeit bewusst sein können. Für große Gruppen sind von daher Behauptungen, dass die alle nur nett tun würden und eigentlich eine geheime Agenda verfolgen würden und alle Ungläubigen brennen sehen möchten, schlicht unplausibel und Deutungen in dieser Richtungen werden vom empirischen Forschungsstand auch nicht gestützt.
Anders ausgedrückt: Wer lange genug behauptet, einfach nur nett zu sein, vergisst, dass er gar nicht nett ist und bleibt einfach nett, denkt irgendwann vielleicht gar, es schon immer gewesen zu sein. Einbindung funktioniert.
Lumen hat geschrieben:Schließlich habe ich meine Zweifel, ob die Toleranz wirklich gegeben ist. Das fliegt dir sofort um die Ohren, sobald man die Cartoons usw einbezieht, was du aber ja bereits von der Diskussion ausgeschlossen hast.
Wann soll das denn geschehen sein? Und warum sollte mir das um die Ohren fliegen? Ich habe doch schon weiter oben geschrieben, wie es um den Respekt für Andersdenkende in Ländern wie Ägypten aussieht, da ist es doch nichts neues, sondern passt genau ins Bild, dass viele Einwohner des Nahen Ostens wütend wegen der Cartoons sind.
Die Frage ist nur, ob das eine rein religiöse Frage ist, was sich meines Erachtens weder theoretisch noch empirisch halten lässt. Ein gewaltiges Problem im Nahen Osten ist, dass der Islam als letztes eigenes Kulturelement betrachtet wird. Alles, was den Nahen Osten in früheren Jahrhunderten mal ausgemacht hat - eine blühende Landwirtschaft, eine wissenschaftliche Vorreiterrolle, überlegene technologische Fähigkeiten, eine zentrale Rolle im internationalen Handel, ein weltweit unvergleichbarer Lebensstandard mit fortgeschrittener Medizin und Hygiene -, ist so nachhaltig ruiniert, dass der Nahe Osten heute z.B. weltweit mit Abstand die Region mit der höchsten Prävalenz bei depressiven Erkrankungen ist. Die ganzen Kulturdiskurse seit dem 19. Jahrhundert kreisen einzig und allein um die Frage, wie die nahöstliche Kultur so tief fallen konnte und die ganzen daraus entstandenen Ideen - die Nahda-Epoche in der Literatur, der Baathismus, die Salafiyya, die eigentlich mal als modernistisches Reformerprogramm gestartet war - sind alles mehr oder (meist) weniger gelungene Reformprogramme. Aus westlich-saturierter Sicht, der seit dem Zweiten Weltkrieg jede Form von ideologischem Fanatismus zum Glück schnell suspekt ist - mag es unverstehbar sein, aber die Demütigungsgefühle und die Suche nach einer eigenen Identität sind treibende Kräfte für große Teile des politischen Diskurs im Nahen Osten. Ich bin in Kairo mal in eine Diskussion über 9/11 und den Irakkrieg geraten - autsch, das wurde laut! Es ist keiner persönlich auf mich losgegangen, aber man hat gemerkt, dass da manche regelrecht blind vor Wut und Ohnmachtsgefühlen sind. Das deckt sich mit dem, was ich auch aus der politikwissenschaftlichen Literatur kenne. Es ist insofern meines Erachtens nicht verwunderlich, dass die Leute sich dort um das einzige verbindende, eigene Element scharen, dass sie haben, nämlich den Islam. Nur bedeutet das eben, dass die Religion hier nicht der treibende Faktor ist, sondern einfach die perfekten Strukturen mitbrachte, um als Totempfahl zu taugen, um den man kollektiv herumtanzen kann und sich - wenigenstens einmal - einbilden kann, man habe etwas, was einem gegenüber dem Rest der Welt Macht gibt, der währenddessen das Öl abtransportiert, Störenfriede mit Drohnen wegsprengt und bis auf ein bisschen Tourismus im wesentlichen Verachtung oder sogar nur Desinteresse zeigt.
Und bevor jetzt der Einspruch kommt, dass ich Apologet wäre: Ich verteidige hier primär nicht, sondern versuche, die Situation strukturell aufzudröseln und deine Nase mal auf andere Faktoren zu stoßen, die mit Religion nur randständig etwas zu tun haben. Gäbe es den Islam nicht, dann wäre es irgendwas anderes, auf das man sich berufen würde. Keine Ahnung was, die Beduinenkultur vielleicht, die ja zumindest auf der Arabischen Halbinsel trotz wahhabitischer Dauerpropaganda immer noch eine gewisse Rolle spielt.
Es stimmt natürlich, dass die Religion ein toller Durchlauferhitzer für Fundamentalismus und darin fraglos effektiver als viele andere Weltbilder ist. Aber ob etwas nun das Wasser oder der Durchlauferhitzer ist, macht analytisch halt einen erheblichen Unterschied.
Lumen hat geschrieben:So zimmerst du dir eine Fantasiewelt zurecht, in der du konsequent ausklammerst, was nicht reinpasst. Das ist für dich dann reißerisch oder so. So kann man eben alles abschießen, was einem nicht in den Kram passt. Ehrlich ist das aber nicht.
Was Vollbreit gesagt hat.
Davon abgesehen habe ich keine besonders statische Weltsicht, mehr ein riesiges Mosaik mit lauter Teilen, die sich alle permanent bewegen, sich verbinden und wieder lösen. Schon allein deshalb komme ich mit statischen Bildern wie einer starren Dichotomie Religion vs. Nichtreligion einfach nicht klar, weil die Welt so trivial nicht funktioniert.
Lumen hat geschrieben:Für mich ist das ein klarer Fall für Induktion. Es gibt X, folglich ist die Behauptung Religion sei nie X direkt falsch. Dass es um Religion geht, lässt sich wegen der Spezifika und konkreten Bekundungen nicht leugnen. Selbst wenn du das weich machen möchtest (aus „nie“ wird „selten“ usw.) und alle Stellschrauben lockern willst, damit deine Realitätsverweigerung nicht auffliegt, musst du dann eben die Position ehrlich beziehen, dass du es Okay findest, dass Todesdrohungen und Einschüchterungen im Umgang mit dem Islam die Regel sind und das bereits einen Effekt auf Selbstzensur hat. Du kannst es natürlich auch einfach komplett leugnen, aber falls dir das doch zu schwer wird, musst du es wohl als Bagatelle abtun. Dann ist das ganze einfach eine Frage, wie lange man Lust hat, mit dir Salamitaktik zu spielen.
Sei mir bitte nicht böse, wenn ich ganz offen frage: Hast du Ahnung von Statistik über den schulischen Mathematikunterricht hinaus?
Falls ja, weißt du, was eine Drittvariablenkontrolle ist und kannst dich jetzt fragen, ob du die ausreichend durchgeführt hast. Falls nein, kannst du dir unter dem Begriff vielleicht trotzdem genug vorstellen, um zu verstehen, dass die Feststellung einer Korrelation zwischen "Islam" und "Todesdrohungen" alleine nicht viel aussagt. Es kann sein, dass eine oder mehrere Drittvariablen für das gleichzeitige Auftreten verantwortlich sind. Es kann theoretisch sogar sein, dass beide Variablen unabhängig sind und zufällig voneinander auftreten, wobei ich das für unwahrscheinlich halte. Aber es gibt Anzeichen, dass viele kulturelle Praktiken des Nahen Ostens andere oder zumindest weitere Ursachen haben. Die Clanstrukturen mit dem damit verbundenen Patriarchalismus und der Idee der Familienehre sind, nur mal als gutes Beispiel, starke Triebkräfte für Phänomene wie Zwangsheiraten, Ehrenmorde und eine generelle Geringschätzung der Frau. Bezeichnenderweise kennen wir solche Gepflogenheiten auch aus dem südostasiatischen Raum, z.B. aus China oder Japan, wo es deutlich weniger und teils auch nicht derart dogmatische religiöse Vorstellungen gibt, und die Familienehre trotzdem ein riesiges Fass ist. Arrangierte Ehen sind da ebenfalls keine Seltenheit.
Lumen hat geschrieben:Selbst das ist nur unwichtiges Beiwerk, denn es geht um die Akzeptanz von Glauben an Dinge, die um mehrere größenordnungen unsinniger sind als jede noch so abwegige Verschwörungstheorie. Selbst die Behauptung der 2. Weltkrieg sei komplett erfunden und inszeniert ist noch glaubhafter als was Religionen gemeinhin predigen. Für dich ist das eben kein Problem, du weigerst dich ja sogar anzuerkennen, dass Religionen bestimmte „Systemeigenschaften“ hätten, z. B. Dogmata, religiöser Glaube usw. Mir ist nicht klar, wie du das aufrecht erhalten willst ohne in die Trickkiste zu greifen.
Ah, jetzt kommen wir endlich zu den Pudels Kern: Du bist persönlich beleidigt, weil manche Leute "solches Zeug" glauben. Gut, dabei kann ich dir nicht helfen. Mir persönlich ist es wurscht, was meine Nachbarn denken oder glauben, solange sie mich und Andere respektieren und niemandem erkennbar schaden. Und ich werde sicher nicht allen möglichen angeblichen Schaden herbeiinterpretieren.
Ich weigere mich nicht, bei Religionen typische gemeinsame Bestandteile zu identifizieren. Ich habe gesagt, dass es keine Systemeigenschaften gibt, die Religionen klar und deutlich von anderen kulturellen Praktiken abgrenzen und damit lediglich den Alleinstellungsstatus der Religion abgelehnt, den du ihr zuschreibst. Wie gesagt, vieles von dem, was du spezifisch bei Religiösen siehst, finden wir auch in anderen kulturellen Zusammenhängen. Religion moderiert und verstärkt manches Verhalten meiner Meinung nach, aber löst es nicht ursächlich aus.
Lumen hat geschrieben:Entweder man hat den Wert, dass völlig unbelegbare Sachen nicht überproportional als wahr angenommen werden sollen, oder man hat den Wert nicht. Das ist in der Tat eine der wenigen Dichotomien, die Sinn ergeben und wo ich keine Zwischenwerte erkenne. Religiöse verneinen das, denn das ist gerade der Glaube; Religion ist das dazugehörige System. Der Rest ist echt egal, darum ist deine Differenzierung von Kumbaya singenden Gläubigen vollkommen unbrauchbar.
Das macht argumentativ überhaupt keinen Sinn. Mit der Logik kann ich auch behaupten, dass eine Eventmanagerin aus München und ein Landwirt aus einem Dorf bei Jever sich grundlegend ähnlich sind, weil sie beide Deutsch sprechen und eine Differenzierung in Norddeutsche und Süddeutsche oder nach Geschlecht oder Berufsgruppe oder Bildungsstand keinen Erkenntnisgewinn bringen könnte.
Lumen hat geschrieben:Und bevor der Einwand kommt, dass jeder ja irrationale Ansichten hat — auch geschenkt — es geht um ein allgemeines Bemühen in Proportion zu der Ansicht. Bei Glaube und Religion ist das nicht nur nicht der Fall, sondern die Ablehung des Wertes ist noch eine Tugend, die lange Zeit hoch geachtet wurde, teilweise noch wird.
Mein Einwand ist: Jeder hat irrationale Ansichten. Du übrigens auch, auch wenn du es gerade nicht mitkriegst.
Lumen hat geschrieben:Interessantweise gibt es einige Evangelikale, denen die Suche nach Wahrheit derartig eingetrichtert wurde, dass der eigentlich religiöse Wert, Wahrheit, sie aus dem Glauben katapultiert hat. Das gibts auch, und ist auch einbezogen.
Das ist gar nicht so abwegig. Die etablierte Erklärung geht so:
Der religiöse Fundamentalismus im engeren Sinne ist im 19. Jahrhundert so langsam als Antwort auf die Krise der Religion angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts entstanden. Die Erkenntismethode des
logos übernahm plötzlich die komplette Weltdeutung, was vor der Aufklärung durch den
mythos geschah. Dieser Vorgang hat bei einigen Leuten Verlustgefühle und eine konstante Wahrnehmung der Gegenwart als Krise hervorgerufen, allerdings konnte hinter den Triumpf den
logos keiner mehr zurück, die Etablierung der wissenschaftlichen Methode war einfach ein kompletter game-changer. Als Folge davon haben Fundamentalisten begonnen, zu versuchen, den
mythos wieder als dominante Welterklärung herzustellen, aber mit den Mitteln des
logos und tun das bis heute: Man benutzt religiöse Texte wie Gebrauchsanleitungen für eine Laborausrüstung, zählt Wörter, versucht sich im Sinne wortwörtlicher Schriftauslegung noch "richtiger" zu verhalten, oder eignet sich pseudowissenschaftliches Vokabular an. Dass dabei ein paar irgendwann komplett die Seite wechseln, ist eigentlich nicht verwunderlich, es liegt in der Natur der Sache und ist eigentlich erwartbar. Und interessanterweise wechseln auch Leute von der wissenschaftlichen Seite - zwar selten auf die religiöse, aber nicht ganz so selten auf die fundamentalistische, wo dann in einem ähnlichen Vorgang sämtliche Ambivalenzen und Ambiguitäten beseitigt werden und plötzlich Sprüche wie die kommen, dass eine "Differenzierung von Kumbaya singenden Gläubigen vollkommen unbrauchbar" wäre.