Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Für Artikel, Video- oder Audiomaterialien, die im Zusammenhang mit der Thematik der Brights-Bewegung stehen.

Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon mat-in » So 3. Jun 2012, 14:24

Scheinerklärungen die keine Prognosen erlauben wie in der Physik? Frag mal nen Physiker, ob er dir von einem Wassermolekül von dem wir genau wissen wo es ist in einem Topf Wasser den wir kochen sagen kann wo das Molekül in 3 Minuten ist... Er wird sich nicht mal festnageln lassen, ob es noch im Topf ist.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon laie » So 3. Jun 2012, 15:10

Vollbreit hat geschrieben:Einsteins Theorien sagten voraus, dass die Gravitation des Merkur, das Licht eines Sternes „dahinter“ würde ablenken müssen, der Stern sollte am Himmel an einer anderen Position erscheinen als bisher.
Das ist eine robuste und falsifizierbare Prognose – obendrein eine, die wirklich eintrat.


Genau, dieser Planet, der zuerst nur prognostiziert, aber nicht "entdeckt" wurde, bekam den Namen "Neptun".

Ich bin mir grad nicht sicher, ob ich verstehe, wohin die "Reise" geht. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, ob religiöse Menschen "gute Wissenschaftler" sein können, also in irgendeiner Weise (und von uns noch gar nicht diskutiert) ihren Glauben und wissenschaftliches Arbeiten verbinden können. Dass es solche Menschen gibt, steht wohl ausser Frage.

Vollbreit scheint nun die zweite Stufe eingeleitet zu haben. Jetzt geht es auch darum, mit welcher Rechtfertigung ein wissenschaftliches Denk- und Rechtfertigungssystem den Vorrang erhalten soll vor vorwissenschaftlichen oder besser, weil weniger wertend: nicht-wissenschaftlichen Überzeugungssystemen.

Ist das soweit richtig, @Vollbreit?
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon Vollbreit » Mo 4. Jun 2012, 09:19

stine hat geschrieben:Ich verstehe auch nicht, warum menschliche Erlebnisse in der Welt des Realismus vorsätzlich mit dem Argument der hormonellen Hirnstromvorgänge abgetötet werden müssen. Selbstverständlich kann man heute alle Vorgänge im menschlichen Körper irgendwie nachmessen.


Dagegen spricht ja erst einmal nichts aus Gründen der Forschung.
Allerdings führte des Hype um die Hirnforschung zu einer Unmenge halbgarer Interpretationen, die fast alle wieder kassiert wurden, ein eigenes Thema.
Realistisch ist das auch nicht, denn diese ganzen Zusammenhänge sind Konstrukte, an denen weit weniger stimmt als man wahr haben will, von Roths „Grundlagenfoschung“ über Persinger Helm der angeblich Gott hinterm Schläfenlappen gefunden hat, bis Singers angeblich nichtexistente Willensfreiheit, kannst Du alles in die Tonne kloppen.

Über die sehr komplexen Neurotransmittersysteme und ihr Zusammenspiel ist eher wenig bekannt, es gibt da etwa 15 verschiedene Systeme, manche meinen 20, hier scheint tatsächlich die Verbindung von Körperchemie und Empfindung zu liegen, aber wenn man sich bspw. nur mal damit beschäftigt, wo z.B. Serotonin im Körper seine Wirkungen entfaltet und wie überaus verschieden diese Wirkungen im Körper sind und welche Wirkungen es im Gehirn entfaltet, wo es an zig Stellen Serotoninrezeptoren gibt, an denen der Stoff ganz verschiedene Wirkungen entfacht, na holla.


mat-in hat geschrieben:Scheinerklärungen die keine Prognosen erlauben wie in der Physik? Frag mal nen Physiker, ob er dir von einem Wassermolekül von dem wir genau wissen wo es ist in einem Topf Wasser den wir kochen sagen kann wo das Molekül in 3 Minuten ist... Er wird sich nicht mal festnageln lassen, ob es noch im Topf ist.


Ich will ja die Biologie gar nicht schlecht machen und fand den Vorwurf der wachsenden Unexaktheit schon immer dämlich. Die Physiker können auch nicht sagen, wo sich ein Elektron befindet, aber sie können Dir sagen, dass das Wasser verkochen wird, dass Uran zerfallen wird und sie können auch exaktere Prognosen machen. Das können Biologen durchaus auch, nur eben nicht mit der Evolutionstheorie. Dort ist die Aussage eher, was passiert, passiert und nachher erklären wir vielleicht, warum es passiert ist. Selbst diese Ansätze können hochspannend sein, wie in der Ethologie, die ich überaus schätze, solange man sich davor hütet allzu simplizistische Vorschläge auf den Menschen zu übertragen, weil der ja eigentlich auf nur ein Tier sei.
Dass Tiere sich von Argumenten beeindrucken lassen, wäre mir neu, dass die Biologie überhaupt einen Begriff für Argumente (oder ein erklärendes Äquivalent) hat, wäre mir auch neu.
Dass der Mensch natürlich immer auch ein biologisches Wesen ist, in der Kette der Evolution steht ist ja damit nicht


laie hat geschrieben:Genau, dieser Planet, der zuerst nur prognostiziert, aber nicht "entdeckt" wurde, bekam den Namen "Neptun".


Ich meinte zwar diesen Gravitationslinaseneffekt der beim Merkur verifiziert wurde, aber richtig ist, dass der auch der Neptun zunächst gefordert und dann beobachtet wurde. Aber das ist auch eher nachrangig.

laie hat geschrieben:Ich bin mir grad nicht sicher, ob ich verstehe, wohin die "Reise" geht. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, ob religiöse Menschen "gute Wissenschaftler" sein können, also in irgendeiner Weise (und von uns noch gar nicht diskutiert) ihren Glauben und wissenschaftliches Arbeiten verbinden können. Dass es solche Menschen gibt, steht wohl ausser Frage.


Ja, da hat wohl kaum einer ernsthafte Zweifel.

laie hat geschrieben:Vollbreit scheint nun die zweite Stufe eingeleitet zu haben. Jetzt geht es auch darum, mit welcher Rechtfertigung ein wissenschaftliches Denk- und Rechtfertigungssystem den Vorrang erhalten soll vor vorwissenschaftlichen oder besser, weil weniger wertend: nicht-wissenschaftlichen Überzeugungssystemen.

Ist das soweit richtig, @Vollbreit?


Ich hatte, als ich das geschrieben habe, keine festes Programm im Kopf, aber generell würde ich gerne mal klären, worin der vielbeschworene und oft allzu selbstverständlich dargestellte Unterschied zwischen Wissenschaft (gemeint ist fast immer Naturwissenschaft) und allem anderen denn nun besteht.

In der Möglichkeit der Falsifikation, auf der immer herumgeritten wird, schon mal nicht, sonst könnte man die ET nämlich schnell mal entsorgen.
Tatsächlich spielt aber Popper in der praktischen Wissenschaft gar nicht so eine große Rolle, so dass der Unterschied auf den man sich häufig beruft gar nicht so groß vorhanden ist.

Die Frage ist, wo er dann liegt.
Die Wissenschaft tut zudem auch alles andere als schnell ihre Theorien zu ändern, sie beharrt im Gegenteil recht lange darauf und erst wenn es gar nicht mehr geht, kommt es zu einem rigiden Umbruch, Kuhn hat das dargestellt.

Im Grunde hat Quine das schön dargestellt und in seiner Struktur gleicht das System (Natur-)Wissenschaft fast eine wenig den Luhmannschen Systemen. Man kann sich Wissenschaft so wie eine Wolke denken, die ganz außen bspw. durch abweichende Daten irritiert werden kann.
Diese Daten werden dann erstmal als Zufall, Messfehler, statistisch marginal oder sonst wie konsequent ignoriert. Zwar mag es ein paar Freaks geben, die sich auf Sonderthemen stürzen, aber die werden in der Wissenschaft auch gerne mal isoliert. Da gibt es ja Vorselektionen in Zeitschriften und so weiter. Erst wenn die Reizschwelle sozusagen groß genug ist, nimmt man sich des Themas an und versucht Daten, die sich hartnäckig quer stellen im Mainstreamsinn zu interpretieren, wenn das nicht klappt, wird tatsächlich die alte Theorie verworfen, die Struktur ist also nicht die allmähliche Anpassung, sondern die Revolution. (Auch hier war Popper anderer Ansicht.)
Theoretisch wäre es auch denkbar den Kern, wie z.B. unser logisches System infrage zu stellen.
Es ist ja keinesfalls Gesetz, dass wir dieses und kein anderes logisches System haben müssen, es stehen unendlich viele andere parat.
Aus irgendwelchen wunderbaren Gründen korreliert unsere Mathematik recht gut mit der empirischen Welt. Dass dies ein Zufall sein soll, ist nicht eben überzeugend, also sollten wir nach den Gründen forschen.
Es wäre durchaus denkbar, das System auch im Kern zu verändern, also die zweiwertige Prädikatenlogik zu kippen, aber darüber einigt sich die Sprachgemeinschaft und die sah wohl bisher keine Notwendigkeit.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon laie » Mo 4. Jun 2012, 10:25

Es wäre durchaus denkbar, das System auch im Kern zu verändern, also die zweiwertige Prädikatenlogik zu kippen, aber darüber einigt sich die Sprachgemeinschaft und die sah wohl bisher keine Notwendigkeit.


Ab einer gewissen Komplexitätsstufe sind ohnehin nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Das unbedingte Festhalten an den beiden Werten der Prädikatenlogik, an nur "Wahr" oder nur "Falsch", ist da vielleicht naiv.

Ich finde @Vollbreit deinen pragmatischen Hinweis ganz interessant, dass Popper und Falsifikation für einen Wissenschaftler bei der täglichen Arbeit vermutlich keine grosse Rolle spielt. Der Status der Evolutionstheorie muss daher umgedeutet werden, der Status von Wissen auch:

(a) Es gibt Wissen. Wie man ein Haus baut, Menschen heilt, usw. Das ist angewandtes Wissen, das ist eigentliches Wissen. Diese Art von Wissen gibt es, seit der Mensch Faustkeile macht und dieses Wissen weitergibt.

(b) Es gibt Metatheorien. Geschichten. Grosse Geschichten. Eine grosse Geschichte ist z.B. die Globalisierung. Eine andere die Evolution. Diese beiden sind die grossen Geschichten unserer Tage. Und in diese Geschichten wird alle Forschung hineingewebt. Im AT ist das zentrale Thema, die grosse Geschichte Gerechtigkeit . Um diesen Begriff dreht sich im Grunde das ganze Alte Testament. Auch in diese Geschichte können Handlungen oder Forschungen eingewebt werden.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon Vollbreit » Mo 4. Jun 2012, 12:29

Ja, ich halte auch die strikte Trennung von Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Zeitgeist und so weiter für eine Illusion. Man kann sicher idealerweise anstreben diese Bereiche zu trennen, dort wo es sinnvoll ist, aber oft ist es nicht sinnvoll oder möglich.

Du hast ja (vielleicht) auch gelesen, zu welch irrigen Ansichten das führt, so als könne man sich für oder gegen Moral, für oder gegen das Über-Ich entscheiden. Das aus der Schreibe von Wissenschaftlern von Morgen offenbart eine Ahnungslosigkeit die ja die schlimmsten Vorurteile übersteigt.

Deine Aufteilung von Wissen und Geschichten ist nicht ohne Charme, wenngleich es sicher auch Wissen gibt, was erst im Kontext einer neuen Geschichte erscheint. Auch sind nicht – eine Lehre aus der Postmoderne – alle Geschichten gleich gut.

Ich finde z.B., dass eine Stärke der Wissenschaften gegenüber der Religion durchaus im Metabereich liegt. Die Wissenschaft ist idealerweise ideologiefreier und weniger ausgrenzend.
Man kann katholisch oder atheistisch, homo oder hetero, schwarz oder weiß, Mann oder Frau, arm oder reich sein, einzig die Qualifikation zum wissenschaftlichen Arbeiten muss man mitbringen, ansonsten zu nichts bekennen.

Die Wissenschaft ist in positiver Weise pragmatisch und will nichts Übergeordnetes beweisen, keine politischen Ideologie, keinen Gott, in Grunde nicht mal den Atheismus.
Sie ist dann schon halbwegs dem Experiment verpflichtet und hat brauchbare Selbstreinigungssysteme, in die man allerdings unterschiedlich starke Hoffnungen setzen kann.

Dass die Wissenschaft in der Praxis oft käuflich, korrupt und ideologisch verzerrt ist, heißt nicht, dass das Ideal nicht noch irgendwo am Himmel leuchtet.

Der reine Nutzen wirkt allerdings häufig orientierungslos, weil er nicht fragt für wen?
Oder ob man alles tun sollte, was man tun könnte. Das Korrektiv aus der Vernunft heraus, hat sich eben oft genug als blutarm erwiesen und mündet in Pseudologik und –moral. Irgendwer macht es ja eh, also sollten wir wenigstens sehen, dass wir den Anschluss nicht verlieren.

Ich bin zwar kein prinzipieller Kapitalismuskritiker, aber die Einkürzung des Menschen auf seinen wirtschaftlichen Nutzen finde ich schon ziemlich ekelhaft. Und wenn einem nichts Besseres einfällt, als den „Wert“ des Menschen zusätzlich daran zu bemessen, ob er im Verlauf seiner Existenz möglichst wenig CO2 verbraucht hat, sollte man lieber betreten Schweigen als diesen Unsinn noch lautstark hinauszuposaunen. Beides geschieht m.E. dann, wenn man großzügig auf Moral verzichtet.

Der Naturalismus als Weltbild, als Geschichte, hat uns nicht viel zu bieten, er berührt die Fragen, die Menschen haben nicht einmal. Warum man so krampfhaft versucht auch in diesen Fragen an ihm festzuhalten, verstehe ich nicht. Da muss man dann schauen, ob die Differenzierung nicht zur Dissoziation wurde. Die Fragen des Zusammenlebens sind rein formal kaum andere als vor 3000 Jahren und die Antworten von damals haben mitunter heute noch ihre Gültigkeit oder sollten zumindest mit bedacht werden.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon Nanna » Mo 4. Jun 2012, 15:32

Vollbreit hat geschrieben:Der Naturalismus als Weltbild, als Geschichte, hat uns nicht viel zu bieten, er berührt die Fragen, die Menschen haben nicht einmal. Warum man so krampfhaft versucht auch in diesen Fragen an ihm festzuhalten, verstehe ich nicht. Da muss man dann schauen, ob die Differenzierung nicht zur Dissoziation wurde. Die Fragen des Zusammenlebens sind rein formal kaum andere als vor 3000 Jahren und die Antworten von damals haben mitunter heute noch ihre Gültigkeit oder sollten zumindest mit bedacht werden.

Ich denke, dass der Naturalismus viele Vorteile besitzt, die du auch der Wissenschaft zugestehst, nämlich vor allem, dass er unter seinem Dach eine große Bandbreite an Überzeugungen zulässt, die nicht sofort in die abnormale Ecke gestellt werden. Auch ist der Okham'sche Reduktionismus nicht immer nachteilig, weil er einen z.B. vor wilden Postulaten (vulgo: Geschwurbel) schützen kann.

Was mir hier nicht gefällt, ist, dass du implizit die Fragen des Zusammenlebens mit Religion und Mystik verknüpfst und somit wieder unterstellt wird, dass wir Naturalisten eigentlich nach religiösen Regeln leben würden und das nur irgendwie abspalten würden. Das ist einfach falsch und ich empfinde es auch ehrlich gesagt als unfair. Die Religion war einfach früher da und hat früher ihre Statements abgeben können, aber sie ist als Narrativ nicht notwendig, um moralisch zu sein, respektvoll zusammenzuleben oder achtsam mit sich selbst umzugehen. Ich habe auch kein Problem damit, mit Religiösen über Moral zu sprechen oder beispielsweise den Begriff der Würde sehr ernst zu nehmen, nur dass ich eben davon ausgehe, dass der rein diskursiv hergestellt und absolut dieseitig ist.

Darüberhinaus möchte ich widersprechen, dass der Naturalismus Fragen, die "die Menschen" haben, nicht berührt. Ich erlebe das ganz anders und ich bin genauso Teil "der Menschen" wie du oder der ja auch nur als gedachtes Abstraktum existierende Durchschnittsreligiöse.
Da offenbart sich meiner Meinung nach auch ein etwas problematischer Zug deiner Sehnsucht nach einer mythischen Großerzählung für unsere Zeit: So eine Erzählung bügelt letztlich alles glatt und ruiniert alle Ansätze, die nicht zu seinen Prämissen passen. Du schreibst ja selber, dass du es als ärgerlich empfindest, dass keine Theorie alles erklären kann. Das empfinde ich als Wissenschaftler zwar auch unbefriedigend, aber ich habe akzeptiert, dass es kein einzelnes Brennglas gibt, durch das man die Welt erkennen kann, sondern dass jede wissenschaftliche Theorie ihre Klarsichtigkeit und auch ihre blinden Flecken hat. Ich sehe das eher so, dass gerade die Vielfalt an Theorien am Ende ein aussagekräftiges Gesamtbild ergeben kann, das mit Glück das leistet, was Popper mit seiner "Annäherung an die Wirklichkeit" versucht, vielleicht vergleichbar mit einer Collage, die bei entfernter Betrachtung ein größeres Bild enthüllt (ohne dass daran etwas Magisches wäre). Mehr, nicht weniger Pluralismus ist die Antwort, mit gewissen Mindeststandards verbunden natürlich (weder kann ein Nazi sich im politischen Bereich noch ein Esoteriker im wissenschaftlichen Bereich auf Pluralismus berufen).

Apropos Magie und deine Anspielungen auf Telepathie etc.: Alles, was wir jemals über die Welt herausgefunden haben, hat sich am Ende als auf physikalischen Mechanismen beruhend herausgestellt und damit als nicht magisch. Weiterhin hat gerade die Psychologie, in der du (vermutlich aus beruflichen Gründen) ja auch unterwegs bist, immer und immer wieder aufgezeigt, wie sehr unsere Wünsche und Erwartungen unsere Wahrnehmung beeinflussen. Nimm mir bitte nicht übel, dass ich da einfach einen kalten rationalistischen Blick drauf behalte und es weiterhin als unwahrscheinlich ansehe, dass es da draußen "mehr" gibt. Das ist mir zu schwärmerisch.

Zuletzt noch: Warum immer dieses Paketdenken? Natürlich ist das, was vor 3000 Jahren gedacht wurde, noch relevant. Über die Goldene Regel reden wir ja heute noch. Muss ich es mir als Naturalist aber deshalb laufend gefallen lassen, dass mir damit weitere Sachen untergejubelt werden sollen, so wie mir dauernd irgendwelche Programme bei der Installation irgendwelche Toolbars auschwatzen wollen? Wer unbedingt sein Gerechtigkeitsempfinden alttestamentarisch begründen will, kann das von mir aus gerne machen, ich bin sogar bereit, mit demjenigen darüber zu reden, nur würde ich beispielsweise nicht wollen, dass Gerechtigkeit dann unauflöslich alttestamentarisch abgeleitet und interpretiert würde, ich also entweder AT und Gerechtigkeit zusammen kriege oder gar nichts. Umgekehrt habe ich auch Verständnis, dass ein katholischer Wissenschaftler nicht will, dass man ihm sagt, er könne Wissenschaft nur im Paket mit Atheismus bekommen.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon Vollbreit » Mo 4. Jun 2012, 19:13

Nanna hat geschrieben:Was mir hier nicht gefällt, ist, dass du implizit die Fragen des Zusammenlebens mit Religion und Mystik verknüpfst und somit wieder unterstellt wird, dass wir Naturalisten eigentlich nach religiösen Regeln leben würden und das nur irgendwie abspalten würden. Das ist einfach falsch und ich empfinde es auch ehrlich gesagt als unfair.


Das denke ich auch gar nicht.
Ich glaube schon, dass man auch ohne Religion ein anständiger Mensch sein kann und habe es stets als falsch erachtet, Moral vollkommen verkümmern zu lassen und so zu tun, als habe allein Religion oder ihre Vertreter eine kompetente Meinung in dieser Beziehung oder (schlimmer noch) gar das letzte Wort.

Nur kann der Naturalismus eben aus sich heraus diese Position nicht einnehmen und dasselbe gilt für die Naturwissenschaften. Diese argumentieren zwar aus einem gewissen pragmatischen Relativismus heraus, nur muss man konstatieren, dass das was man den Religionen so lautstark vorwirft, z.B. mit den Nazis kooperiert zu haben, in eben solchem Umfang (wenn nicht mehr) für die Wissenschaft galt.
Zudem ist es ja so, dass bei den Brights nicht nur damit kokettiert wird, als sei es irgendwie ein Vorteil wenn man „Jenseits von Gut und Böse“ auf Moral und Schuld und dergleichen verzichtet.
Das ist, mit Verlaub, dummes Zeug und da sitzt dann schon der mit im Boot, der sich dazu bekennt.
Hier sehe ich zumindest noch Klärungsbedarf.

Nanna hat geschrieben:Die Religion war einfach früher da und hat früher ihre Statements abgeben können, aber sie ist als Narrativ nicht notwendig, um moralisch zu sein, respektvoll zusammenzuleben oder achtsam mit sich selbst umzugehen. Ich habe auch kein Problem damit, mit Religiösen über Moral zu sprechen oder beispielsweise den Begriff der Würde sehr ernst zu nehmen, nur dass ich eben davon ausgehe, dass der rein diskursiv hergestellt und absolut dieseitig ist.


Was heißt diesseitig? Ein Ideal ist meist nicht diesseitig, wenn diesseitig bedeutet, dass etwas hier auf Erden eingelöst wird. Es wird nie eine gute und gerechte Welt geben und dennoch lohnt es sich, sich dafür einzusetzen. Eine nur der Erkenntnis verpflichtete Wissenschaft wird es auch nicht geben.
Was nach dem Tode kommt ist Spekultation, aber selbst bei Religionen sind die Vorübungen ja alle diesseitig, sie zielen nur (manchmal) aufs Jenseits.

Nanna hat geschrieben:Darüberhinaus möchte ich widersprechen, dass der Naturalismus Fragen, die "die Menschen" haben, nicht berührt. Ich erlebe das ganz anders und ich bin genauso Teil "der Menschen" wie du oder der ja auch nur als gedachtes Abstraktum existierende Durchschnittsreligiöse.
Da offenbart sich meiner Meinung nach auch ein etwas problematischer Zug deiner Sehnsucht nach einer mythischen Großerzählung für unsere Zeit: So eine Erzählung bügelt letztlich alles glatt und ruiniert alle Ansätze, die nicht zu seinen Prämissen passen.


Ich sehe den Mythos ja nicht als Ersatz für Wissenschaft an oder andere, die etwas haben, wofür sie leben, sondern als etwas für Menschen, die genau das nicht haben. All diese Bekundungen, dass man nicht religiös sein muss um ein guter Mensch zu sein, ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen und sich für andere einzusetzen, stimmen ja, aber was ist mit den Menschen, die das nicht haben?
Für eine bessere Idee wäre ich offen nur den schrittweisen Zerfall halte ich für keine sehr gute Idee.

Nanna hat geschrieben:Du schreibst ja selber, dass du es als ärgerlich empfindest, dass keine Theorie alles erklären kann. Das empfinde ich als Wissenschaftler zwar auch unbefriedigend, aber ich habe akzeptiert, dass es kein einzelnes Brennglas gibt, durch das man die Welt erkennen kann, sondern dass jede wissenschaftliche Theorie ihre Klarsichtigkeit und auch ihre blinden Flecken hat. Ich sehe das eher so, dass gerade die Vielfalt an Theorien am Ende ein aussagekräftiges Gesamtbild ergeben kann, das mit Glück das leistet, was Popper mit seiner "Annäherung an die Wirklichkeit" versucht, vielleicht vergleichbar mit einer Collage, die bei entfernter Betrachtung ein größeres Bild enthüllt (ohne dass daran etwas Magisches wäre). Mehr, nicht weniger Pluralismus ist die Antwort, mit gewissen Mindeststandards verbunden natürlich (weder kann ein Nazi sich im politischen Bereich noch ein Esoteriker im wissenschaftlichen Bereich auf Pluralismus berufen).


Im Grunde ist das auch der Ansatz von Wilber, ich kritisiere daran lediglich, dass es keine Theorie ist, praktisch ist es super von allen 4 Quadranten aus auf ein Phänomen zu blicken.

Nanna hat geschrieben:Nimm mir bitte nicht übel, dass ich da einfach einen kalten rationalistischen Blick drauf behalte und es weiterhin als unwahrscheinlich ansehe, dass es da draußen "mehr" gibt. Das ist mir zu schwärmerisch.


Das ist schon okay, ich habe da keinen starken Missionierungsdrang.

Nanna hat geschrieben:Zuletzt noch: Warum immer dieses Paketdenken? Natürlich ist das, was vor 3000 Jahren gedacht wurde, noch relevant. Über die Goldene Regel reden wir ja heute noch. Muss ich es mir als Naturalist aber deshalb laufend gefallen lassen, dass mir damit weitere Sachen untergejubelt werden sollen, so wie mir dauernd irgendwelche Programme bei der Installation irgendwelche Toolbars auschwatzen wollen?


Musst Du doch gar nicht. Wir gehen ja auch nicht mehr in die Wüste und schlachten einen Widder.
Ich bin was das angeht Wilberianer. Heißt übersetzt, jede Stufe der Entwicklung (die auszuformulieren ich uns jetzt erspare) hat ihre guten Seiten gehabt – und zwar jede! – und ist irgendwann dissoziiert, zu weit gegangen, gekippt, pathologisch geworden.
Darum bin ich gegen Fundamentalkritik gegenüber allem was Mythos oder Religion ist, weil wir Elemente derselben sehr gut gebrauchen können, eben den Zusammenhalt, die gemeinsame Idee, ein Wertesystem etabliert zu haben. Die Schattenseiten sind hier überbekannt, Ausgrenzung, Intoleranz, Ausklammern bestimmter Fragen und so weiter.
Dasselbe gilt für die wissenschaftlich-rationale Weltsicht, mit ihrer entsprechenden Stärken und Schwächen.
Wichtig ist aber, gemäß dieser Idee, dass die Stufen auf einander aufbauen und dann erst die nächste Stufe emergiert.
Die Idee zu sagen, nehmen wir doch gleich die beste Stufe und verzichten auf alles davor, ist irgendwo sogar verständlich m.E. aber falsch. Die gesellschaftlichen Großversuche hat es gegeben, es wurde versucht Kindern mehr oder weniger ohne Umwege den Pluralismus beizubringen, m.E. ist das komplett gescheitert.
Man kann allerdings auch diese Stufentheorien generell ablehnen, auch das wird gemacht, ich finde die Gründe bisher nicht plausibel.
Wir werden unseren Überlebenstrieb noch aus ganz archaischen Zeiten haben und dennoch verlangt niemand, dass wir in jedem Baum einen Ahnengeist sehen.
Und es war wohl schon ausdrücklich die mythisch-religiöse Ära, die bestimmten Wertvorstellungen mitgebracht hat.

Nanna hat geschrieben: Wer unbedingt sein Gerechtigkeitsempfinden alttestamentarisch begründen will, kann das von mir aus gerne machen, ich bin sogar bereit, mit demjenigen darüber zu reden, nur würde ich beispielsweise nicht wollen, dass Gerechtigkeit dann unauflöslich alttestamentarisch abgeleitet und interpretiert würde, ich also entweder AT und Gerechtigkeit zusammen kriege oder gar nichts. Umgekehrt habe ich auch Verständnis, dass ein katholischer Wissenschaftler nicht will, dass man ihm sagt, er könne Wissenschaft nur im Paket mit Atheismus bekommen.


Ja, da sind wir doch einer Meinung.
Ich habe noch die Zeit erlebt, wo die Frage nach der religiösen Zugehörigkeit nie eine Rolle spielte und ich habe das als sehr komfortabel empfunden. Ich wurde kaum je gefragt, welcher Konfession ich angehöre, noch musste ich mich irgendwo rechtfertigen, ob ich in eine Kirche gehe oder nicht, es war einfach Privatsache im besten Sinn. Und ich habe mich als Atheist auch nicht unethischer verhalten als andere.
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Re: Können gute Wissenschaftler religiös sein?

Beitragvon mat-in » Mo 4. Jun 2012, 22:04

Vollbreit hat geschrieben:... sie können auch exaktere Prognosen machen. Das können Biologen durchaus auch, nur eben nicht mit der Evolutionstheorie. Dort ist die Aussage eher, was passiert, passiert und nachher erklären wir vielleicht, warum es passiert ist.
Die Frage wohin sich das Leben am Donnerstag in 250000 Jahren entwickelt hat läßt sich ungefähr so präzise voraussagen wie der Wetterbericht für diesen Tag. Das bedeutet aber nicht, daß man keine Vorhersagen treffen kann die dann eintreffen! In überschaubaren Systemen ist das alles nicht nur kein Problem, man nutzt es sogar ganz gezielt für die Arbeit! Ohne könnt ich das Labor dicht machen...
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