mat-in hat geschrieben:Aber wenn es mal nicht so läuft wie man selbst es versteht ist die Standardausrede "Der andere hat es eben nicht richtig gelesen, der wahre Geist hinter diesen Versen ist...". Und das bekommt man durchaus von beiden seiten zu hören, sowohl vom Bombenleger als auch vom Bischof, über die jeweils andere Seite.
Das ist das Problem (oder auch nicht, man muss es nicht als Problem sehen) aller interpretativen Ansätze: Texte, Psyche, Alltag, Geschichte, Kunst.
Dahinter könnte z.B. die Forderung nach mehr Exaktheit stehen. Bei Beamtentexten sieht man zuweilen wohin das führt.
Selbst klarste Regeln müssen interpretiert werden, denn eine Regeln wendet sich nicht selbst an. Die Regel zur Regel, die die Anwendung präzisiert, hat dasselbe Problem und so kommt man geradewegs in einen Regress. (Die Regel der Regel der Regel...). Von der praktischen Unmöglichkeit abgesehen, würde dies auch zu einer Verarmung der Sprache führen. Gerade die Abweichungen bieten uns aber die Chancen, zu neuen Perspektiven.
Man muss das nicht übertreiben, will man nicht verbale Schaumschlägerei betreiben oder „die Welt verlieren“, bei den Ausführungen, oder „eleganten Unsinn“ verzapfen.
Doch eine verarmte Technokratensprache, in der alles präzise definiert ist und jeder alles gleich zu verstehen hätte, wäre der sprachliche Tod.
Präzision ist für formale Systeme wichtig, ansonsten ist es alles andere als ein dummes Spiel Begriffe von allen Seiten zu beleuchten.
mat-in hat geschrieben:Diese Heiligen schriften und die darum etablierten Kulte taugen in keinster Art und Weise als Ethischer Kompaß. Im Gegenteil, man kann für alles was man irgend wie durchsetzen will auch eine Begründung finden. Das macht sie sogar zum Gegenteil, zu einem Brandbeschleuniger für Krisenherde und Machtinstrument für die Kriegsführenden.
Doch, sie taugt.
Du musst einfach präzisieren, was genau Du kritisieren willst. Um irgendwie alles begründen zu können, brauchst Du eine Gefolgschaft, die diesen Begründungen glaubt, ihnen folgt und so weiter. Nun ist die Frage, ob man das kritisiert (und in welcher Weise) oder nicht.
Die ersten Stufen der moralischen Entwicklung sind primitiv und Dawkins hat sie (neben anderen) schön dargestellt. Lohn und Strafe, einfache Konditionierung, primitive wechselseitige Kooperation zum eigenen größeren Nutzen, all das deckt der reziproke Altruismus ab.
Doch bereits bei dem sich Ausrichten an Idealen scheitert er. (Schon beim moralisch simpel gestrickten Selbstmordattentäter versagen die biologistischen Erklärungsmodelle.) Das alles ist sehr genau und immer wieder beschrieben worden. In meinen eignen Worten:
Bereits in sehr jungen Jahre, so viertes, fünftes Lebensjahr, wechselt die Identifikation von einer die am letztendlichen Nutzen für mich selbst ausgerichtet ist, hin zu einer Orientierung und Identifikation mit der Gruppe, in die man eingebunden ist. Zunächst tut das Kind noch so „als ob“, das heißt, es hält sich an Regeln, wenn es weiß, dass es beobachtet wird, bricht die Regeln aber, wenn es sich unbeobachtet wähnt oder es das erhält, was es sich verspricht.
Das geht über in eine Phase in der das Kind ein echtes Interesse am Wohlergehen der Struktur, in die es sich nun eingebunden sieht (es war auch vorher schon eingebunden, erkannte das nur nicht), hat, also erst mal der Familie.
Es beginnt sogar unaufgefordert und mit einer gewissen Begeisterung, die Familie zu unterstützen, versucht, um den Eltern ein Freude zu machen, heimlich, von sich aus, ganz früh den Frühstückstisch zu decken oder so etwas. Nicht immer gelingt das, aber der gute Wille ist da, das Kind möchte ein gutes Kind sein. Es möchte natürlich auch gelobt und anerkannt werden, aber diese virtuelle Anerkennung ist in der Hierarchie des Kindes nun bedeutsamer als das größere Stück Schokokuchen zu kriegen, mindesten ringen diese beiden Komponenten der sozialen Anerkennung mit einanders. (Und es gewinnt in beeindruckender Weise und überraschend häufig, die soziale Seite. Alles das was man Neurose nennt, ist die Unterdrückung der Natur, triebhafter Regungen, zugunsten der Kultur, sozialer Normierungen.)
Lassen wir die Frage ob es Gott gibt hier mal weg, aber wenn man diese Sichtweise beibehält, kann man ganz gut sehen, dass Gott eine gute Vaterfigur abgibt (es ist kein Zufall, dass man, seit man mit Gott handeln kann, eher männliche Götter kennt, die tendenzielle weiblichen Naturgottheiten hatten eine eher ruppige Komponente, fruchtbar, nährend, bergend aber auch furchtbar, verschlingend, zerstörend). Religion nutzt einfach dieses in der Familie angelegte Muster und stabilisiert es.
Es gibt durchaus die Einstellung, dass dieses Muster, diese Stufe des Gehorsams um der Funktion Willen, in Gänze schlecht ist, den Menschen auf die falsche Fährte führt und man es besser abschaffen sollte. Aber alle historischen Versuche sind ziemlich kläglich gescheitert und es spricht viel dafür und wenig dagegen, dass das Durchlaufen einzelner Entwicklungsstufen eine entwicklungspsychologische Notwendigkeit darstellt.
Was man m.E. zurecht fordern kann, ist, diese konformistischen Stufe nicht zu zementieren, genau dieser Vorwurf ist den meisten Religionen – und leider auch vielen ihrer Kritiker zu machen, dass sie Moral mit blindem Konformismus und Gehorsam gleichsetzen und dann alle Moral und Ethik abschaffen wollen, wo es lediglich darum ginge das zu ausgeprägte Konformitätsdenken zu hinterfragen, wenn man gleichzeitig erkennt, dass genau das, gegenüber präkonventionellen Stufen der Moral, das sind die, die Dawkins beschreibt, bereits einen Fortschritt darstellt – zu machen.