stine hat geschrieben:Sie trifft zu, weil sie die Wurzel ist.
Achso... dann ist das heliozentrische Weltbild analog natürlich der modernen Astronomie überlegen, weil es ja die Wurzel ist. stine, bitte...
stine hat geschrieben:Woher oder woraus kreiert denn der Atheist die Menschenwürde?
Wie gesagt, Habermas und Bielefeldt (letzterer übrigens ein Theologe und UN-Sonderberichterstatter für die Religionsfreiheit, also jemand, der der Religionsfeindlichkeit nun ganz und gar unverdächtig ist) haben bei miteinander verwandte Ansätze entwickelt, die im wesentlichen auf der Prämisse beruhen, dass wir miteinander nicht normativ kommunizieren können (also über moralische/ethische Fragen gar nicht reden können), wenn wir uns nicht gegenseitig als Personen bzw. Menschen mit Würde (und damit verbunden: als Gleichwertige) anerkennen. Sorry, wenn das ein bisschen komplizierter ist als "Gott hat mich lieb, drum hab ich Würde" ist, aber die moderne Astrophysik ist halt auch nicht mehr ganz so einfach zu kapieren wie das heliozentrische Weltbild, ist aber trotzdem präziser.
Es
gibt naturalismus-kompatible Herleitungen der Menschenwürde, die sogar deutlich universaler sind, als die religiösen, weil sie nämlich den Religiösen nicht den Mund verbieten, wohingegen transzendentale Begründungen der Menschenwürde genau auf jenen Ausschluss der Naturalisten abzielen. Vielleicht ja nicht mal absichtlich, weil man als Religiöser vielleicht regelmäßig vergisst, dass die Nicht-Religiösen ja gar nicht dieselben Prämissen teilen. Wenn man so tief in denen verstrickt ist, ist wahrscheinlich echt schwierig, mal Begründungen der anderen Seite nachzuvollziehen, ohne dass ein fieses Stimmchen im Hinterkopf kreischt "Aber wo ist denn hier Gott, hier ist ja so kalt und schutzlos!? Bitte hör damit auf!".
stine hat geschrieben:Wir müssen uns bis zu einer geeigneten Gegendarstellung damit abfinden, dass alles, was bisher zum Thema erreicht wurde, religiös geprägt ist. Die Menschenrechte sind das Eine, der Mensch als beseeltes Wesen ist das andere. Da müssen die Atheisten dem Menschen schon öffentlich die Seele absprechen und das wird hart.
Niemand muss göttlich "beseelt" sein, um Würde zu erhalten. Die Behauptung, dass das bislang erreichte, religiös geprägt sei, ist eine Verleugnung der philosophischen Entwicklung der letzten paar hundert Jahre und insbesondere aller Entwicklungen seit der französischen Revolution. Gerade weil wir seit 200 Jahren immer mehr über das Heil im Diesseits als über das Heil im Jenseits gesprochen und nachgedacht haben, ist ja überhaupt erst zu den massiven Verbesserungen für den Menschenschutz im Diesseits gekommen. Davor hat man alle Heilsfragen ins Leben nach dem Tod abgeschoben und sich bei diesseitigen Unrechtsfragen häufig mehr damit beschäftigt, was ein Verbrechen für die "göttliche Ordnung" bedeutete als mit dem Schaden für das Opfer.
Die ganzen ethischen Innovationen seit der Aufklärung gehen, vielleicht mit Ausnahme der katholischen Soziallehre, auf philosophische und diesseitig-politische Weiterentwicklungen zurück und NICHT auf religiöse. Man hat bei der Formulierung der Menschenrechte 1948 mit Absicht auf irgendeinen transzendentalen Bezug verzichtet, weil nämlich eine transzendentale Begründung der Menschenrechte (auch der Menschenwürde)
weniger unviversal ist als eine immanente wie eben beispielsweise die diskursethische von Habermas, weil die transzendentale als Begründung nicht jedem Menschen offen steht, die immanente aber schon. D.h. die bösen nicht-religiösen Philosophen haben es besser als die Theologen hingekriegt, Andersdenkende in die Begründung der Würde einzuschließen!
Das ist für religiöse Menschen, für die die Existenz Gottes eine so unhintergehbare Annahme ist, dass sie da nicht mal fünf Minunten für das Nachvollziehen eines formalen Arguments herauskommen, wahrscheinlich schwer verständlich, ich weiß, aber da muss man halt trotzdem mal unter seiner Gottesglocke rauskommen und den Perspektivwechsel hinkriegen und nicht immer anderen Leuten das eigene Dogma als Vorbedingung für jegliche Diskussion aufzwängen.
stine hat geschrieben:Die Frage: was kommt, wenn Gott geht, halte ich durchaus immer noch für berechtigt.
Ja, aber du kannst nicht aus Wunschdenken heraus behaupten, dass es Gott geben müsse, weil es dir damit emotional besser geht. Das ist übrigens, ganz nebenbei, auch eine ziemliche Respektlosigkeit gegenüber Gott (um da jetzt mal in die religiöse Perspektive zu wechseln), ihn als Schachfigur auf dem Brett deiner emotionalen Bedürfnisse zu benutzen, ihn also argumentativ zu instrumentalisieren. Gottes Existenz anzunehmen geht Fragen wie der Menschenwürde voraus. Man kann nicht induktiv von dem Bedürfnis nach Menschenwürde darauf schließen, dass es die Menschenwürde gibt (also in einer Art Essenz) und dann weiter schließen, dass daraus folgen würde, dass es Gott geben müsse. Da hat man ja schon, bevor man das erste Drittel durch hat, einen ganzen Stoß an formallogischen Regeln wie auch Geboten intellektueller (und auch theologischer) Redlichkeit ignoriert.
Was kommt, wenn Gott geht? Sicherlich kommt Gott dann nicht zurück.
Vollbreit hat geschrieben:Aber davon ab, kenne ich von Joas die Aussage, das Christentum dürfe sich nicht mit fremden Federn schmücken, nicht die Absicht (im Bezug auf Menschenrechte) zähle, sondern deren Umsetzung in die Realität, die Joas als ein Vermächtnis der frz. Revoluiton ansieht, die er als klare Grenze definiert.
Mal davon abgesehen, dass ich hier anderer Ansicht bin und finde, dass Absicht und Begründungsstruktur sehr wohl zählen, habe ich ja kein Problem damit, dass das Christentum die Menschenwürde auch schützen möchte. Was mich aber wütend macht, ist, wenn jemand ankommt und für das Christentum reklamiert, es hätte die Menschenrechte und -würde erfunden (was historisch einfach nicht richtig ist, meine Tirade gegen Geschichtsklitterung s.o.) und dann noch obendrauf behauptet man könne das ausschließlich religiös begründen.
Ich bin da stark von Bielefeldt beeinflusst, weil ich bei dem studiert habe, und habe es immer extrem angenehm gefunden, dass er als Theologe und (sozusagen höchster) Religionsfreiheitsverteidiger immer offen eingestanden hat, dass transzendentale Begründungen für die Menschenwürde nicht universal funktionieren, sondern im Grunde ein religiöser Partikularismus ist, der über die religiöse Community hinaus keinerlei Geltungsansprüche formulieren kann, wohingegen die auf der Kantischen Tradition aufbauenden diskursethischen Ansätze da gezielt inklusiv in beide Richtungen offen sind, also sowohl Religiöse (verschiedener Religionen!) wie auch Nicht-Religiöse hineinnehmen und darauf muss der Menschenwürdegedanke ja schließlich auch abzielen, sonst ist er für'n... du weißt schon.