Myron hat geschrieben:Shine hat geschrieben:Ich bin also auf der Suche nach Wahrheit, nicht nach blindem Glauben!
Da bin ich dabei!
Ich auch. Aber ich tippe, dass wir nicht dasselbe unter "Wahrheit" verstehen.
M.E. ist Wahrheit die Übereinstimmung von Beobachtung und Erwartung.
Zunächst ist Wahrheit eine Eigenschaft von Sätzen, z.B. "Wasser kocht bei 100°C". Was diesen Satz wahr macht, ist die Beobachtung, dass Wasser erwartungsgemäß bei 100°C kocht. Dass es die Erwartung ist und nicht der Satz selbst, der mit der Beobachtung übereinstimmen soll, ist m.E. eine wichtige Einschränkung. Denn welche Erwartung ich mit diesem Satz verbinde ist eine Frage meiner Interpretation - was meine ich mit "Wasser", "Kochen", "Hundert" usw. Man kann einen Satz auf unendlich verschiedene Weise interpretieren, was ihn unendlich oft falsch macht. Vielleicht gibt es eine Sprache, in der "Kochen" "Gefrieren" bedeutet usw. Deswegen glaube ich, dass die Wahrheit nicht eine Eigenschaft des Satztes ist, sondern eine Eigenschaft seiner Interpretation, oder genauer gesagt, eine Eigenschaft der Erwartung, die er hervorruft.
Ein anderes Beispiel: "Die Diagonalen eines Rechteckes schneiden sich im Mittelpunkt des Rechteckes" Man könnte nun darüber komplizierte Reden halten, dass es einen "Punkt" eigentlich nicht gibt, ebensowenig eine "Rechteck", und dass es deshalb in der Wirklichkeit keine Beobachtung geben kann, die diese Aussage wahr macht. Mein Wahrheitsverständnis, dass sich auf die Erwartung bezieht, befreit mich aber von diesem Problem. Denn es stellt diesen Satz in einen konkreten Kontext und gibt ihm dadurch eine Interpretation. Z.B. möchte ich die Mitte eines Blattes Papier herausbekommen, um es in zwei gleichgroße Teile zu zerschneiden. Um hinterher zu prüfen, ob der Satz stimmt, lege ich beide Teile übereinander und schaue, ob eine Hälfte übersteht. Wenn keine Kante übersteht, sage ich "es stimmt". Meine Erwartung war, dass die Hälften nach Augenmaß gleich groß sind, und diese Erwartung wurde erfüllt. Meine Erwartung beinhaltete außerdem, dass ein Blatt Papier ein Rechteck ist und dass die Stelle, an der sich die Linien meines spitzen Bleistiftes scheiden, ein Punkt ist. Die "Definition" dieser Begriffe ergibt sich aus der Erwartung, die ich mit ihnen verbinde.
Dass der Wortlaut eines Satzes unendlich vielfältig interpretiert werden kann, ist nicht ein Problem der Wahrheitsfindung, sondern ein Problem der Kommunikation: Wie schaffen wir es, einen Satz gleich zu interpretieren?
Außerdem bin ich der Meinung, dass sich der Begriff "Wahrheit" irgendwie auf eine organisches und letztlich sogar physikalisches Verhalten runterbrechen lassen muss.
Was meint ihr?