Gernot Back hat geschrieben: Aber zurück zu Twilights Ursprungsfrage: Menschliche Gesellschaften sind doch schon längst mehr als die Summe ihrer Einzelteile, so wie einzellige Lebewesen ja auch irgendwann mit anderen Einzellern zuerst in Symbiose zusammenlebten, sich später sogar als Zellorganellen gegenseitig einverleibten, sich mit anderen Einzellern zu mehrzelligen Lebensformen zusammenschlossen, in denen sich wiederum spezialisierte Organe ausbildeten. All diese Einzelteile sind wir als Menschen auch weiterhin, aber die Evolution bleibt hier ja nicht stehen und -wie gesagt-, zusammen sind wir mehr als nur die Summe von uns allen allein.
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Die Möglichkeit, dass vom Menschen selbst einmal eine nicht auf organischer Materie basierende Lebensform geschaffen werden könnte, die fähig ist, sich letztlich vollkommen unabhängig selbst zu reproduzieren und weiterzuentwickeln hat durchaus etwas Irritierendes, da das dann "Intelligent Design" wäre.
Diese Möglichkeit halte ich nicht nur für nicht auszuschließen, ich glaube sogar, dass die Evolution zwangsläufig darauf hinauslaufen wird. Ich bin mir aber sicher, dass selbst in solchen Wesen dann etwas Menschliches und damit auch etwas Tierisches "ticken" wird, so wie in unserem limbischen System gewissermaßen auch das Saurierhirn weiterlebt.
Das ist ein schwieriges und natürlich auch spekulatives Thema. Nun weise ich hier häufiger auf das Evolutionsbuch von Mersch hin, und besagter Mersch behauptet, dass es längst schon evolutionsfähige Systeme gibt, die keine Tiere sind, und die man in der Hierarchie praktisch über dem Menschen stehend ansehen könnte, nämlich unsere Unternehmen, oder allgemeiner in der Begrifflichkeit Luhmanns ausgedrückt, die „sozialen Systeme“.
Mersch behauptet ferner, dass es nicht „die Evolution“ gibt, sondern dass sich diese quasi replizieren kann, d.h. fortwährend neue Evolutionsräume entstehen lassen kann, in denen dann eigenständige Evolutionen ablaufen. Dazu zählt er explizit alle Populationen, die sich gemäß sexueller Selektion paaren. In solchen unterliegen speziell die Männchen einem eigenständigen Selektionsdruck, nämlich der Ressource Weibchen gefallen zu müssen. Man beachte: In einem abstrakten Sinne ist hier der Lebensraum nicht mehr die Natur, sondern nur noch die Population. Die Ergebnisse sind überall auf der Erde zu beobachten: Diese speziellen Evolutionsräume bringen Lebewesen hervor, die überhaupt nicht mehr optimal an die Natur angepasst sind (allerdings wird ihre vermeintliche Fitness über die hoffentlich fitnessorientierten Selektionskriterien der Weibchen mit dem Geschmack der Weibchen synchronisiert).
Unternehmen evolvieren gemäß Mersch gleichfalls in eigenständigen Lebensräumen, nämlich den Märkten. Hier preisen sie ihre Produkte an (wie es das Vogelmännchen mit seinem Gesang tut), um an die Ressourcen (in diesem Fall das Geld der Kunden) zu gelangen, die sie zum eigenen Erhalt und zur Reproduktion (insbesondere Forschung & Entwicklung, sonstige Erneuerung) benötigen. Das bringt gemäß Mersch die Evolution der Technik hervor. Für ihn evolvieren also nicht Mobiltelefone, sondern Mobiltelefonhersteller als evolutionsfähige Systeme.
Ein Unterschied zu normalen Lebewesen ist allerdings bemerkenswert: Unternehmen (soziale Systeme) setzen sich insbesondere aus Menschen zusammen. Diese Menschen holen sie sich von außen herein. Im Sinne von Humberto Maturana sind sie folglich nicht (!) autopoietisch. Das wären sie vielleicht, wenn z. B. VW auch noch eigene Mitarbeiterinnen zur fortlaufenden Nachwuchsproduktion beschäftigen würde. Aber genau das tun soziale Systeme eben nicht. Hier erkennt man auch den Unterschied der Verwendung des Begriffs Autopoiesis bei Maturana und Luhmann. Für Luhmann sind soziale Systeme autopoietisch, für Maturana und Mersch sind sie es dagegen nicht.
Man könnte also – in einer fast schon beängstigenden Vorstellung – durchaus zu dem Schluss kommen, dass der Natur gerade ein neuer Komplexitätssprung gelungen ist, wie damals beim Übergang von Ein- zu Vielzellern, nur dass wir Menschen jetzt die Basis für die nächste Systemebene sind, und nicht mehr die Zellen. Möglicherweise fangen diese Superorganismen nun an, sich den für sich optimal geeigneten Menschen zusammenzubasteln (Gentechnologie, Klonierung, Brutkästen , ...), der dann jederzeit schön einpassbar ist. Es sind ja heute keineswegs Menschen, die an solchen Themen arbeiten, sondern soziale Systeme (Superorganismen) ...