Der Fokus sollte zuallererst mal darauf liegen, sich im direkten Umfeld anständig zu verhalten. Respekt gegenüber Mitmenschen zeigen, Familie, Freunde und Kollegen anständig behandeln, keine Extremisten wählen, keine Produkte kaufen, von denen man weiß, dass Blut dran klebt, nicht aus purer Bequemlichkeit Umweltschäden provozieren. Wie eben Gott zu Moses in
"Gesetzgeber" von Ralf König sagt: "Entspannt euch! Haltet Frieden! Übt euch in Respekt! Habt Humor! Lacht! Tanzt! Liebt! Trennt euren Müll!"
Die meisten Leute sind gefordert genug, das überhaupt hinzukriegen. Und ist es nicht auch manchmal eine Flucht vor dem mühsamen Alltagsanstand, einfach am Ende des Monat 20 € an worldvision abzudrücken? In der Psychologie mehren sich seit Jahren die Hinweise darauf, dass Menschen dazu neigen, bei ihrem Verhalten Gleichgewichtszustände anzustreben und innere Ablasshandel zu betreiben. Wer Bioprodukte kauft, meint manchmal, dafür an der Kasse herumpöbeln zu dürfen. Wer einen Apfel gegessen hat, meint, danach eine Portion Pommes verdient zu haben. Wer der Oma über die Straße geholfen hat, meint, dafür dann 20 min. später rücksichtslos überholen zu dürfen. Natürlich sind dem Einzelnen diese Zusammenhänge nicht bewusst und selbst wer sie kennt, ist nicht zwangsläufig in der Lage, sie zu durchbrechen.
Die Welt ist zu komplex und unübersichtlich für einen einzelnen Menschen, um wirklich umsichtig zu handeln. Versuch mal einen Tag zu konstruieren, an dem du zu 100% umsichtig, rücksichtsvoll und ethisch belastbar gehandelt hast, nur als Gedankenexperiment. Mit allem, was dazugehört: Arbeiten, soziales Leben, Konsum, Zeitdruck, partielles Wissen; normale Anforderungen halt, ein Waldspaziergang zählt nicht. Ich verwette das Forum, dass niemand es schafft, auch nur eine Stunde eines solchen Tages zu konstruieren, die sich so leben ließe, dass ideales ethisches Verhalten auf die dynamische Wirklichkeit trifft und trotzdem 100%ig möglich ist.
Was heißt das jetzt? Dass ganimed mit seinen dystopischen Ideen recht hat? Vielleicht. Eigentlich aber nur dann, wenn man ideales ethisches Verhalten als Maßstab aller Dinge begreift. Und da kommt mir eine Frage:
Was ist eigentlich deine Erwartung, ganimed? Wie sieht die ideale Welt aus, die du als (unbewussten?) Kontrast der realen Welt gegenüberstellst? Hast du sie überhaupt irgendwie schonmal definiert, oder machst du einfach intuitive, implizite Annahmen und überprüfst gar nicht, ob deine Vision überhaupt a) theoretisch konsistent ist und b) in der physischen Welt - zumindest unter idealen Anfangsbedingungen - umsetzbar wäre?
Ich für meinen Teil mag es, wenn Systeme, auch soziale, funktionieren, d.h. mit wenig Aufwand einen gewünschten Effekt herbeiführen, selbst wenn dafür hier und da Kompromisse und work-arounds nötig sind. Das Ziel in meinem Fall wäre, dass wir in einer Welt leben, in der so gut wie alle Menschen ausreichend Chancen haben, mit ihrem Leben einigermaßen zufrieden sein zu können, in dem Macht so verteilt ist, dass die Gefahr von Machtmissbrauch minimiert wird, aber die Handlungsfähigkeit von Verwaltern sozialer Systeme (Staaten, Kommunen, Unternehmen, Familien, etc.) noch ausreichend gegeben ist.
Warum? Simpel: Weil ich mich dabei besser fühle, weil meine genetische Veranlagung für soziale Fairness, die ich mit fast allen Menschen teile, meine Erziehung, meine prägende Kultur und meine Lebenserfahrung mich darauf schließen lassen, dass ich in so einer Welt am ehesten leben kann und möchte, dass verschiedene Aspekte menschlicher Existenz in diesem Universum so in etwa am besten austariert werden (Die Maslowsche Bedürfnispyramide ist hier wohl mal wieder das zentrale Stichwort). Ich entscheide mich also aus sehr funktionialistischen Gründen für bestimmte ethische Werte, die recht stark mit dem korrelieren, was als univerale Menschenrechte bekannt wurde (und im Grunde philosophisch auch recht dünn legitimiert sind, ihr Erfolg hängt einfach damit zusammen, dass er zu unseren Vorstellungen von Fairness passt; s.a. weiterführend John Rawls "A Theory of Justice").
Ich bin mir aber auch klar, dass es in einer dynamischen, komplexen Umwelt immer nur Streben geben kann und permanente Anpassungen nötig sind, um einen Zustand zu halten, der eher das Prädikat " ethisch ausreichend" verdient als "ethisch perfekt".
Die Implementierung ethischer Standards in die Wirklichkeit verlangt eben Gelassenheit, Kompromisse und vor allem Geduld. Wir sind heute sicher ethisch besser dran als die Menschen vor 1000 Jahren (man beachte allein die Innovationen in der Gesetzgebung, in der Machtverteilung, die höheren ökonomischen und medizinischen Standards, die hohe Allgemeinbildung usw.). Entscheidend ist, dass wir stetig etwas tun. Missstände, die über Jahrhunderte so gewachsen sind, werden mit aktionistischen Haurucktaten à la "Ich verkaufe mein Haus, spende das Geld und lebe im Wald" nicht gelöst, stattdessen fehlt dann die ökonomische Triebfeder für weiteren Fortschritt. Der afrikanische Wirtschaftsboom der letzten Jahre ist z.B. viel mehr der gestiegenen Mobilität (Verbreitung von Autos) und Telekommunikation (flächendeckender Mobilfunk) zu verdanken, als den reihenweise fehlgeschlagenen Entwicklungsprojekten. Billige Mobiltelefone hätte es aber in Afrika nie gegeben, wenn nicht so mancher im Westen statt zu spenden lieber den letzten Schrei von Nokia gekauft hätte.
Es ist halt alles nicht so einfach und eindeutig, deshalb sollte man sich mit rigorosen Aussagen etwas zurückhalten und lieber auf eine gesunde Verteilung seiner Ressourcen achten. Fairtrade und Bio kaufen, ein bisschen spenden, seinen Job anständig machen und seine Mitmenschen gut behandeln, das ist auf lange Sicht für das moralische Niveau der Gesellschaft vielleicht deutlich produktiver, als du es hier darstellst, ganimed. Mit biblischem Eifer lässt sich natürlich jeder "gesunde Kompromiss" delegitimieren, aber komm, das ist doch nun wirklich was für die Fanatiker, die ihren Wahrnehmungsausschnitt für die gesamte Realität halten.
Und irgendwo ist es übrigens meiner Meinung nach auch in Ordnung, wenn man sein Nervenkostüm in Ordnung hält anstatt sich in purer Selbstverachtung den ganzen Tag Videos von sterbenden Menschen in Somalia reinzuziehen. Das hat auch was von katholischer Selbstkasteiung, darüber ist unsere Kultur doch eigentlich glücklicherweise so langsam weg.