Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 15:24

smalonius hat geschrieben:
El Schwalmo hat geschrieben:ich bin mir nicht sicher, ob die Sache so einfach ist. Wenn ich es richtig sehe, argumentiert Myron als Philosoph im üblichen Sinn. Das, was hier 'Definition' ist, basiert auch auf der Verwendung von Begriffen in der Umgangssprache.

Schon so einfach.

"Umgangssprache" ist das Schlüsselwort hier. Je nachdem, wie man Wissen verstehen will, hat entweder Myron recht und Darwin Upheaval liegt falsch, oder umgekehrt. Ihr Streit hat nur semantische Bedeutung, aber keine faktische.


Das sehe ich anders, es geht nicht zuletzt auch um logische Stringenz. Und Myrons Definition hat, wie dargelegt, ein paar Probleme...

Die herkömmliche (bzw. Myrons) Definition für "Wissen" lautet "true justified belief". Hier haben wir zum einen ein Problem mit dem "Popperschen Vermutungswissen", denn das ist zwar empirisch gerechtfertigt, aber wir kennen seinen Wahrheitswert nicht. Wissenschaftliches Wissen ist also kein "true justified belief", und damit nach der herkömmlichen Definition kein Wissen. Andererseits würde paradoxerweise dem religiösen Glauben der Status "Wissen" schon eher gerecht werden, weil die Religion für sich beansprucht, "Glaubenswahrheiten" (true justified belief) zu finden. Dieses ist zwar empirisch völlig unbegründet, aber der Theologe kann durchaus sagen, dass es religiöses Wissen gibt, das einerseits wahr und andererseits höherwertig sei, als empirisches Wissen. Ein empirischer Nachweis ist zwar ein guter Grund für "true justified belief", aber er ist nicht unbedingt notwendig.

Ein weiteres Problem der herkömmlichen Wissens-Definition ist die Bedingung der Faktizität: Wissen über x könne nur wahr sein, wenn x existiert. Da wir aber offensichtlich auch Wissen über immaterielle Objekte und mathematische Fakten anhäufen (z. B. ist es wahr, dass 2 x 2 = 4 ergibt, Parabeln Kegelschnitte sind und Donald Duck eine Ente ist), dann gäbe es ein Reich platonischer Ideen, was aber mit dem Materialismus nicht harmoniert. Folglich muss man entweder den Materialismus kippen ... oder eben den traditionellen Wissensbegriff...

:^^:
Zuletzt geändert von darwin upheaval am Mo 14. Jun 2010, 15:39, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 14. Jun 2010, 15:37

darwin upheaval hat geschrieben:Folglich muss man entweder den Materialismus kippen ... oder eben den traditionellen Wissensbegriff...

mit einem kleinen Zusatz: Wie begründest Du, welchen Begriff Du kippst? Doch hoffentlich nicht mit dem Glauben an den Materialismus?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 15:41

Unnötiges Vollzitat entfernt. 1v6,5M

Myron ist Materialist, die Menschen, die Myron zitiert hat, überwiegend auch. Zudem ist der Materialismus evident, es wäre also ganz und gar unsinnig, den Materialismus wegen einer formalen Schwäche der Wissens-Definition zu kippen.

Muss ich noch mehr sagen?
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 14. Jun 2010, 15:56

Unnötiges Vollzitat (des Vollzitat-Beitrags) entfernt. 1v6,5M
wenn das, was Du geschrieben hast, Dich überzeugt, nicht.

Für mich sieht es ein wenig nach 'ich kann hoch springen, das ist evident, lass uns einfach die Latte niedriger legen, genauer, brauchen wir überhaupt eine Latte?'.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 19:35

erneutes unnötiges Vollzitat des Vorbeitrags entfernt. 1v6,5M
wenn das, was Du geschrieben hast, Dich überzeugt, nicht.

Für mich sieht es ein wenig nach 'ich kann hoch springen, das ist evident, lass uns einfach die Latte niedriger legen, genauer, brauchen wir überhaupt eine Latte?'.[/quote]

Was Du schreibst, ergibt keinen Sinn. Außerdem kommst Du vom Hundertsten ins Tausendste.

Ich habe die Probleme der herkömmlichen Wissens-Definition dargelegt. Es liegt an Myron, ob er die Konsequenzen daraus ziehen möchte. Falls er sich vom Materialismus distanzieren würde, um seine Wissens-Definition zu retten, hätte das noch gravierendere Konsequenzen. Ich glaube nicht, dass er sie zu ziehen bereit wäre. Schon gar nicht als jemand, der im Ggs. zu Dir verstanden zu haben scheint, was den ontologischen Materialismus von "brauchen wir überhaupt eine Latte?" unterscheidet.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon El Schwalmo » Mo 14. Jun 2010, 20:04

@Darwin Upheaval
(die Moderation scheint keine Zitate zu mögen, keine Ahnung, warum sie es dem Leser unnötig schwer macht)

Ich sehe nicht, dass Materialismus mit der Wissens-Definition ein Problem haben sollte, Du hast das ja selber begründet (Myron ist Materialist, und die Autoren, auf die er sich bezieht, Deiner Meinung nach auch). Es sei denn, Du überzeugst sie.

Myron hat sehr ausführlich sehr viel zu Mahner geschrieben. Darauf bist Du noch nicht eingegangen. Wenn Du das gemacht hast, warte ich, was Myron sagt und poste dann gegebenenfalls etwas dazu.

Enggeführt auf Naturwissenschaften habe ich Myron gegenüber längelang mehrfach das vertreten, was Du gerade darstellst (und habe im Thread explizit darauf verwiesen). Aus dem Grund schrieb ich auch, dass Myron die Thematik von der Warte eines Philosophen aus betrachtet. Myron ist zwar nach Deiner Definition wohl kein 'akademischer Philosoph', aber er hat länger Philosophie studiert als wir Beide zusammen. Das ist eine andere Welt als unsere.

Die Definition von 'Wissen', die Du als obsolet betrachtest, macht in anderen Bereichen durchaus Sinn. Mir ist nie klar geworden, warum Du nicht erkannt hast, dass Dir Cleland mehr Argumente gegen Junker gegeben hätte, wenn Du ihr zugestimmt hättest, als gegen ihren Ansatz einzuwenden, was gar nicht passt. Mir war auch nicht klar, wie Junker dazu kommt, zu meinen, durch sie etwas erben zu können. Ich habe kein Problem zu sagen, dass ich beispielsweise in historischen Zusammenhängen wissen kann (sogar als Solipsist würden mir dann noch Argumente einfallen). Ich sehe kein Problem, zu sagen, dass ich weiß, dass Adenauer der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 20:36

darwin upheaval hat geschrieben:Die herkömmliche (bzw. Myrons) Definition für "Wissen" lautet "true justified belief". Hier haben wir zum einen ein Problem mit dem "Popperschen Vermutungswissen", denn das ist zwar empirisch gerechtfertigt, aber wir kennen seinen Wahrheitswert nicht. Wissenschaftliches Wissen ist also kein "true justified belief", und damit nach der herkömmlichen Definition kein Wissen.


Die Phrase "falsches Wissen" ist und bleibt sowohl aus infallibilistischer als auch aus fallibilistischer(!) Sicht ein Widerspruch in sich.
Aber natürlich stellt sich die Situation aus der praktischen Forschungsperspektive anders dar als aus der erkenntnistheoretischen "Vogelperspektive":

[Habe ich ausschnittweise bereits hier zitiert.]

[We need] "to distinguish between two significantly different kinds of question. The first asks whether a particular belief, given the justification supporting it, is true (and thereby fallible knowledge). The other question asks whether, given that belief’s being true, there is enough supporting justification in order for it to be (fallible) knowledge. The former question is raised from “within” a particular inquiry into the truth of a particular belief. The latter question arises from “outside” that inquiry into that belief’s being true (even if this question is arising within another inquiry, perhaps an epistemological one). There is no epistemologically standard way of designating the relevant difference between those kinds of question. Perhaps the following is a helpful way to clarify that difference.

(1) The not-necessarily-epistemological question as to whether a belief is true. Imagine trying to ascertain whether some actual or potential belief or claim is true. You ask yourself, say, “Do I know whether I passed that exam?” Suppose that you have good — fallibly good — evidence in favor of your having passed the exam. (You studied well. You concentrated hard. You felt confident. Your earlier marks in similar exams have been good.) And now suppose that you recall the Justified-True-Belief Analysis. You apply it to your case. What does it tell you? It tells you just that if your actual or possible belief (namely, the belief that you passed the exam) is true, then — given your having fallibly good evidence supporting the belief — the belief is or would be knowledge, albeit fallible knowledge. But does this reasoning tell you whether the belief is knowledge? It does not. All that you have been given is this conditional result: If your belief is true, then (given the justification you have in support of it) the belief is also knowledge. You have no means other than your justification, though, of determining whether the belief is true; and because the justification is fallible, it gives you no guarantee of the belief’s being true (and thereby of being knowledge). Moreover, if fallibilism is true, then any justification which you might have, no matter how extensive or detailed it is, would not save you from that plight. Thus (given fallibilism), you are trapped in the situation of being able to reach, at best, the following conclusion: “Because my evidence provides fallible justification for my belief, the belief is fallible knowledge if it is true.” At which point, most probably, you will wonder, “Is it true? That’s what I still don’t know. (I have no other way of knowing it to be true.)” And so — right there and then — you are denying that your belief is knowledge, because you are denying that you know it to be true. The fallibility in your justification leaves you dissatisfied, as an inquirer into the truth of a particular belief, at the idea of allowing that it could be knowledge, even fallible knowledge. When still inquiring into the truth of a particular belief, it is natural for you to deny that (even if, as it happens, the belief is true) your having fallible justification is enough to make the belief knowledge.

(2) The epistemological question as to whether a belief is knowledge. But the epistemologist’s question (asked at the start of this section) as to whether there can be fallible knowledge is not asked from the sort of inquirer’s perspective described in (1). The epistemologist is not asking whether your particular belief is true (while noting the justification you have for the belief). That is the question you are restricted to asking, when you are proceeding as the inquirer in (1). The epistemological question is subtly different. It does not imagine a fallibly justified belief — before asking, without making any actual or hypothetical commitment as to the belief’s truth, whether the belief is knowledge. Rather, the epistemologist’s question considers the conceptual combination of the belief plus the justification for it plus the belief’s being true — which is to say, the whole package that, in this case, is deemed by the Justified-True-Belief Analysis to be knowledge — before proceeding to ask whether this entirety is an instance of knowledge. To put that observation more simply, this epistemological question asks whether a belief which is fallibly justified, and which is true, is (fallible) knowledge. This is the question of whether your belief is knowledge, given (even if only for argument’s sake) that it is true. In (1), your focus was different to that. In wondering whether you had passed the exam, you were asking whether the belief is true: you were still leaving open the issue of whether or not the belief is true. And, as you realized, your fallible justification was also leaving open that question. For it left open the possibility of the belief’s falsity.

Consequently, from (1), it is obvious why an inquirer might want infallibility in her justification for a belief’s truth. Infallibility would mean her not having to leave open the question of the belief’s truth. Without infallibility, the possibility is left open by her justification (which is her only indication of whether her belief is true) of her belief being false — and hence not knowledge. (This is so, even if we demand that, in order for an inquirer’s belief to be knowledge, she has to know that it is. That demand is called the KK-thesis (with its most influential analysis and defense coming from Hintikka 1962: ch. 5) — because one’s having a piece of knowledge is taken to require one’s Knowing that one has that Knowledge. Yet even satisfying that demand does not remove the rational doubt described in (1). If the extra knowledge — the knowledge of the initial belief’s being knowledge — is not required to be infallible itself, then scope for doubt will remain as to whether the initial belief really is knowledge.) But if we can either (i) know or (ii) suppose (for the sake of another kind of inquiry) that the belief is true, then we may switch our perspective, so as to be asking a different question. That is what the epistemologist is doing in (2), by adopting the latter, (ii), of these two options. She supposes, for the sake of argument, that the belief is true; then she can ask, “Would the belief’s being both true and fallibly justified suffice for it to be knowledge?” She can do this without knowing at all, let alone infallibly, whether the belief is true. (She will also not know infallibly, at least not via this questioning, whether the belief is knowledge. Yet what else is to be expected if fallibilism is true?)

It is also obvious, from (1), why an inquirer might want infallibility in her justification, insofar as she is wondering whether to say or claim that some actual or potential belief of hers is knowledge. Nonetheless, this does not entail her needing such justification if her belief is to be knowledge. Remember — from (2) in section 8 — that whether one has a specific piece of knowledge could be quite a different matter to whether one may properly claim to have it. Similarly, most epistemologists will advise us not to confuse what makes a belief knowledge with what rationally assures someone that her belief is knowledge. [my emph.] For example, it is possible — according to fallibilist epistemologists in general — for a person to have some fallible knowledge, even if she does not know infallibly which of her beliefs attain that status."


(http://www.iep.utm.edu/fallibil/#H9)

darwin upheaval hat geschrieben:Ein weiteres Problem der herkömmlichen Wissens-Definition ist die Bedingung der Faktizität: Wissen über x könne nur wahr sein, wenn x existiert.


Ja, da ich nur dann wissen kann, dass x ein Y ist, wenn x existiert:

AxAY(Yx <–> Ez(x = z & Yz))

"Für alle Dinge x und für alle Eigenschaften Y gilt: wenn x ein Y ist, dann gibt es ein z, das mit x identisch und ein Y ist."

darwin upheaval hat geschrieben:Da wir aber offensichtlich auch Wissen über immaterielle Objekte und mathematische Fakten anhäufen (z. B. ist es wahr, dass 2 x 2 = 4 ergibt, Parabeln Kegelschnitte sind und Donald Duck eine Ente ist), dann gäbe es ein Reich platonischer Ideen, was aber mit dem Materialismus nicht harmoniert. Folglich muss man entweder den Materialismus kippen ... oder eben den traditionellen Wissensbegriff...


…oder man behält sowohl den Materialismus als auch den traditionellen Wissensbegriff bei und bestreitet stattdessen, dass es mathematisches Wissen bzw. mathematische Tatsachen gibt:

"Fictionalism … is the view that (a) our mathematical sentences and theories do purport to be about abstract mathematical objects, as platonism suggests, but (b) there are no such things as abstract objects, and so (c) our mathematical theories are not true. Thus, the idea is that sentences like ‘3 is prime’ are false, or untrue, for the same reason that, say, ‘The tooth fairy is generous’ is false or untrue—because just as there is no such person as the tooth fairy, so too there is no such thing as the number 3. …
The main argument for fictionalism proceeds essentially by trying to eliminate all of the alternatives. The argument can be put like this:

1. Mathematical sentences like ‘4 is even’ should be read at face value; that is, they should be read as being of the form ‘Fa’ and, hence, as making straightforward claims about the nature of certain objects; e.g., ‘4 is even’ should be read as making a straightforward claim about the nature of the number 4. But

2. If sentences like ‘4 is even’ should be read at face value, and if moreover they are true, then there must actually exist objects of the kinds that they're about; for instance, if ‘4 is even’ makes a straightforward claim about the nature of the number 4, and if this sentence is literally true, then there must actually exist such a thing as the number 4. Therefore, from (1) and (2), it follows that

3. If sentences like ‘4 is even’ are true, then there are such things as mathematical objects. But

4. If there are such things as mathematical objects, then they are abstract objects, i.e., nonspatiotemporal objects; for instance, if there is such a thing as the number 4, then it is an abstract object, not a physical or mental object. But

5. There are no such things as abstract objects. Therefore, from (4) and (5) by modus tollens, it follows that

6. There are no such things as mathematical objects. And so, from (3) and (6) by modus tollens, it follows that

7. Sentences like ‘4 is even’ are not true (indeed, they're not true for the reason that fictionalists give, and so it follows that fictionalism is true)."


(http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... athematics)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 20:39

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Die herkömmliche (bzw. Myrons) Definition für "Wissen" lautet "true justified belief". Hier haben wir zum einen ein Problem mit dem "Popperschen Vermutungswissen", denn das ist zwar empirisch gerechtfertigt, aber wir kennen seinen Wahrheitswert nicht. Wissenschaftliches Wissen ist also kein "true justified belief", und damit nach der herkömmlichen Definition kein Wissen.


Die Phrase "falsches Wissen" ist und bleibt sowohl aus infallibilistischer als auch aus fallibilistischer(!) Sicht ein Widerspruch in sich.


Ein Widerspruch ist es nur aus der Perspektive Deiner Definition.

Aber wir haben das schon x Mal totgekaut. Wir werden uns nicht einig.


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Da wir aber offensichtlich auch Wissen über immaterielle Objekte und mathematische Fakten anhäufen (z. B. ist es wahr, dass 2 x 2 = 4 ergibt, Parabeln Kegelschnitte sind und Donald Duck eine Ente ist), dann gäbe es ein Reich platonischer Ideen, was aber mit dem Materialismus nicht harmoniert. Folglich muss man entweder den Materialismus kippen ... oder eben den traditionellen Wissensbegriff...


…oder man behält sowohl den Materialismus als auch den traditionellen Wissensbegriff bei und bestreitet stattdessen, dass es mathematisches Wissen bzw. mathematische Tatsachen gibt


Okay, das kannst Du ja mal einem Mathematiker erzählen. Vor allem, dass es kein Wissen anhäuft, sondern nur Hirngespinste (oder sagen wir besser: Glaubenssaussagen). Fragt sich nur, warum die eigentlich "funktionieren", wenn sie keine Wahrheiten repräsentieren.

Damit wären wir bei einem weiteren Problem angelangt, nämlich mit dem offensichtlichen "downgrading" mathematischen Wissens in den Bereich der Glaubensaussagen. Denn wenn Mathetiker kein Wissen haben, dann bleibt nur noch der Glaube im Sinne des Unsicheren und Unbestätigten! Die traditionelle Auffassung hält "Glauben" offenbar für berechtigt, solange nichts bestätigt wurde. Das ist die Grundlage für den religiösen Glaubensbegriff, der nach Bunges Definition die Grundlage entzogen ist, weil man eben das Unsichere, Unbekannte, Ungeprüfte und Unbestätigte nicht glauben (im Sinne von akzeptieren!) darf. Mathematische Aussagen sind aber objektiv gültig und unterscheiden sich dahin in irgendeiner Weise vom "Glauben". Wenn Mathematik also weder Glauben noch Wissen repräsentiert, was dann?
Zuletzt geändert von darwin upheaval am Mo 14. Jun 2010, 20:57, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 20:44

darwin upheaval hat geschrieben:Myron ist Materialist, die Menschen, die Myron zitiert hat, überwiegend auch.


Abgesehen von David Armstrong und David Lewis kann ich gar nicht mit Sicherheit sagen, welche der von mir zitierten Herren sich als Materialisten bezeichnen, was aber unwichtig ist, da auch die Antimaterialisten und Theisten mit dem klassischen, wahrheitsbeinhaltenden Wissensbegriff arbeiten.

darwin upheaval hat geschrieben:Muss ich noch mehr sagen?


Wie wär's mit: "Du hast recht, Myron!" ;-)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 21:03

Da hat sich was überschnitten, daher den Abschnitt nochmal:

Damit wären wir bei einem weiteren Problem angelangt, nämlich bei dem offensichtlichen "downgrading" mathematischen Wissens in den Bereich der Glaubensaussagen. Denn wenn Mathematiker kein Wissen haben, dann bleibt nur noch der Glaube im Sinne des Unsicheren und Unbestätigten! Die traditionelle Auffassung hält "Glauben" offenbar für berechtigt, solange nichts empirisch oder logisch bestätigt wurde. Das ist die Grundlage für den religiösen Glaubensbegriff, der nach Bunges Definition die Grundlage entzogen ist, weil man eben das Unsichere, Unbekannte, Ungeprüfte und Unbestätigte nicht glauben (im Sinne von akzeptieren!) darf. Nun geht es in der Mathematik aber um wahre und logisch bestätigte, formale Aussagen; sie unterscheiden sich daher in irgendeiner Weise vom "Glauben". Wenn Mathematik also keinen Glauben aber auch kein Wissen repräsentiert, was dann?

:mg:
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 21:08

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:Die Phrase "falsches Wissen" ist und bleibt sowohl aus infallibilistischer als auch aus fallibilistischer(!) Sicht ein Widerspruch in sich.

Ein Widerspruch ist es nur aus der Perspektive Deiner Definition.
Aber wir haben das schon x Mal totgekaut. Wir werden uns nicht einig.


Was ich schade und—pardon!—fast schon ignorant finde, ist, dass du einfach nicht zur Kenntnis nehmen willst, was nicht ich, sondern kompetente Fallibilisten und sogar Popperianer schreiben:

"Why 'conjectural knowledge'? Why not just 'conjectures'?'
The answer is plain: 'conjecturally know' means more than 'conjecture' or 'guess' or 'believe'. Conjectural knowledge requires truth: the fallibilist accepts that 'I know that P' entails 'P is true', accepts that 'false knowledge' is a contradiction in terms."


(Musgrave, Alan. Common Sense, Science and Scepticism: A Historical Introduction to the Theory of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. pp. 299-300)

darwin upheaval hat geschrieben:
Myron hat geschrieben:…oder man behält sowohl den Materialismus als auch den traditionellen Wissensbegriff bei und bestreitet stattdessen, dass es mathematisches Wissen bzw. mathematische Tatsachen gibt

Okay, das kannst Du ja mal einem Mathematiker erzählen. Vor allem, dass es ja kein Wissen anhäuft, sondern nur Hirngespinste. Fragt sich nur, warum die "funktionieren".


Die wenigsten Mathematiker beschäftigen sich näher mit der Philosophie der Mathematik und beziehen darin klar Stellung.

"The working mathematician is a Platonist on weekdays, a formalist on weekends. On weekdays, when doing mathematics, he's a Platonist, convinced that he's dealing with an objective reality whose properties he's trying to determine. On weekends, if challenged to give a philosophical account of this reality, it's easiest to pretend he doesn't believe in it. He plays formalist, and pretends mathematics is a meaningless game."

(Hersh, Reuben. What is Mathematics, Really? Oxford: Oxford University Press, 1997. pp. 39-40)

Und was die naturwissenschaftliche Bedeutung unwahrer mathematischer Theorien anbelangt, so haben die Fiktionalisten darauf durchaus Antworten anzubieten.
Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... #ObjFicRes

P.S.: Der mathematische Platonismus, d.i. der Glaube an geistunabhängige mathematische Abstrakta, die von uns nicht erschaffen, sondern entdeckt werden, ist mit dem Materialismus und dem Naturalismus zweifellos unvereinbar. Gerade ein evolutionistisch denkender Naturalist wie du muss ihn ablehnen.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 21:14

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Myron ist Materialist, die Menschen, die Myron zitiert hat, überwiegend auch.


Abgesehen von David Armstrong und David Lewis kann ich gar nicht mit Sicherheit sagen, welche der von mir zitierten Herren sich als Materialisten bezeichnen, was aber unwichtig ist, da auch die Antimaterialisten und Theisten mit dem klassischen, wahrheitsbeinhaltenden Wissensbegriff arbeiten.


Das können die Antimaterialisten tun, aber nicht wir, ohne inkonsistent zu werden.


Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Muss ich noch mehr sagen?


Wie wär's mit: "Du hast recht, Myron!" ;-)


Weil die Bedingung "true" und "justified" offensichtlich nicht erfüllt ist ;-)

Du musst der Mathematik zugestehen, dass ihre Aussagen "wahr" sind, falls nirgendwo ein Deduktionsfehler steckt, und Du musst ihr folglich zugestehen, dass sie (logisch) begründet sind. Und Du musst ihr, gemessen an Deiner Definition, zugestehen, dass sie "wahren" und "begründen Glauben" ( = Wissen) produziert. Dem steht aber die Bedingung der (ontologischen) Faktizität im Wege, so dass es sich streng genommen doch nicht um "true justified belief" handele, sondern um irgendeinen ordinären Glauben, der so beliebig ist wie die Astrologie und der Kreationismus. Schwer zu konstatieren, dass Du recht hast, denn da stimmt offensichtlich irgendetwas nicht.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 21:29

darwin upheaval hat geschrieben:Du musst der Mathematik zugestehen, dass ihre Aussagen "wahr" sind, falls nirgendwo ein Deduktionsfehler steckt, und Du musst ihr folglich zugestehen, dass sie (logisch) begründet sind. Und Du musst ihr, gemessen an Deiner Definition, zugestehen, dass sie "wahren" und "begründen Glauben" ( = Wissen) produziert.


Wenn eine mathematische Aussage wie "1 + 1 = 2" wahr ist, dann folgt daraus "Ex(1 + 1 = x)", d.h. dann gibt es eine Zahl, die mit der Summe 1+1 identisch ist.
Siehe: http://plato.stanford.edu/entries/plato ... eArgForExi

darwin upheaval hat geschrieben:Dem steht aber die Bedingung der (ontologischen) Faktizität im Wege, so dass es sich streng genommen doch nicht um "true justified belief" handele, sondern um irgendeinen ordinären Glauben, der so beliebig ist wie die Astrologie und der Kreationismus.


Auch eine rein formale mathematische Theorie, die keine abstrakte Realität repräsentiert, muss strengen deduktiv-logischen Anforderungen genügen, vor allem der Bedingung der Konsistenz.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 21:36

darwin upheaval hat geschrieben:Damit wären wir bei einem weiteren Problem angelangt, nämlich bei dem offensichtlichen "downgrading" mathematischen Wissens in den Bereich der Glaubensaussagen.


Nein, denn Glauben heißt Fürwahrhalten, und der Fiktionalist oder allgemein Nominalist in Bezug auf mathematische Abstrakta hält mathematische Aussagen ja gerade nicht für wahr. Der Fiktionalist glaubt nämlich, dass alle mathematischen Aussagen streng genommen falsch sind.

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn Mathematik also keinen Glauben aber auch kein Wissen repräsentiert, was dann?


Aus nominalistischer Sicht ist die Mathematik ein nützliches formales Werkzeug, ein theoretisch hilfreiches Zeichenspiel, das keine abstrakte Realität repräsentiert.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon darwin upheaval » Mo 14. Jun 2010, 21:49

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Damit wären wir bei einem weiteren Problem angelangt, nämlich bei dem offensichtlichen "downgrading" mathematischen Wissens in den Bereich der Glaubensaussagen.


Nein, denn Glauben heißt Fürwahrhalten, und der Fiktionalist oder allgemein Nominalist in Bezug auf mathematische Abstrakta hält mathematische Aussagen ja gerade nicht für wahr. Der Fiktionalist glaubt nämlich, dass alle mathematischen Aussagen streng genommen falsch sind.

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn Mathematik also keinen Glauben aber auch kein Wissen repräsentiert, was dann?


Aus nominalistischer Sicht ist die Mathematik ein nützliches formales Werkzeug, ein theoretisch hilfreiches Zeichenspiel, das keine abstrakte Realität repräsentiert.


"Abstrakte Realität" ist eine Oxymoron, denn nur nur das Konkrete ist real. "Real" ist aber nicht gleichbedeutend mit "wahr"; beides zu vermengen hieße, einen Kategorienfehler zu begehen: Real sind die Fakten x,y,z, - wahr sind Sätze über x,y,z. Gleichwohl können zweifelsohne auch Sätze über Fiktives (fiktiv Existentes) wahr sein. Und wenn der Fiktionalist allen ernstes behauptet, dass alle mathematischen Aussagen falsch seien und trotzdem ein nützliches formales Instrument bei der Rekonstruktion faktischen Wissens repräsentiere, das notwendigerweise wahr sei, dann weiß er ganz offensichtlich nicht, was er redet.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Mo 14. Jun 2010, 22:32

darwin upheaval hat geschrieben:"Abstrakte Realität" ist eine Oxymoron, denn nur nur das Konkrete ist real.


Das ist eine substanzielle metaphysische These und keineswegs eine rein definitorische Tatsache.

darwin upheaval hat geschrieben: "Real" ist aber nicht gleichbedeutend mit "wahr"; beides zu vermengen hieße, einen Kategorienfehler zu begehen: Real sind die Fakten x,y,z, - wahr sind Sätze über x,y,z.


Ich verwende "real" und "wahr" nicht als Synonyme. Wahrheit ist eine exklusive Eigenschaft von Sätzen, wobei sich durchaus die Frage nach der Realität abstrakter Satztypen stellt. Dabei muss man sogar noch zwischen abstrakten Satztypen, die von einer bestimmten Einzelsprache abhängig sind, und abstrakten "Sätzen an sich" (Bolzano), engl. propositions, unterscheiden, die von keiner bestimmten Einzelsprache abhängig sind. So sind z.B. <Snow is white> und <Schnee ist weiß> zwar Satztypen, die zu verschiedenen Sprachen gehören, aber sie drücken denselben Satz an sich aus.
(Natürlich muss man immer bestimmte konkrete Satzexemplare verwenden, um sich auf abstrakte Satztypen oder Sätze an sich beziehen zu können.)
Nun stellt sich für uns Naturalisten wieder die gute alte Frage nach der Realität solch abstrakter sentence types oder propositions. Diese Frage ist alles andere als unwichtig, denn sie gelten ja als die eigentlichen Wahrheitsträger.
Aber ein irrealer, inexistenter Gegenstand hat bekanntlich keine Eigenschaften, und damit auch nicht die Eigenschaft des Wahr- bzw- Falschseins.

darwin upheaval hat geschrieben:Gleichwohl können zweifelsohne auch Sätze über Fiktives (fiktiv Existentes) wahr sein.


Nein, denn wenn es zu einem Eigennamen "a" keinen bzw. keinen existenten Bezugsgegenstand gibt, dann sind alle Aussagen der Form "a ist F" falsch. Und, wie gesagt, fiktive Existenz ist eigentlich bloße Pseudoexistenz und damit streng genommen Nichtexistenz. Fiktive Objekte sind rein intentionale Objekte, die ich deswegen lieber als "Projekte" denn als "Objekte" bezeichne.

darwin upheaval hat geschrieben:Und wenn der Fiktionalist allen ernstes behauptet, dass alle mathematischen Aussagen falsch seien…


Fußnote: Rein logisch betrachtet, kann ein Fiktionalist allgemeine mathematische Aussagen wie "Alle natürlichen Zahlen sind Primzahlen" (<–> "Wenn etwas eine natürliche Zahl ist, dann ist es eine Primzahl") als "vacuously true" erachten, da dieser Bedingungssatz auch dann im logischen Sinne wahr ist, wenn es keine natürlichen Zahlen gibt.

darwin upheaval hat geschrieben:…und trotzdem ein nützliches formales Instrument bei der Rekonstruktion faktischen Wissens repräsentiere, das notwendigerweise wahr sei, dann weiß er ganz offensichtlich nicht, was er redet.


Doch, weiß er. Siehe z.B. Mark Balaguer's Gegenargument:
http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... iPutIndArg

Mary Leng, eine Vertreterin des mathematischen Fiktionalismus, schreibt betreffs der Anwendbarkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften:

"…I argued that a fictionalist account of the role of mathematical hypotheses was possible, which viewed those hypotheses as literally false but useful means of representing how things are taken to be with non-mathematical objects. In particular, if we take the axioms of our favourite version of set theory with urelements to be generative of a make-believe according to which non-mathematical objects can be the members of sets (and therefore can stand in various set-theoretical relations to further sets), we can provide an account of how participating in such a game of make-believe can provide us with a useful means of representing hypotheses concerning non-mathematical objects and their relations. By arguing that our ordinary scientific practices can be accounted for on the basis of this fictionalist view of the role of mathematical hypotheses in our empirical theories, my aim has been to establish that nothing in our reflective understanding of the role mathematically stated hypotheses play in our empirical theories requires us to take those hypotheses to be true rather than merely fictional."

(Leng, Mary. Mathematics and Reality. Oxford: Oxford University Press, 2010. p. 254)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 00:26

smalonius hat geschrieben:Übrigens: daß "Nichtorganismen wie computer" prinzipiell nichts wissen können, ist geradezu albern, nachdem Wissen vorher als "wahrnehmen, erkennen und behalten" definiert wurde.


Wissen als Geisteszustand kann nicht von geistlosen Dingen besessen werden.
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 00:40

darwin upheaval hat geschrieben:Ein weiteres Problem der herkömmlichen Wissens-Definition ist die Bedingung der Faktizität: Wissen über x könne nur wahr sein, wenn x existiert. Da wir aber offensichtlich auch Wissen über immaterielle Objekte und mathematische Fakten anhäufen (z. B. ist es wahr, dass 2 x 2 = 4 ergibt, Parabeln Kegelschnitte sind und Donald Duck eine Ente ist), dann gäbe es ein Reich platonischer Ideen, was aber mit dem Materialismus nicht harmoniert. Folglich muss man entweder den Materialismus kippen ... oder eben den traditionellen Wissensbegriff...


Wer behauptet, dass es wahre Sätze der Form Fa & ~E!a ("a ist F und a existiert nicht") gibt, der "kippt" den traditionellen Wahrheitsbegriff (und damit des Weiteren den traditionellen Wissensbegriff).
Dann muss man aber auch genau erklären, worin der Unterschied zwischen Wahrheit1 und Wahrheit2 beziehungsweise zwischen Wissen1 und Wissen2 besteht.
Siehe dazu den Abschnitt zum Neomeinongianismus (benannt nach Alexius Meinong):
http://plato.stanford.edu/entries/ficti ... Pre2NeoMei
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 01:07

darwin upheaval hat geschrieben:Die traditionelle Auffassung hält "Glauben" offenbar für berechtigt, solange nichts bestätigt wurde.


Die traditionelle oder, wie ich lieber sage, klassische Definition von "Wissen" legt nicht fest, unter welchen Bedingungen man etwas glauben darf oder soll, sondern sie bestimmt nur, unter welchen Bedingungen ein gegebener Glaube zu Wissen wird.

darwin upheaval hat geschrieben:Das ist die Grundlage für den religiösen Glaubensbegriff, der nach Bunges Definition die Grundlage entzogen ist, weil man eben das Unsichere, Unbekannte, Ungeprüfte und Unbestätigte nicht glauben (im Sinne von akzeptieren!) darf.


Zu dem interessanten Thema Glaubensethik ist gestern ein neuer Artikel in der SEP erschienen:

http://plato.stanford.edu/entries/ethics-belief

"The “ethics of belief” refers to a cluster of questions at the intersection of epistemology, philosophy of mind, psychology, and ethics.

The central question in the debate is whether there are norms of some sort governing our habits of belief-formation, belief-maintenance, and belief-relinquishment. Is it ever or always morally wrong (or epistemically irrational, or imprudent) to hold a belief on insufficient evidence? Is it ever or always morally right (or epistemically rational, or prudent) to believe on the basis of sufficient evidence, or to withhold belief in the perceived absence of it? Is it ever or always obligatory to seek out all available epistemic evidence for a belief? Are there some ways of obtaining evidence that are themselves immoral or imprudent?"


darwin upheaval hat geschrieben:Mathematische Aussagen sind aber objektiv gültig und unterscheiden sich dahin in irgendeiner Weise vom "Glauben".


Fragt sich nur, was deren objektive Gültigkeit gewährleistet, wenn es keine mathematikunabhängige mathematische Realität gibt. Logische Deduktionsregeln?
(Machst du einen Unterschied zwischen "gültig" und "wahr"? Wenn ja, welchen?)

darwin upheaval hat geschrieben:Wenn Mathematik also weder Glauben noch Wissen repräsentiert, was dann?


Auch der Fiktionalist/Nominalist muss nicht bestreiten, dass das mathematische Vokabular bei der Repräsentierung konkreter naturwissenschaftlicher Sachverhalte zweifelsohne höchst hilfreich ist. Denn dieser praktische Nutzen ist unabhängig davon, ob die reine Mathematik an sich eine abstrakte, hyperphysische Realität repräsentiert.
(Dass aus fiktionalistischer Sicht rein mathematische Aussagen falsch sind, bedeutet natürlich nicht, dass aus derselben Sicht physikalische Aussagen wie "Dieser Stein wiegt 20kg" falsch sind, nur weil darin Zahlzeichen vorkommen. "20kg" repräsentiert darin keine abstrakte, sondern eine konkrete Entität, nämlich das Gewicht jenes Steines.)
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Re: Naturalismus, Wissenschaft und Erkenntnistheorie

Beitragvon Myron » Di 15. Jun 2010, 01:32

Myron hat geschrieben:
darwin upheaval hat geschrieben:Das ist die Grundlage für den religiösen Glaubensbegriff, der nach Bunges Definition die Grundlage entzogen ist, weil man eben das Unsichere, Unbekannte, Ungeprüfte und Unbestätigte nicht glauben (im Sinne von akzeptieren!) darf.

Zu dem interessanten Thema Glaubensethik ist gestern ein neuer Artikel in der SEP erschienen:
http://plato.stanford.edu/entries/ethics-belief


Bunge richtet sich wohl gegen diejenige Sichtweise, die in dem Artikel (übersetzt) als "fideistischer Nonevidenzialismus" bezeichnet wird: http://plato.stanford.edu/entries/ethic ... #FidNonEvi
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