AgentProvocateur hat geschrieben:Der Begriff "das Ich" ist kein Bestandteil der Umgangssprache. Kannst Du ganz einfach testen: frage mal mehrere beliebige Menschen auf der Straße, was ihr "Ich" sei. Du wirst sicher großteils nur Unverständnis ernten. Frage die Leute jedoch, was sie sind, wie sich selber sehen, was sie als Teil von sich ansehen und was nicht: da wirst Du sicher viele Antworten erhalten.
Genau so geht die Psychologie ja vor.
Ich finde aber nicht, dass jemand mit der Benutzung des normalenTerminus „Ich“ überfordert ist, jeder benutzt das ständig und jeder weiß auch grob was damit gemeint ist.
„Das Ich“ meint ja nicht mich, sondern eine Verallgemeinerung, die den meisten geläufig sein wird, wie „der Mensch“, der ja auch nicht Dich oder mich meint, bei aller Unschärfe aber doch Pinguine ausschließt.
AgentProvocateur hat geschrieben:Der Begriff "das Ich" mag zwar - aber auch nur vielleicht (ich habe jedenfalls keine Verwendung dafür) - in bestimmten akademischen Kontexten als Fachbegriff dort eine Bedeutung haben und sinnvoll sein; im Zusammenhang mit der Frage, ob es einen freien Willen gibt, (insbesondere dann, wenn man diesen Begriff auf seine landläufige Bedeutung untersuchen will), ist er aber überhaupt nicht sinnvoll, stiftet nur unnötige Verwirrung.
Finde ich nicht. Wer will denn etwas, wenn nicht ich? Es ist ja gerade dieser absurde Mist im Fahrwasser des Neurosprech, der Menschen argumentieren lässt, ihr Hirn hätte entschieden, der Arm hätte zugegriffen, die Augen hätten es beobachtet aber sie selbst – ihr Ich – hätte nur zuschauen können.
AgentProvocateur hat geschrieben:Es gibt kein "das Ich" als eigenständige Entität, darüber müssen sich alle Naturalisten einig sein, wer was anderes meint, ist ein Substanz-Dualist. (Siehe übrigens dazu auch
diesen Kommentar aus dem von Lumen oben verlinkten Artikel.)
Für die Diskussion über den freien Willen wäre mE sehr viel gewonnen, wenn man das einsehen könnte. Man sollte den unseligen irreführenden Begriff "das Ich" hier streichen und stattdessen von "ich" reden.
Ja, so wird es aber doch auch gemacht.
Du führst doch an mehreren Stellen aus, was ein Strohmann Argument ist, dies ist ein klassisches.
Wie Du richtig sagst, im Alltag sagt man „Ich gehe jetzt joggen“ und alle wissen, was gemeint ist. Und auch in der Psychologie und der Philosophie wo mit „das Ich“ (und seinen Subsystemen) gearbeitet wird, ist niemand so blöd sich darunter ein Männchen im Hirn vorzustellen, weshalb die Verkündung man habe ein solches nicht gefunden, auch so fruchtlos ist.
Wie schon öfter erwähnt, entstammen alle Ideen des Homunkulus der Neuzeit den anatomischen Darstellungen der Neurobiologen, an denen sie sich dann selbst abarbeiten.
Ich habe den Begriff erst durch die aggressive Zurückweisung der Position des Homunkulus (denn das sei ja Dualismus und ginge nicht) überhaupt kennengelernt und zuvor nur im Rahmen der Neurobiologie (als diese noch nicht gehypet wurde) gesehen, wie hier:
Quelle:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File: ... nculus.png Wo ist Dir denn mal ein Homkulusrekurs begegnet, sagen wir in den Werken von Philosophen oder Psychologen zwischen 1900 und 1990?
Welcher Psychologe oder Philosoph der letzten 200 Jahre ist denn überhaupt noch klassischer Substanzdualist? Der Trend in der Philosophie geht doch längst dahin die Kants und Hegels in soozialperspektivische Lesart umzuschreiben, was Kants Generaleinwand, der von Sellars und Brandom aufgenommen wurde dennoch nicht überflüssig macht.
Die Einzelteile als solche sortieren sich nicht von selbst und selbst der Verweis auf evolutionär Entstandenes und Angeborenes verschleiert in der Lückenbüßerformulierung der 1000 kleinen Schritte der Evolution, dass hier natürlich eine stabile Instanz vererbt wird und es ist ein qualitativer Unterschied diese zu haben oder nicht zu haben.
Freud, der Nervenarzt, der ja mit inneren Instanzen arbeitete, war immer überzeugt, die Psychoanalyse sei eine Subdisziplin der Neurologie, die nur so lange Bestand haben würde, bis die Neurologie, die zu Freuds Zeit natürlich gering entwickelt war, offene Fragen vernünftig zu klären in der Lage sein würde (eine Einstellung die Habermas freilich als Freuds Selbstirrtum bezeichnet hat), aber da zeigt sich, dass Freud das Reich der Biologie nie verlassen hat und inbesondere die moderne Psychoanalyse ist bestrebt dieses biologische Erbe wieder aufzunehmen und tut das seit Jahrzehnten mit großen Erfolg.
Das man dort ständig mit Spaltung, Es, Ich, Über-Ich, Subpersönlichkeiten, Identitätsdiffussion und so weiter traktiert wird, hat (erkenntnis)theoretische Gründe, ist aber nie ontologisch gemeint und hier nach dem Homunkulus zu suchen, ist so sinnvoll wie bei „Raum der Gründe“ nach der Wandfarbe zu fragen.
AgentProvocateur hat geschrieben:Dann fallen alle Behauptungen derart: "in Wirklichkeit steuert Dein Gehirn, Deine Gene, Deine Neurone (whatever) Deine Entscheidungen und Dein Verhalten" einfach in sich zusammen. Ich bin mein Körper, mein Gehirn, meine Gene, meine Neuronen etc., all das ist Teil von mir, es ergibt daher schlicht von Vorneherein gar keinen Sinn, zu sagen, "Du bist nicht frei, weil Dein Gehirn Deine Gedanken hervorbringt, Du kannst nicht unabhängig von Deinem Gehirn entscheiden und Abhängigkeit bedeutet Unfreiheit".
Du machst hier aber nun auch fröhliche Schlenker von der Sprache des Straße in den akademischen Bereich und zurück.
Denn die „zwei Seelen, ach, in meiner Brust“ (und 1000 Variationen davon), wirst Du „auf der Straße“ problemlos finden, ob der Verweis nun in Richtung Geoethe oder Wolfgang Petry geht, ist da einerlei.
Denn ganz dumm ist die Idee, jemand oder etwas übernähme da (mitunter und zum Teil) das Regiment ja dann doch nicht. Die Psychoanalyse ist letztlich auf so zumutungsreichen Umwegen unterwegs, dass an der Theorie schon was dran sein sollte, will sie überhaupt jemanden heilen und die öffentlichen Diskreditierungsversuche stehen im scharfen Kontrast zu dem, was man analystisch (umd mit analysenahen Derivaten) heute therapeutisch erreicht, ich kann mich da nur vor dem Genie eines Otto Kernberg verneigen.
Aber auch die Idee der egoistischen Gene, der Sprache (Heidegger) und der sozialen Systeme (Luhmann) sind ja, als etwas was das Ich in Besitz nimmt, nicht so schlecht, dass sie nichts erklären, ihr Problem ist aus meiner Sicht nur, dass „das Ich“ im Allgemeinen und damit das jedes einzelnen, eben regelmäßig bis zum Epiphänomen degradiert wird und dann beginnt der theoretische Ärger und hört auch so schnell nicht mehr auf. (Aber ich habe das Gefühl, dass wir hier zwar von entgegengesetzten Ende kommen, aber im Ergebnis nicht weit von einander entfernt sind.)
Natürlich ist man immer alles, aber es ist ja durchaus eine Lebenserfahrung, dass man in bestimmten Situationen auf Halbautomatik schaltet, bei langen Autofahrten, Routinehandlungen und dergleichen, es manchmal gut und richtig ist, einfach nur zu „funktionieren“ und wenn man nach Hause kommt ist man als anderer Mensch gefragt und gefordert, d.h. man steigt immer wieder in neue und andere Rollen ein, ist aber in der Lage, diese auch (in Eigenregie) zu verlassen, geht nicht völlig in diesen Rollen auf.
Das unterscheidet psychologisch ein reifes Ich von einem unreifen (Regel-/Rolle)-Ich und m.E. liegt der Unterschied nicht in der Absolutheit – ein reifer Mann kann problemlos im Stadion zum „Triebtäter“ werden und vollkommen normal das Stadion wieder verlassen – sondern in der prinzipiellen Fähigkeit, sich aus Situationen herauszubefördern und in den Reflexionsmodus zu gehen, was Libet mal mit der meiner Ansicht nach treffenden Bezeichnung der Veto-Funktion des Ich bezeichnet hat.
AgentProvocateur hat geschrieben:Sinn ergäbe es zwar, zu sagen: "diese Entscheidung war weniger frei, weil Dir nicht bewusst war, was das für Auswirkungen hatte, Du zu wenig Wissen um die Umstände hattest". Aber um das sagen zu können, ist der Begriff "das Ich" völlig überflüssig. Ich wünschte, der Begriff "das Ich" würde nie wieder (zumindest nicht außerhalb eines passenden akademischen Kontextes, in dem klar wäre, was damit gemeint ist) verwendet werden.
Warum? Du bist doch da alles andere als unflexibel. Der Verwirrung kommen m.E. nicht durch die hineien, die aus „dem Ich“ und „der Welt“ eine erkenntistheoretische Zweiheit machen, sondern durch die, die das mit Ontologie verwechseln oder – denn das ist es, was m.E. in Wirklichkeit passiert ist – die, auf theoretisch furchtbarem Niveau, meinten den Arzt spielen zu müssen und mit der Beschreibung das sei ja Dualismus und das ginge gar nicht, aus einer starren Dualismusphobie (die Erkenntnistheorie und Ontologie gerade nicht trennt) einem in der Konsequenz geradezu grotesken Monismus dar Wort redeten, der dann alles erklären sollte und nichts erklären konnte.
AgentProvocateur hat geschrieben:Nun ist zwar die Verwendung des Personalpronomens "ich" kontextabhängig, nicht ohne Kontext eindeutig bestimmbar, aber dennoch für eine Diskussion über Willensfreiheit sehr viel geeigneter. Wenn ich sage: "ich habe einen freien Willen", dann meine ich damit mitnichten, dass ein ominöses "mein Ich" einen freien Willen habe.
Schon klar.
Aber darauf ist ja in der Psychologie reagiert worden, z.B. hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ich-EntwicklungUnd selbst klasssisch analytischen Ichkonzepte sind da sehr ähnlich, z.B. hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Stufenmode ... ntwicklungAgentProvocateur hat geschrieben:Ebenso meine ich nicht, wenn ich sage: "Herr Müller hat eine freie Entscheidung getroffen", dass Herr Müllers "Ich" eine freie Entscheidung getroffen habe. Das ergäbe auch keinen Sinn, sowenig wie es Sinn ergäbe, zu sagen, dass Herr Müllers "Ich" gestern nach Hamburg gefahren sei oder dass Herr Müllers "Ich" stottern würde oder dass Herr Müllers "Ich" freundlich und/oder geizig sei.
Ich kann nur immer wieder fragen, wer das Deiner Meinung nach denn meint?
Auch Forscher wie der Neurologe Thomas Fuchs machen ja auch den Umstand aufmerksam, dass die (bottom up) Einflussnahme auf das Hirn durch Medikamente ein anderer Weg ist, als die (top down) Einflussnahme durch Argumente, was m.E. fraglos richtig ist.
AgentProvocateur hat geschrieben:Wie gesagt: ich will nicht behaupten, dass der Begriff "das Ich" nicht irgendwo seine Berechtigung haben könne, (vielleicht im Bereich der Psychologie, von der ich keine Ahnung habe). Aber hier in diesem Kontext hat er keine Berechtigung und auch keinen Nutzen, ganz im Gegenteil sogar: er ist ein großer Hemmschuh für dieses Thema, vernebelt nur Standpunkte, die klar dargestellt werden sollten.
Ich finde es nicht so störend, aber mit der Darstellung „Ich will x“ ist auch m.E. alles gesagt und gerade Wittgenstein hat ja immer wieder (wenngleich nicht gerade leicht lesbar für meinen Geschmack) darauf hingewiesen, dass vieles reine Bedeutungsverdopplung ist und dass zwischen „Ich habe Schmerzen“ und „Ich bin mir bewusst, dass ich Schmerzen habe“ kein Unterschied ist. Wittgenstein wendet das tatsächlich auuch gegen Freuds Rede vom Unbewussten und sagt, so etwas wie unbewusste Wünschen oder Motive könne es logisch gar nicht geben.
Das ist irgendwie so billig richtig, wie letztlich unüberzeugend, weil hier ein logischer Schachzug (ein Wunsch/Motiv kann nicht unbewusst sein, sonst kann man ihm nicht folgen - stimmt) an einer Theorie vorbei argumentiert.
AgentProvocateur hat geschrieben:Ich bin mAn (mal ganz grob gesagt) mein Körper inkl. der darin ablaufenden Prozesse, daher erscheint es mir auch so absurd, annehmen zu sollen, Determinismus würde mich irgendwie machtlos machen, zu einem Zuschauer in dieser Welt degradieren.
Das sehe ich auch als absurd an, nur kommt das Absurde m.E. gerade von der anderen Seite ins Spiel, wie oben ausgeführt.
AgentProvocateur hat geschrieben:Falls jemand das anders sieht, sich selber lediglich als bestimmten von seinem Gehirn erzeugten bewussten Prozess ansieht, (z.B. das Hier-Und-Jetzt-Erleben), dann ist das nicht mehr absurd, sondern folgerichtig. Aber eben das müsste geklärt werden, die unscharfe Rede von einem ungebräuchlichen und somit unverständlichen "das Ich" verkleistert und vernebelt das nur.
Es reicht doch völlig sich einzugestehen – und das meine ich ohne jede Häme – dass die Neurobiologie und über das Ich und nahezu alle relevanten Fragen, die es betreffen nichts Neues zu erzählen vermag, davon abgesehen, dass bildgebende Verfahren in der Psychologie seit Jahrzehnten zum Standard gehören.
Ich bin erfreut über die neuen Impulse, das Wissen um die Neuroplastizität, den Nachweis, dass Therapie das Hirn umstrukturiert und dergleichen mehr, aber von einer Theorie des Ich (oder was „ich will“ heißen könnte) und so weiter ist man noch weit entfernt. Andere Theorien der Psychologie und Philosophie liegen ja vor.