ganimed hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:Was um alles in der Welt ist denn der Grund dafür, dass jemand zum Zeitpunkt S1 nicht anders kann?
Das ist doch nur eine Behauptung wie: Brillenträger essen gerne Hühnersuppe. Kann ja sein, aber warum?
Ich verstehe die Frage aus zwei Gründen nicht ganz. 1) Du hast doch zugestimmt, dass jemand zum Zeitpunkt S1 nicht anders kann. Oder irre ich mich da?
Was heißt nicht anders kann? Sein Denken, Wollen und Verhalten ist vollkommen determiniert, ja, so lauten die Bedingungen des Gedankenexperiments. Diese Bedingungen durchschaut aber nur Gott, sonst niemand.
Was durchschauen wir? Das, was wir an Fakten, Informationen usw. vorfinden. Anhang dessen sind wir in der Lage uns ein Urteil zu bilden – und aus Sicht eines Gottes steht auch schon fest, welches Urteil wir uns bilden werden, nur Gottes Sicht ist nicht unsere – indem wir rational das Für und Wider abwägen und wenn wir es auch vielleicht nicht immer tun, wir könnten es wenigstens tun.
Das ist Freiheit aus kompatibilistischer Sicht.
Warum sollte diese Eigenschaft verloren gehen? Nur weil Gott vorher weiß, wie wir uns entscheiden?
Wir wissen es nicht. Können aber dennoch rational entscheiden.
Ich glaube das Problem liegt darin, dass Du das Gefühl hast, man könne „in Wirklichkeit“ eben doch nicht anders, nur was ist hier die „Wirklichkeit“? Offensichtlich Gottes Sicht. Eine Sicht, die alles haarklein überschaut, vom Urknall an alles Determinanten durchrechnen kann und aufgrund der Berechnung zu dem Schluss kommt. Mit den Genen, der Einstellung, jener Erziehung, diesem momentanen Informationsstand wird er sich für Nudelsuppe und Weizenbier entscheiden.
Du wirst, wenn Du mich gut kennst auch gewisse Treffer landen, in der Prognose meines Verhaltens, aber Du weißt es nicht ganz genau. Und auch ich kenne weder mich in- und auswendig, noch weniger kann ich abschätzen, was die Zukunft bringt, also entscheide ich – wie wir alle – auf dem Boden der Infos die mir zur Zeit vorliegen, so wie meiner Neigungen, Absichten, Einschränkungen, usw.
Beides geht zusammen.
ganimed hat geschrieben:Und 2) ist die Frage trivial zu beantworten. Was immer der Grund dafür war, dass der Mensch in S1 die Handlung H1 vollzog, wenn wir zurückspulen und den Menschen erneut in die Situation S1 versetzen, wird er exakt die gleichen Gründe haben, exakt wieder H1 auszuführen.
Ja, der Meinung bin ich auch.
In der Situation hat er nicht anders gekonnt, aber auch dort hat er freiwillig und rational entschieden.
Man tut nicht grundlos was man tut, aber freiwillig.
ganimed hat geschrieben:Ich könnte also mein Argument umformulieren: Wenn ein Krimineller die Straftat H1 begeht, dann hat er Gründe dafür.
Genau.
ganimed hat geschrieben:Wenn man ihm die Schuld an dieser Straftat geben wollte, müsste man dafür sorgen, dass er auch anders gekonnt hätte.
Er hat ja bewusst entschieden, keine Ahnung, die Bank auszurauben.
Stell Dir mal vor, was das für eine minutiöse Planung sein könnte, wochenlange Beobachtung und Vorbereitung, warten auf den bestem Moment, der Plan mit Fluchtwagen etc. meinst Du das geschieht einfach so, wie Verdauung und so wie man das Gefühl hat, „oh, ich muss mal“ hat man auf einmal das Gefühl „oh ich habe da so einen starken Drang ganz plötzlich und unerklärlich eine Bank auszurauben“?
ganimed hat geschrieben:[Man hätte ihn dann entweder a) ein bisschen frei von den Gründen machen müssen, oder b) man hätte die Gründe ändern müssen.
a) bedeutet, ihm einen freien Willen im Sinne der Inkompatibilisten zu schenken, was nach der Auffassung des Inkompatibilisten in einer determinierten Welt nicht möglich ist.
Darum geht das wohl aus imkompatibilistischer Sicht nicht und alle Menschen müssen entweder vollkommen frei von Ursachen durch die Welt laufen (wie immer das gehen soll) oder ferngesteuert wie Zombies zwar Dinge tun, aber bar jedes Wissens darüber und erst recht jeder Verantwortung.
Da war ich doch heut mal wieder arbeiten, warum nur? Würde sich so eine Mensch fragen, wenn er reflektieren könnte, kann er aber auch nicht aus der Sicht harter Inkompatibilisten.
ganimed hat geschrieben:[b) bedeutet, mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit zu fahren und die Situation zu manipulieren. Geht aber, soweit ich weiß, physikalisch auch nicht.
Also, ohne (a) und (b) ist der Mann unschuldig. Oder?
Nein, ich bin ja der Meinung, dass der Mensch einen freien Willen hat.
Er ist geprägt, konditioniert, steht hier und da unter Druck, hat vielleicht Geldnot und spielt mit dem Gedanken eine Bank zu überfallen, aber dass das keine geplante, freiwillige, bewusste Entscheidung sein soll…
Oder auch die Steuerhinterziehung. Huch, hab ich da mal ganz zufällig schwarz gearbeitet und hoppla aus meiner selbstständigen Arbeit einige Rechnungen übersehen, sowas aber auch. Es mag determiniert sein, dass ich so entscheide, aber Wahl habe und hätte ich schon.
Die Sache ist ja die. Wenn Du glaubst, dass Argumente nutzen und das glaubst Du ja, warum nutzen, helfen, oder überzeugen die denn nur in der Zukunft?
Wenn Du davon überzeugt bist, dass Aufklärung oder so etwas demnächst Verhalten ändern kann, warum sollte die Möglichkeit dazu nicht gestern auch bestanden haben?
Vielleicht sieht man mal eine Sendung über Steuersünder oder diskutiert das Thema oder hört, dass die Strafen verschärft oder die Kontrollen ausgeweitet werden und plötzlich ändert man sein Verhalten. Du kannst sagen aus Einsicht oder Angst vor Strafe, aber man könnte es ändern.
Die Information, die mich heute dazu bringt, morgen mein Verhalten zu ändern, die hätte ich auch schon gestern haben können. Ich hatte sie nicht, aber ich bin nicht über Nacht erst rational gewoden, ich bewerte und gewichte nur anders, die Prämissen haben sich geändert.
Ich wusste vorher schon, dass man Steuern nicht hinterziehen darf, aber vielleicht dachte ich „Ph, macht doch eh jeder“ oder „Ach, der Staat der schröpft uns doch eh alle, also muss man sehen wo man bleibt“ oder „Naja, merkt schon keiner und so viel ist es ja auch nicht.“ Das sind andere Prämissen, aber ein rationaler Schluss, vielleicht augenzwinkernd, pokernd, vielleicht nicht bös gemeint, vielleicht voll krimineller Energie, aber rational.
Nun auf einmal denke ich vielleicht anders, weil ich ein Buch gelesen habe, weil mein bester Freund erwischt wurde, weil mein Gewissen drückt und schwupps ist alles auf der nächsten Steuererklärung drauf. Aber das eine ist nicht rationaler als das andere, beides sind Möglichkeiten und diese liegen immer bei mir.
Strafrelevant ist nicht, was Du weißt, sondern was Du wissen hättest können.
Wenn man Dir attestiert, Du hättest etwas prinzipiell nicht wissen können, aus Erkrankung, Drogeneinfluss oder sonst etwas, wäre es meiner Meinung nach unfair zu strafen und nicht zu begründen.
ganimed hat geschrieben:Vollbreit hat geschrieben:dann zieht so ein Argument, aber nicht, weil jetzt S2 ist und eben S1 war, sondern, weil Du denkst: Er hat fast den gleichen Geschmack wie ich, wenn ihm das gefällt, ist es hoch wahrscheinlich dass das kein völliger Reinfall ist. Noch kürzer: Du machst Deine Entscheidungen von rationalen Gründen abhängig.
Du scheinst meine S1 und S2 nicht zu mögen und dich nicht auf diese abstrakte Ebene einlassen zu wollen. Dabei sagst du genau dasselbe. Denn S1 ist hier die Situation, wo du keine rationalen Gründe hast, mir zu glauben. Und S2 ist die Situation, wo du genügend rationale Gründe hast, mir zu glauben. In S1 wirst du logischerweise deine Meinung nicht ändern und dich nicht von mir überzeugen lassen. In S2 wirst du es.
Ja, ich bin ganz Deiner Meinung.
Du handelst, wenn irgendwelche Gründe für Dich zu guten oder überzeugenden Gründen werden (oder geworden sind), freiwillig und rational.
Überzeugen sie Dich nicht, wirst Du Dich anders entscheiden.
Das ist die kompatibilistsche Einstellung.
ganimed hat geschrieben:[Wenn ich deine Situation also nicht ändere (zum Beispiel indem ich dir keine rationalen Gründe liefere), dann hast du natürlich keinen Grund, deine Meinung zu ändern.
Exakt.
ganimed hat geschrieben:[ Oder simpler ausgedrückt, solange du in S1 bist, wirst du immer die Meinung M1 haben. Und da du in S1 auch gar nicht anders konntest, als die Meinung M1 zu haben, warst du unschuldig.
Das ist ne andere Frage.
Es kann natürlich sein, dass jemand leichtfertig mit der Gesundheit anderer Menschen umgeht, warum auch immer, das Schicksal anderer interessierte ihn bisher nicht so sehr.
Auf einmal bringt man jemanden in den Rollstuhl, gar nicht mal sonderlich bösartig, sondern unachtsam. Nun sieht er das Opfer, die entsetzten Angehörigen, steht vor Gericht wegen fahrlässiger Körperverletzung, hat Bilder und Gedanken im Kopf, die er vorher nie im Kopf hatte und wird vielleicht denken: „Meine Güte, hätte ich das nur vorher gewusst. Hätte ich nur besser aufgepasst“, oder worum es auch immer geht. Er bereut ehrlich, aber … war das alles vorher nicht zu wissen? In gewisser Weise, ist dieser Mensch jetzt erst „aufgewacht“ bezogen auf diese Situation.
Aber natürlich wusste er vorher, was man richtigerweise hätte tun sollen, meistens denkt man nur: „Ich hab’s schon im Griff“, „Wird schon nichts passieren“, „Einmal ist keinmal“, „Ist bis jetzt noch immer gut gegangen“… die Prämissen waren andere. Rational war das Spiel auch vorher schon.